
Auf einen Blick: Studien zu Gleichstellung und Geschlechtergerechtigkeit
Wie ist es um die Chancengleichheit und Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Deutschland bestellt? Unser Forschungsüberblick bündelt aktuelle Analysen und Befunde.
[zuletzt aktualisiert am 07.03.2022]
Das Ziel der Gleichberechtigung von Männern und Frauen ist in Art. 3 (2) des deutschen Grundgesetzes verankert: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Während der Begriff der Gleichberechtigung die Ebene der Rechte umfasst, zielt der Begriff der Gleichstellung darauf ab, die Lebenssituation der im Prinzip gleichberechtigten Gruppen politisch umzusetzen.
Die Hans-Böckler-Stiftung forscht seit langem zum Thema Gleichstellung und Chancengleichheit von Mann und Frau und analysiert Geschlechtergerechtigkeit und Geschlechterungleichheit. Der WSI Gleichstellungsreport 2022 bildet den aktuellen Kenntnisstand detailliert ab. Das WSI GenderDatenPortal bietet darüber hinaus ein breites und regelmäßig aktualisiertes Angebot an Statistiken zum Thema Gender und Gleichstellung. Dieser Forschungsüberblick bündelt aktuelle Befunde Materialien.
Qualifikation und Gleichstellung
Im Bereich der schulischen und beruflichen Qualifikation und der Beteiligung an Weiterbildung haben Frauen in den vergangenen Jahrzehnten erheblich aufgeholt und erreichen mittlerweile sogar ein höheres Niveau als Männer. So hatten 2019 etwa 41 Prozent der Frauen, aber nur 39 Prozent der Männer im erwerbstätigen Alter Abitur oder Fachhochschulreife. Umgekehrt hatten Männer häufiger einen Hauptschulabschluss. Das zeigen die Ergebnisse des WSI-Reports zum Stand der Gleichstellung 2022 von Männern und Frauen in Deutschland.
Erwerbsbeteiligung von Frauen und Männern
Die Erwerbsbeteiligung von Frauen war laut WSI-Gleichstellungsreport 2022 im Jahr 2020 rund 7 Prozentpunkte niedriger als die der Männer. Anfang der 1990er Jahre war die Differenz indes noch fast dreimal so groß. Eine weitere WSI-Studie aus dem Jahr 2020 [MB1] zeigt außerdem, dass die Erwerbstätigenquote der Frauen in Westdeutschland deutlicher unter jener der Männer liegt als in Ostdeutschland. Auch in anderen Bereichen liegt der Westen gegenüber dem Osten in Sachen Gleichstellung zurück.
Finanzielle Ungleichheit von Frauen und Männern
Der Gender Pay Gap beschreibt den prozentualen Unterschied zwischen dem durchschnittlichen Bruttostundenverdienst abhängig beschäftigter Männer und Frauen. In den vergangenen Jahren ist die Entgeltungleichheit von Männern und Frauen zwar deutlich zurückgegangen. Im Jahr 2020 verdienten Frauen jedoch immer noch rund 18 Prozent weniger als Männer.
Ein genauerer Blick auf die Arbeitsverhältnisse zeigt außerdem, dass Frauen häufiger prekär beschäftigt sind als Männer. So bezogen 2020 17 Prozent der Frauen der Vollzeit beschäftigten Frauen ein Niedrigeinkommen von weniger als 2.000€ brutto. Bei den Männern waren es 9 Prozent. Auch die in vielerlei Hinsicht problematischen Minijobs werden häufiger von Frauen ausgeübt. (Mehr zum Thema Minijobs)
Schlechtere Löhne, eine niedrigere Erwerbsbeteiligung, ein geringeres Arbeitsvolumen und ein höherer Anteil an Beschäftigten im Niedriglohnbereich sorgen dafür, dass Frauen in deutlich größerem Maße Gefahr laufen, im Alter arm zu sein. Nimmt man gesetzliche Rente, betriebliche und private Alterssicherung zusammen, beziehen Frauen durchschnittlich ein um 49 Prozent niedrigeres Alterseinkommen als Männer (Gender Pension Gap).
Frauen in Führungspositionen
Laut der Statistik des WSI-Gleichstellungsreports 2022 sind Frauen in den Top-Positionen der Wirtschaft deutlich seltener vertreten als Männer. Nur elf Prozent aller Vorstandsposten der 160 größten deutschen börsennotierten Unternehmen mit Frauen besetzt. In Aufsichtsräten liegt der Anteil immerhin bei 32 Prozent. In mitbestimmten Unternehmen fällt er mit 35 Prozent höher aus als in Unternehmen ohne Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat. Etwas anders sieht es auf der zweiten Führungsebene aus. Dort ist der Frauenanteil mit 40 Prozent nur etwas niedriger als der Anteil an allen Beschäftigten (44 Prozent).
Um für mehr Gendergerechtigkeit in Führungsgremien zu sorgen, gibt es in vielen Ländern gesetzliche Geschlechterquoten. Insgesamt verfügen zehn von 31 europäischen Ländern diesbezüglich gesetzlich bindende Regeln. Laut einer Analyse des Instituts für Unternehmensmitbestimmung (I.MU.) war davon die gesetzliche Geschlechterquote in Deutschland im Jahr 2019 die schwächste. Auch wenn sich seitdem einiges geändert haben dürfte, ein Problem dabei bleibt: Das entsprechende Gesetz bezieht sich allein auf börsennotierte Unternehmen, die paritätisch mitbestimmt sind. In 10 der 14 europäischen Aktiengesellschaften (SE) im wichtigsten deutschen Börsenindex DAX gilt die verbindliche Geschlechterquote für Aufsichtsrat und Vorstand beispielsweise nicht. Die Rechtsform der SE läuft mit ihren Schlupflöchern zur Vermeidung von Mitbestimmung in ihrer derzeitigen Form also auch Bemühungen um mehr Gleichstellung in Führungspositionen zuwider.
Arbeitszeit und Sorgearbeit: Gender Time Gap Gender Care Gap
Im Jahr 2020 arbeiteten Frauen durchschnittlich 7,9 Stunden weniger als Männer. Seit 2005 hat sich der Gender Time Gap, der die Lücke der geleisteten Erwerbsstunden zwischen Männern und Frauen definiert, alljährlich verringert. Allerdings arbeiten aktuell nach wie vor fast jede zweite Frau (46 Prozent), aber nur 11 Prozent der Männer in Teilzeit.
Die großen Unterschiede in der Arbeitszeit lassen sich zu einem großen Teil dadurch erklären, dass Frauen weiterhin die Hauptlast der Kinderbetreuung tragen. Ohne Kinder arbeiten 63 Prozent der Frauen aus Zweiverdiener-Paarhaushalten in Vollzeit (93 Prozent der Männer). Sind Kinder im Spiel, ist dies nur bei 29 Prozent der Frauen der Fall (aber weiterhin 94 Prozent der Männer).
Gleichstellung und Corona
Eine anhaltende Diskussion dreht sich um die Frage, inwiefern die Corona-Pandemie zu Rückschritten in Sachen Gleichstellung geführt hat (Retraditionalisierung). Schließlich hatten Frauen die Hauptlast von Schul- und Kitaschließungen zu tragen. Befunde der Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung, in der Erwerbstätige und Arbeitssuchende während der Pandemie wiederholt befragt wurden, zeigen, dass eher Mütter im Job kürzertraten.
So reduzierten im Januar 2022 rund 19 Prozent der Mütter, aber nur 6 Prozent der Väter wegen Corona ihre Arbeitszeit. Auch Einzelmaßnahmen wie zusätzliche Kinderkrankentage konnten nicht verhindern, dass Frauen in der Pandemie auf dem Arbeitsmarkt weiter ins Hintertreffen geraten sind, wie eine WSI-Studie zeigt.[MB2]
Dass die politischen Maßnahmen zur Bekämpfung der Coronakrise die Unterschiede zwischen den Geschlechtern eher vergrößert haben könnten, zeigt auch eine vom WSI geförderte Studie der Berliner Forscherin Regina Frey, die mit dem Gender-Budgeting-Ansatz gearbeitet hat. Die Corona-Hilfspakete der Bundesregierung kamen Männern mehr zu Gute als Frauen.
Die Auswirkungen von Corona auf die Verteilung von Arbeitszeit und Sorgearbeit war auch schon mehrfach Thema im Podcast Systemrelevant (Folgen 47, 76, 82 (ab Min. 23) und 93).
Wie sich die Geschlechtergerechtigkeit im ersten Jahr der Corona-Pandemie entwickelt hat, thematisiert außerdem unser Erklärvideo auf YouTube.
Was kann die Politik für die Gleichstellung tun?
Um dem Fortschritt bei der Geschlechtergerechtigkeit mehr Schwung zu verleihen, schlagen Expert*innen vor, das Ehegattensplitting zu reformieren, die institutionelle Kinderbetreuung auszubauen, für mehr egalitäre Erwerbskonstellationen in Familien zu sorgen, beispielsweise durch die Förderung flexibler Arbeitszeitarrangements für Männer und Frauen oder mehr Partnermonate beim Elterngeld. Statt Präsenz- und Überstundenkultur brauche es mehr Arbeitsplätze in kurzer Vollzeit. Systemrelevante Berufe im Sozial-, Erziehungs- und Gesundheitswesen gelte es aufzuwerten, Stereotype bei der Berufswahl abzubauen. Die Reichweite verpflichtender Geschlechterquoten für Vorstände und Aufsichtsräte großer börsennotierter Unternehmen sollte ausgeweitet werden.
Welche Potenziale Digitalisierung und Homeoffice für mehr Gleichstellung haben und warum gute Regelungen in diesem Kontext wichtig sind, zeigt eine von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie. Eine wichtige Rolle spielt, wie eine weitere Studie zeigt, dabei und darüber hinaus die Mitbestimmung. Unternehmen mit Betriebsrat schneiden in Sachen Vereinbarkeit von Beruf und Familie besser ab als ohne.
Auf der vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) und Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht (HSI) veranstalteten Gleichstellungstagung 2021 wurden von Vertreter:innen aus Wissenschaft, Politik und Gewerkschaften Forderungen an eine Gleichstellungspolitik nach der Corona-Pandemie formuliert. Die Aufzeichnungen finden sich auf unserem YouTube-Kanal. Die wichtigsten Ergebnisse sind zudem in einem Tagungsbericht dokumentiert.
Weitere Studien und Materialien
- In einer steigenden Zahl von Haushalten erwirtschaften Frauen das Haupteinkommen. Es gibt jedoch keine Hinweise darauf, dass dies an veränderten Rollenbildern liegt. Zur Studie
- Im Podcast Systemrelevant sprechen Johanna Wenckebach und Bettina Kohlrausch über die ersten Frauen in Betriebsräten vor mehr als 100 Jahren – und ihre Nachwirkungen auf die Gegenwart.
- Anlässlich des Weltfrauentages 2020 hat das Magazin Mitbestimmung fünf Frauen unterschiedlicher Generationen aus verschiedenen Gewerkschaften porträtiert.
- Was bedeutet der anstehende Generationenwechsel in vielen Betriebsräten für die Geschlechterpolitik? Das thematisiert das Magazin Mitbestimmung
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