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Magazin Mitbestimmung

Rückblick: List der Geschichte

Ausgabe 06/2012

Als die Adenauer-Regierung ihren Entwurf für das Betriebsverfassungsgesetz vorlegte, war die Empörung auf der Arbeitnehmerseite groß. Doch aus der Niederlage der Gewerkschaften entwickelte sich in ein Erfolgsmodell einer demokratischeren Wirtschaft. Von Walther Müller-Jentsch

Die Betriebsverfassung fasziniert immer wieder aufs Neue. Ohne jeden Masterplan hat sie eine beeindruckende Rechtswirklichkeit erzeugt, die keiner voraussehen konnte. Vor allem die Gewerkschaften konnten nicht ahnen, welches betriebsdemokratische Potenzial sie entfalten sollte. Ohne Übertreibung: Das Betriebsverfassungsgesetz wurde, neben dem Montanmitbestimmungsgesetz, zu einem der nachhaltigsten Gesetze zur Institutionalisierung demokratischer Prozesse in den Betrieben und zu einem der folgenreichsten Gesetze für die deutschen industriellen Beziehungen. Man kann es als List der Geschichte bezeichnen, dass es heute zum sozialen Kernbestand des Rheinischen Kapitalismus in seiner deutschen Ausprägung gehört.

Denn in den frühen Jahren der Bundesrepublik, genauer 1951/52, bekämpften die Gewerkschaften mit Vehemenz das von der Adenauer-Regierung eingebrachte Betriebsverfassungsgesetz. Nicht dass der DGB die gesetzlich vorgesehenen Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats für die betrieblichen Belange abgelehnt hätte. Aber im Rahmen seiner Neuordnungskonzeption einer „neuen Wirtschaftsdemokratie“ (Agartz) war der DGB mehr an der Mitbestimmung in den Aufsichtsräten der Unternehmen interessiert – nach dem paritätischen Modell der Montanmitbestimmung – und wollte sich nicht mit einer Minderheitenposition wie der Drittelbeteiligung zufriedengeben.

Am 19. Juli verabschiedete der Bundestag das Gesetz, ungerührt der Proteste und ohne die Wünsche des DGB berücksichtigt zu haben. Die Niederlage wurde als so schmählich empfunden, dass der Erste Vorsitzende Christian Fette, Nachfolger Hans Böcklers, auf dem DGB-Kongress 1952 abgewählt wurde. Aber bereits wenige Jahre danach arrangierten sich die Gewerkschaften mit der Gesetzesrealität und versuchten, ihren Einfluss auf die Betriebsräte geltend zu machen und mit ihnen eine Allianz zu schmieden.

Neu war die Regelung über die Mitbestimmung in Aufsichtsräten. Ansonsten unterschied sich das Betriebsverfassungsgesetz nicht substanziell von dem Betriebsrätegesetz von 1920. Wie dieses enthielt es Rechte und Pflichten in einer ungewöhnlich zwiespältigen Kombination. Es scheint so, als habe der Gesetzgeber den Betriebsrat als einen Interessenvertreter zwischen Kapital und Arbeit mit „zwei Seelen in einer Brust“ geschaffen. Lautete doch die Leitidee des Gesetzes: Interessenvertretung des Faktors Arbeit im Betrieb unter Beachtung der wirtschaftlichen Betriebsziele. Dazu kam die Verpflichtung auf die „vertrauensvolle Zusammenarbeit“ mit dem Arbeitgeber.

Tatsächlich galt der Betriebsrat im Verständnis und in der Praxis der sozialen Konfliktparteien lange Zeit als eine höchst umstrittene Institution. Und es bedurfte eines langwierigen kollektiven Lernprozesses, bis die „Rechnung“ des Gesetzgebers in der Weise aufging, dass sich im historischen Verlauf in der Institution des Betriebsrats ein eigengesetzliches Handlungsprogramm herausbildete, das auf die pragmatische Vermittlung zwischen den Interessen von Arbeit und Kapital hinauslief. Eines der wichtigsten Ergebnisse dieses Lernprozesses war die strategische Nutzung von Positivsummenspielen, bei denen beide Seiten einen Vorteil erzielen. Die rechtliche Konstruktion des Gesetzes von 1920 war zu voraus­setzungsvoll, um in der Weimarer Republik ihr Potenzial entfalten zu können. Zu turbulent waren damals die politischen Zustände, zu unversöhnlich die Fronten zwischen Kapital und Arbeit. Erst nach 1945 wurde in der Bundesrepublik ein Terrain geschaffen, auf dem sich die zarte Pflanze einer Mitbestimmungskultur entwickeln konnte.

Beigetragen hat dazu vor allem auch die Montanmitbestimmung, die in dem für die westdeutsche Nachkriegswirtschaft so wichtigen industriellen Ballungsraum in ihrer stärksten Dosis durchgesetzt worden war. Dem sich daraus ergebenden Zwang zur Kooperation zwischen Kapital und Arbeit im Unternehmen konnten sich die Unternehmer nicht entziehen. Das machte das Ruhrgebiet quasi zu einem mitbestimmungspolitischen Laboratorium. Wobei die Position der Betriebsräte eine erhebliche Stärkung dadurch erfuhr, dass Betriebsratsvorsitzende in Personalunion Mitglieder des Aufsichtsrats wurden und Kooperationspartner der ebenfalls von Arbeitnehmerseite bestellten Arbeitsdirektoren.

ARBEITGEBER GEGEN MODERNISIERUNG

Einen weiteren Schub hin zur Aufwertung der Betriebsräte brachte die während der Reform­ära der Regierung Brandt erfolgte Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes von 1972, welche die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte stärkte und erweiterte. Hatten sich 1952 die Gewerkschaften gegen das Gesetz gewandt, dann waren es 1972 die Arbeitgeber, die gegen die vorgesehenen Gesetzesänderungen Sturm liefen. In einem Gutachten sprach der Bremer Rechtsprofessor Hans Galperin von einer „Vergewerkschaftung der Wirtschaft“, ja sogar von einer „Vergewaltigung des Unternehmers“. Dagegen erklärte der Namensgeber der Sozialen Marktwirtschaft, Alfred Müller-Armack, die Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes sei durchaus kompatibel mit diesem Konzept.

Wenn es in großen Teilen der deutschen Industrie ab den 1980er Jahren zu einem weitgehend positiven Umgang der Arbeitgeber mit den Betriebsräten und zur produktiven Kooperation kam, lag das an den vielfältigen „postfordistischen“ Modernisierungs- und Rationalisierungsprozessen in den Betrieben. Sie führten zu einer Neu- und Höherbewertung der sogenannten „Humanressourcen“, sprich Arbeitskräfte. Das hat die Betriebsräte ungemein gestärkt und ihnen die Bezeichnung „Co-Manager“ eingetragen. Spätestens in jenen Prozessen haben Betriebsräte und Unternehmensleitung ihr strategisches Handeln bewusst auf Win-win-Situationen eingestellt.

60 Jahren Betriebsverfassung: Wie konnte die Niederlage in eine Erfolgsstory gewendet werden, die auch im Ausland staunend und mit Interesse betrachtet wird? Meine Antwort: Ohne die gesetzlich bindende Vorgabe des Betriebsverfassungsgesetzes hätte eine solche zwiespältige Institution wie der Betriebsrat weder eine Geburts- und schon gar keine Überlebenschance gehabt. Man könnte durchaus sagen: Hier ist ein Rechtsverhältnis mit Blick auf die Zukunft entworfen worden. Und ohne lebendige, interaktive Lernprozesse der „Konfliktpartner“ wäre das rechtlich vorgegebene Programm des Betriebsverfassungsgesetzes nicht sinnvoll ausgefüllt worden. Hierbei war entscheidend ein „neues Managementdenken“ sowie die Ausnutzung von Positivsummenspielen. Aber auch ohne die Professionalisierung der Betriebsräte wären sie nicht zu jener „sozialen Elite“ geworden, als die IG Metaller Andreas Drinkuth sie bezeichnet.

Der Kontext für all diese Enwicklungen war günstig: Das „Ende der Arbeiterbewegung“ als systemverändernder Kraft und die „Erschöpfung der utopischen Ressourcen“ (Jürgen Habermas) bis zum Scheitern des Realsozialismus haben ein politisches Klima erzeugt, das die Regelung von Interessenkonflikten auf pragmatische und rationale Weise ohne klassenkämpferischen Überschuss nahelegt.

Text: Walther Müller-Jentsch, Industriesoziologe / Foto: J.H. Darchinger

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