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Magazin Mitbestimmung

Europa: Informationsrechte auch durchsetzen

Ausgabe 03/2021

Seit 1994 können Beschäftigte auch auf europäischer Ebene eine Interessensvertretung wählen. Sie leidet allerdings noch immer an derselben Krankheit, wie zuletzt die Pandemie zeigte. Von Fabienne Melzer

Vor einigen Monaten befragten Wissenschaftler des European Trade Union Institute (ETUI) Europäische Betriebsräte (EBR), wie ihre Beteiligung während der Coronakrise lief. Die Antwort: Die Konzernzentralen informierten sie in der Pandemie noch später und hörten sie noch seltener an als in Nicht-Krisenzeiten. Die Strategien wurden in den europäischen Zentralen entschieden und eingeführt. Mit der Ausnahmesituation will Romuald Jagodziński, wissenschaftlicher Mitarbeiter am ETUI in Brüssel, das Verhalten der Arbeitgeber nicht entschuldigen: „Wenn es in der Pandemie nicht funktioniert, hakt etwas grundsätzlich im System.“

Diesen Eindruck bestätigt auch eine Befragung, die er 2018 mit seinen Kollegen Stan De Spiegelaere und Jeremy Waddington, Universität Manchester, gemacht hat. Sie wollten herausfinden, wie sich die Überarbeitung der EBR-Richtlinie 2009 auf die Arbeit der Europäischen Betriebsräte ausgewirkt hat, und die Ergebnisse mit der Befragung von Jeremy Waddington von 2008 vergleichen. Das Resultat ist ernüchternd: „Die Arbeit der Europäischen Betriebsräte leidet noch immer unter der Krankheit, die schon in der Befragung 2008 festgestellt wurde“, sagt Jagodziński. Die ohnehin bescheidenen Rechte der europäischen Gremien würden häufig von den Arbeitgebern ausgehöhlt.

In der Befragung des ETUI gab nur eins von fünf EBR-Mitgliedern an, über Planungen, Investitionen oder andere Vorhaben des Managements informiert und angehört zu werden, bevor sie entschieden sind. Zwei von fünf wurden nach der Entscheidung, aber vor der Umsetzung informiert. Jeder Dritte wurde erst während oder nach der Implementierung informiert. Da verwundert es nicht, dass nur jeder Fünfte sagt, EBR-Sitzungen könnten Managemententscheidungen beeinflussen. „Informationen sind der Treibstoff der EBR-Arbeit“, sagt Jagodziński. „Wenn sie zu spät kommen, läuft die Arbeit nicht.“ Es gibt Fortschritte, aber sie sind winzig, etwa bei den Sitzungen. 41 Prozent der Euro-Betriebsräte trifft sich inzwischen zwar mindestens zweimal pro Jahr, für 46 Prozent ist es allerdings bei einer jährlichen Sitzung geblieben. Auch zeigen sich Unternehmen offenbar wenig flexibel, wenn ein Treffen spontan einberufen werden soll. Nur etwas mehr als jeder zehnte EBR gab an, dass sie sich etwa bei Restrukturierungen außer der Reihe treffen konnten. Dabei arbeiteten neun von zehn Eurobetriebsräten in Unternehmen, in denen Veränderungen anstehen oder laufen.

Die Mitbestimmung hinkt der Internationalisierung der Konzerne seit Jahrzehnten hinterher. Selbst die EU-Kommission räumte in ihrem Bericht 2018 Mängel in der EBR-Richtlinie ein, wie etwa eine fehlende Liste mit Mindestinformationen. Auf eine Überarbeitung warten Europäische Betriebsräte allerdings bis heute. Damit die Mitbestimmung mit dem Trend zu internationalen Konzernen mithalten kann, müssten, so Maxi Leuchters vom Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung der Hans-Böckler-Stiftung, die Rechte der Europäischen Betriebsräte gestärkt werden. Die Zahl der jährlichen Treffen sollte erhöht und Unternehmen verpflichtet werden, Stellungnahmen des Eurobetriebsrats bei Unternehmensentscheidungen zu berücksichtigen. Ganz oben auf der Liste der Euro-Betriebsräte steht der Wunsch nach wirksamen Sanktionen, wenn Arbeitgeber ihrer Informations- und Konsultationspflicht nicht nachkommen. In der Befragung des ETUI forderten das 80 Prozent.

Geldstrafen schrecken Arbeitgeber zu wenig ab, die Rechte der Europäischen Betriebsräte auszuhöhlen, stellt Romuald Jagodziński fest: „Wenn ein Arbeitgeber vor der Wahl steht, den Europäischen Betriebsrat zu konsultieren oder 20.000 Euro zu zahlen, zahlt er oft lieber das Geld.“ Jagodziński kennt nur eine Sanktion, die wirksam abschreckt und in Frankreich bereits eingesetzt werde: „Managemententscheidungen dürfen dort ohne die Anhörung des EBR nicht umgesetzt werden. Sie sind ungültig.“

Auch die schlechte Beteiligung vieler EBR in der Pandemie lag für ihn vorwiegend am fehlenden Willen der Arbeitgeber und nicht an technischen Fragen, auch wenn sich einige Gremien erst in der virtuellen Welt zurechtfinden mussten. Dabei sei die europäische Ebene gerade in diesen Fragen wichtig. So könne der EBR vergleichen, welche Maßnahmen in welchen Ländern ergriffen werden, und darauf achten, dass es nicht unterschiedliche Standards gibt, und die Kolleginnen und Kollegen auf nationaler Ebene informieren. Jagodziński sieht auch für Konzernzentralen Vorteile, wenn sie den EBR rechtzeitig einbeziehen. „Sie haben ja oft nicht den Überblick, was wo umgesetzt wird. Über den EBR kommen auch bei der Zentrale Informationen aus den einzelnen Standorten an.“

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