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Magazin Mitbestimmung

: Sozialstaat und Zivilgesellschaft - Transatlantischer Dialog

Ausgabe 04/2003

Wenn der deutsche Sozialstaat selbst Ungerechtigkeiten verschärft, bringt der Ruf nach der zivilen Bürgergesellschaft wenig, da hilft nur die Reform der sozialstaatlichen Institutionen.

 

Von Cornelia Girndt

In den USA wiederum ist es weniger die Zivilgesellschaft generell, es sind die religiösen Organisationen und die Kirchen, die effektiv etwas in der Armutsbekämpfung erreichen. Erkenntnisse dieser Qualität waren mitzunehmen beim diesjährigen ransatlantischen Dialog, den das amerikanische Generalkonsulat in NRW zusammen mit der Friedrich-Ebert- und der Hans-Böckler- Stiftung in Bonn veranstaltete. Thema: die Balance zwischen Sozialstaat und Zivilgesellschaft in den USA und Deutschland.  Der amerikanische Botschafter Daniel R. Coats als Vertreter eines mitfühlenden Konservatismus hat in seiner Zeit als Kongressabgeordneter aktiv am Wiederaufbau der Zivilgesellschaft gearbeitet. Man hatte Staatsprogramme mit karitativen Privatinitiativen verglichen und dabei festgestellt: Den privaten Initiativen gelang die Reintegration von Obdachlosen weit besser und das zu einem Zehntel der Kosten - weil sie den Menschen geistige Werte und Orientierung vermittelten. Harald Schartau, Wirtschafts- und Arbeitsminister in NRW, findet die These falsch, dass der Sozialstaat Verantwortung abnimmt und dabei Initiative erstickt. Im Gegenteil, dieser trage dazu bei, dass Menschen in Würde leben können, indem er Lebensrisiken mildert. Gleichwohl gehe es bei den aktuellen Sozialstaatsreformen darum, wegzukommen von passiven Versicherungsleistungen hin zu aktiver Assistenz und Unterstützung.  Wie groß die Differenzen der Gesellschaften diesseits und jenseits des Atlantiks sind, machte Prof. William A. Galston klar. So ist "die öffentliche Kultur in den USA antistaatlich, hochindividualistisch und hochreligiös". Nach neueren Studien über "Equality and Voice" sind es vor allem die religiösen Organisationen und die Kirchen, die den Armen eine Stimme und Selbstbewusstsein geben, berichtete Galston, Politikprofessor und in den 90er Jahren tätig im Apparat von Bill Clinton.  Auf Gefahren, die mit dem Konzept der zivilen Bürgergesellschaft einhergehen, verwies die junge Wissenschaftlerin Sigrun Kahl vom MPI Köln in ihrem Beitrag. So werde der arbeitslose Bürger nicht mehr als Opfer der Marktverhältnisse gesehen, sondern der Staat, der ihn unterstützt, werde auf einmal als Knebler des Marktes dargestellt. Laut Kahl zeigt das Beispiel USA, was passiert, wenn "ein staatliches Minimum fehlt". Dort werde ein Gutteil der sozialen Problemlagen in Gefängnissen abgefangen.


Exklusiv im Internet:

Aktuelle Herausforderungen an die Balance von Zivilgesellschaft und Sozialstaat

Vortrag für den Deutsch-Amerikanischen Transatlantischen Dialog der Hans-Böckler-Stiftung, Friedrich-Ebert-Stiftung und des U.S. Consulate General NRW: "Die Balance zwischen Sozialstaat und Zivilgesellschaft in den USA und Deutschland", Bonn, 21.02.2003

Von Sigrun Kahl

Die Autorin, 26 Jahre, promoviert bei Prof. Claus Offe (FU Berlin) und Prof. Wolfgang Streeck (MPI Köln) über Sozialhilfereform und Aktivierungstrategien gegenüber langzeitarbeitslosen Sozialhilfeempfängern im OECD-Vergleich (USA, Australien, Großbritannien, Dänemark, Schweden, Frankreich und Deutschland). Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut in Köln. E-Mail: kahl@mpi-fg-koeln.mpg.de

"Mein Vortrag beschäftigt sich mit der Frage, welche Antworten auf aktuelle Herausforderungen an die Balance von Zivilgesellschaft und Sozialstaat in Deutschland gefunden werden. Ich werde zunächst etwas zum aktuellen Diskurs sagen. Dann zeige ich am Beispiel der Leistungen für Arbeitslose exemplarisch, daß der Sozialstaat Ungerechtigkeiten produziert und wie diese adressiert werden und konzentriere mich danach auf den Zusammenhang zwischen der "Flexibilisierung des Arbeitsmarktes nach unten" und der Sozialhilfe. Schließlich diskutiere ich Perspektiven des sozialstaatlichen Modells. Obwohl Deutschland historisch das Pionierland des Wohlfahrtsstaates ist und sich bis heute das Selbstverständnis als Sozialstaat bewahrt hat, agieren neben dem Sozialstaat auch der Markt und -über das Prinzip der Subsidiarität- die Familie und Zivilgesellschaft als zentrale Wohlfahrtsproduzenten.

Subsidiarität postuliert den Vorrang der Verantwortung der jeweils kleineren Einheit, also zuvörderst die Pflicht des Individuums zur Selbsthilfe, dann die Unterstützungspflicht der Familie, danach die sozialer Organisationen, Wohlfahrtsverbände usw.; und als letzter dieser "konzentrischen Kreise" Oswald von Nell-Breunings kommt der Staat. Der Kern der vehementen Sozialstaatskritik der CDU/CSU in den 80er Jahren war, daß dieses Prinzip nicht mehr gewährleistet sei. Vielmehr seien die Bürger durch einen paternalistischen und anonymisierenden Staat entmündigt worden, weshalb Selbsthilfe, gegenseitige Hilfe und zivilgesellschaftliche Eigenorganisation nicht mehr funktionierten. Die CDU wollte deshalb eine "Neue Subsidiarität" und meinte bei der Sozialpolitik damit ungefähr dasselbe, was sich die SPD heute mit der "zivilen Bürgergesellschaft" zum Programm gemacht hat. Ich zitiere aus Gerhard Schröders Regierungserklärung vom Oktober 2002: "Der allgegenwärtige Wohlfahrtsstaat, der den Menschen die Entscheidungen abnimmt und sie durch immer mehr Bevormundung zu ihrem Glück zwingen will, ist nicht nur unbezahlbar, er ist am Ende auch ineffizient und inhuman." "Wir wollen eine neue Kultur der Selbständigkeit und der geteilten Verantwortung. Deshalb fördern wir die weitere Stärkung der freiheitlichen und sozialen Bürgergesellschaft." [1] Die Zivilgesellschaft erfährt in der aktuellen politischen Debatte parteiübergreifend eine Renaissance als "Zauberformel" (Rolf Heinze/Thomas Olk) gegen eine ganze Palette von sozialpolitischen Plagen. Zivilgesellschaft, Bürgergesellschaft und zivile Bürgergesellschaft werden weitgehend synonym verwendet. Was Zivilgesellschaft genau ist, bleibt meist nebulös. In der Regel scheint damit der Dritte Sektor jeglicher spontaner und geplanter gesellschaftlicher Selbstorganisation zwischen Staat und Markt gemeint zu sein [2],  wobei die Familie implizit der Zivilgesellschaft zugerechnet wird. Denn dieser Diskurs wird immer bei der familiären, vor allem aber der individuellen Selbsthilfe konkret. Rekurse auf intermediäre Netzwerke und assoziative Strukturen, wie Vereine, Kirchen, NGOs sind dagegen bislang rein rhetorisch und appellativen Charakters. So zum Beispiel der Ruf nach den "Profis der Nation" im Hartz-Papier oder den "Kräfte[n] der Selbstorganisation unserer Gesellschaft" in der Regierungserklärung Gerhard Schröders. Ein Zuviel und Zufalsch an Sozialstaat soll also korrigiert werden, indem der Zivilgesellschaft bisher verstaatlichte Sicherungsaufgaben zugetragen werden, so daß eine neue Balance von staatlicher Absicherung und individueller Vorsorge gefunden wird. Dies ist in vielerlei Hinsicht eine gute Sache, aber die Gefahren dieser Entwicklung zeichnen sich bereits deutlich ab. Die Bedeutungszuweisung an die Zivilgesellschaft hat nämlich einen Rückwirkungseffekt auf dieselbe: Sie wird privatisiert, atomisiert. Seit langem ist der Tenor der sozialpolitischen Polyphonie die Eigenverantwortung, private Sicherung, individuelle Leistung, Freiheit von staatlicher Bevormundung, -- nicht die Zivilgesellschaft als Solidargemeinschaft.

Die deutsche Zivilgesellschaft, so könnte man zugespitzt formulieren, wird peu à peu amerikanisiert. Denn in den USA werden Zivilgesellschaft und Markt als eine Einheit gesehen, als das Private, Apolitische, Individuelle im Gegensatz zum negativ konnotierten Öffentlichen, dem Staat. Die Zivilgesellschaft soll lediglich individuelle Freiheiten und Privateigentum sichern und vor staatlicher Zwangsausübung schützen, was den Zivilbürger auf den Marktteilnehmer reduziert, ein imaginäres "unternehmerisches Selbst". Innerhalb dieser Zone können Bürger gemäß der Ideologie des Voluntarismus privat wohltätig werden; der Staat aber soll dies nicht. In letzter Konsequenz führt dies zum "Bowling Alone", wie Robert Putnam sein Buch über die Erosion der Zivilgesellschaft in den USA titulierte. Es ist auffällig, wie bestimmend die Konstruktion eines Gegensatzes von Sozialstaat und Zivilgesellschaft auch in der deutschen Diskussion ist. Zuviel Staat beschränke die Zivilgesellschaft; mehr Eigenverantwortung gehe nur mit weniger Staat. In diese Gleichungen wird jedoch eine unabhängige Variable oft nicht einbezogen: Der Markt. Der Sozialstaat ist historisch als Antwort auf die Folgen der Industrialisierung für die Bürger geschaffen worden. Was ihn legitimiert, ist seine marktkompensatorische und marktkorrigierende Funktion.

Es dominieren heute jedoch Argumentationsfiguren, die nicht die Bürger als potentielles Opfer des Marktes darstellen, sondern den Markt als Opfer des Staates. Indem der Staat die Zivilgesellschaft (sprich: die Eigeninitiative) knebele, ersticke er die Wirtschaft. Symptome: Arbeitslosigkeit, fehlende Investitionen, sinkende Wettbewerbsfähigkeit. Dieser Diskurs mündet auch in materielle Veränderungen: eine Privatisierung der sozialen Risikovorsorge. Mit der Rentenreform wurde ein Teil der Lebensstandardsicherung auf private Vorsorge verschoben, bei einem zunehmenden Absinken der Garantien durch das staatliche Rentensystem. Dieser Trend läßt sich auch in der Reformdebatte über das Gesundheitswesen und der Rürup-Kommission beobachten, so z.B. eine erhöhte Eigenbeteiligung und private Zusatzversicherungen. Die Arbeitslosigkeit aber ist in der politischen und gesellschaftlichen Diskussion das wichtigste Problem. Doch gerade bei den Leistungen für Arbeitslose ist der Sozialstaat kontraproduktiv, ungerecht und veraltet. Ich greife mir im Folgenden fünf Probleme exemplarisch heraus. Gemeinsam ist allen Beispielen, daß der Sozialstaat entgegen seinen ureigenen Zielen soziale Exklusion verursacht oder verstärkt. Gemeinsam ist diesen Beispielen nach meinem Dafürhalten auch, daß eine Problemlösung nicht über ein Weniger an Staat und ein Mehr an Zivilgesellschaft, sondern nur durch eine Reform der sozialstaatlichen Institutionen selbst erreicht werden kann.

1.) Es gibt in Deutschland drei Klassen von Arbeitslosen. Im Regelfall ist die höchste Leistung das Arbeitslosengeld; Arbeitslosenhilfeempfänger kriegen weniger; und am wenigsten kriegen die Sozialhilfeempfänger. Auch in Bezug auf Zugangskriterien, Anrechnung von Einkommen und Vermögen, Rückgriff auf Unterhaltspflichtige, Zumutbarkeitsregelungen und soziale Absicherung (vor allem im Alter) bestätigt sich die Rangfolge. Am schwerwiegendsten aber ist, daß sich diese Hierarchie auch im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik reproduziert. Im Gegensatz zu den Beziehern von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe müssen arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger z.B. "gemeinnützige und zusätzliche Arbeit" als Gegenleistung verrichten, also workfare im Wortsinne. Qualifikationsmaßnahmen hingegen sind für sie rar gesäht.

2.) Die unterschiedliche Finanzierungsbasis von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe installiert sogenannte "Verschiebebahnhöfe". Das Arbeitslosengeld wird aus den Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung gezahlt, die Arbeitslosenhilfe vom Bund, die Sozialhilfe von den Kommunen. Daraus ergibt sich ein cost shifting-Problem zwischen der Bundesanstalt für Arbeit, dem Bund und den Sozialämtern. Zwei Möglichkeiten sind dabei besonders wichtig: Sozialämter bieten einjährige sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse an. Nach einem Jahr wird aus dem Sozialhifeempfänger dann ein Arbeitslosengeldbezieher. Arbeitslos ist er dann immer noch, nur bezieht er seine Leistungen nun aus der Arbeitslosenversicherung. Ebenso finanzieren die Sozialämter eine große Zahl von Arbeitslosenhilfebeziehern mit, deren Hilfe mit der Zeit so weit sinkt, daß eine aufstockende Sozialhilfe nötig wird. Schließlich sei erwähnt, daß die Bundesanstalt für Arbeit keinen Anreiz hat, Arbeitslosenhilfebezieher in teure Integrationsmaßnahmen zu stecken, weil sie nicht für die Arbeitslosenhilfe aufkommt. Nach den Vorschlägen der Hartz-Kommission sollen Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt werden. Positiv daran zu beurteilen ist, daß die Finanzierung der Arbeitslosigkeit wieder vollständig in die Hände des Bundes gelegt würde und die Gleichbehandlung von Sozial- und Arbeitslosenhilfeempfängern gewährleistet wäre. Problematisch ist, daß die Zusammenlegung letztlich auf eine Kürzung hinauszulaufen scheint. Außerdem gibt es dann immer noch zwei aus verschiedenen Kassen finanzierte Klassen von Arbeitslosen, wodurch die eben skizzierten Probleme weiterbestehen würden.

3.) Durch creaming-Effekte bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik funktioniert das System vor allem bei der Reintegration derjenigen nicht, die Integrationsangebote am nötigsten hätten: Langzeitarbeitslose mit niedriger Qualifikation und sozialen Problemen. Insbesondere die Sozialämter verweisen Multiproblemfälle vielmehr schon immer gern an diverse freie Träger und die Wohlfahrtsverbände -also die im Bereich der Armut zentralen Akteure der Zivilgesellschaft, die mit dieser Aufgabe jedoch heillos überfordert sind.

4.) Streng genommen ist das Recht auf ein soziales Minimum in Deutschland kein Bürgerrecht. Während die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung an das Eintreten des Risikofalls "Arbeitslosigkeit" geknüpfte Rechte sind, ist  die Sozialhilfe immer der zivilgesellschaftlichen bzw. familiären Unterstützung nachgelagert. Gemäß dem Prinzip der Subsidiarität ist die Familie zunächst unterhaltspflichtig, also Eltern, Kinder, Ehegatten und geschiedene Partner. Diese Praxis ist in der OECD absolut unüblich [3]  und bewirkt, daß zwischen 33 und 63% der Anspruchsberechtigten gar nicht erst einen Antrag stellen. [4]

5.) Der Sozialstaat institutionalisiert das Modell des männlichen Ernährers und der Frau als Mutter und Hausfrau und generiert auf diese Weise Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und zwischen verschiedenen Familienformen, z.B. beim Ehegattensplitting und den abgeleiteten Versorgungsansprüchen von Ehefrauen aus der Rentenversicherung. [5] Im Bereich der Leistungen für Arbeitslose sticht heraus, daß fast ein Drittel aller alleinerziehenden Mütter dauerhaft von Sozialhilfe lebt. [6]

Ich möchte im Folgenden auf zwei zentrale Entwicklungen genauer eingehen, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes nach unten und die Kontraktualisierung der Sozialhilfe. Im Bereich niedrigbezahlter und prekärer Beschäftigung kumulieren Sicherungsdefizite, Qualifikationsdefizite, Einkommensdefizite und hohes Arbeitslosigkeitsrisiko, z.B. bei der Teilzeitarbeit, Leiharbeit, geringfügigen und befristeteten Beschäftigung. Diese Defizite und Risiken werden regelmäßig durch die Sozialhilfe kompensiert, die als das ultimative Auffangbecken für all jene fungiert, die keine Versicherungsansprüche haben.  Aber genau an dieser Stelle wird der Sozialstaat heiß diskutiert, denn die Sozialhilfe markiert den Kollisionspunkt der wirtschaftspolitischen Strategie einer Senkung der Arbeitslosigkeit durch Senkung der Anspruchslöhne und Ausweitung der Lohnspreizung einerseits und andererseits der sozialpolitischen Strategie der Gewährung eines sozialen Minimums.

Einer der prominentesten Ansätze zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in Deutschland ist nun die weitere Öffnung des Niedriglohnsektors für Geringqualifizierte, insbesondere bei Dienstleistungen. Nach dem 1999er Vorschlag der Arbeitsgruppe Benchmarking im Bündnis für Arbeit sollte dafür ähnlich wie bei der Einkommenssteuer auch bei den Sozialversicherungsbeiträgen ein Freibetrag und eine Progressionszone eingerichtet werden, um so die Nachfrage nach gering qualifizierter Arbeit zu stärken. Danach wären Einkommen bis zu einer bestimmten Grenze frei von Sozialversicherungsbeiträgen. Ab dieser Grenze stiegen sie sukzessive, bis sie die üblichen Sätze erreichen. Mit den Minijobs wurde dieses Modell Anfang diesen Jahres teilweise umgesetzt.  [7] Der Benchmarking-Vorschlag, die Hartz-Vorschläge und die Minijobs können als Versuch verstanden werden, den Widerspruch zwischen sozialer Sicherheit und Arbeitsmarkt zu entschärfen: Wenn ein Minimum gewahrt ist, kann auch der Arbeitsmarkt oberhalb dieses Minimums effizienter gestaltet werden. Die gegenwärtige Gefahr aber ist, daß dieser durch die Sozialhilfe gesetzte Mindestlohn aufgekündigt wird.  Diskutiert wird nämlich, ob ein zu generöse Leistungssystem unter den Arbeitslosen eine Versorgungsmentalität gezüchtet hat und die Pflichten der Arbeitslosen zu lasch definiert und durchgesetzt werden.

Der "aktivierende Staat" soll deshalb die Arbeitslosen von "passiven" Leistungempfängern zu "aktiven" Bürgern transformieren. "Eigenaktivität", "Eigenverantwortung" "Fördern und Fordern", "Rechte und Pflichten" gehören zusammen, "keine Leistung ohne Gegenleistung" sind in allen großen politischen Parteien zu hörende Schlagwörter. Die Leitidee der Reformvorschläge der Hartz-Kommission ist folgerichtig: "Eigenaktivität auslösen. Sicherheit einlösen." "Im Zentrum steht die eigene Integrationsleistung der Arbeitslosen." - Also: nicht mehr der Staat trägt die Hauptverantwortung für die Überwindung der Arbeitslosigkeit, sondern das Individuum.
Das neue Grundprinzip der Sozialhilfe sind reziproke Rechte und Pflichten, die vertraglich kodifiziert werden. Dadurch wird die Sozialhilfe nicht nur intern neu organisiert, sondern auch das Verhältnis von Sozialhilfe und Arbeitsmarkt. [8]  Denn die Sozialhilfe ist kein reines Recht mehr, sondern sie muß wie ein Lohn "verdient" werden.  [9] Kongruent mit dem Arbeitsvertrag werden Eingliederungsverträge darüber geschlossen, welche Arbeits-, Qualifikations- und Jobsuchebemühungen der Arbeitslose unternehmen muß, wenn er die Leistung erhalten will.

De facto wird die Sozialhilfe auf diese Weise selbst zum am niedrigsten bezahlten Job. Dazu kommt, daß die Regelsätze -also die Anspruchslöhne- seit den 80er Jahren im Verhältnis zur Entwicklung der Löhne und Lebenshaltungskosten sinken. Dadurch wird der Arbeitsmarkt schrittweise weiter nach unten geöffnet. Ebenso zeichnet sich deutlich ab, daß die Leistungshöhe bei einer Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe weiter sinken wird, nämlich auf das Sozialhilfeniveau oder darunter, z.B. durch die jüngste stillschweigende Reduktion der Freibeträge bei der Arbeitslosenhilfe, wodurch diese im Durchschnitt um 9% gekürzt wird.  [10]

Wie ist diese Entwicklung zu bewerten? Als Thomas Marshall 1949 den Begriff der "sozialen Staatsbürgerrechte" einführte, meinte er ein garantiertes Minimum für alle Bürger, das sich nicht proportional zum Marktwert des Individuums verhält. Soziale Rechte basieren allein auf dem Bürgerstatus. Sie konstituieren eine Sphäre von Gleichheit und limitieren die Sphäre der Ungleichheit: Den Markt. Der Markt nämlich ist durch Verträge organisiert. Indem auch die Sozialhilfe kontraktualisiert wird, erobert die Domäne der Ungleichheit die Domäne der Gleichheit und soziale Staatsbürgerrechte werden unterwandert.

Wenn man annimmt, daß Verträge zwischen freien und ebenbürtigen Parteien geschlossen werden, dann ist es widersinnig, das Existenzminiumum über Verträge zu organisieren. Denn es existiert ein fundamentales Machtungleichgewicht zwischen dem durch das Sozialamt repräsentierten Staat und den in Not geratenen Bürgern. Die Antragsteller haben nur eine Option: den Vertrag unterschreiben und die Anforderungen erfüllen. Alternativ könnten sie ohne oder mit weniger Sozialhilfe leben. Arbeitslose haben des weiteren kein einklagbares Recht auf den Zugang zu Arbeitsmarktprogrammen, sondern lediglich die Pflicht, bei Aufforderung daran teilzunehmen.

Im Hartz-Papier heißt es: "Eigenaktivität auslösen, Sicherheit einlösen." Doch wenn Vorbedingungen für die Gewährung von Sicherheit gestellt werden, bedeutet das eben genau, daß soziale Sicherheit nicht mehr für jeden garantiert ist. Sicherheit mutiert von einem universellen Recht zu einem exklusiven Privileg der "Aktiven". Aber welche alternativen Perspektiven hat das sozialstaatliche Modell dann? Die Stärke des Sozialstaats besteht in einer generösen und garantierten Risikoabsicherung. Diese Stärke wird zur Zeit vor allem als Schwäche gesehen, als Hindernis für die eigenverantwortliche Lebensgestaltung derjenigen, die staatliche Transfers in Anspruch nehmen. Die Zivilgesellschaft ist jedoch auf einen bestimmten Katalog von Sicherheiten angewiesen. Der Wohlfahrtsstaat war ein wichtiger Teil der institutionellen Arrangements, die historisch überhaupt erst die Entfaltung der Zivilgesellschaft jenseits von Staat und Markt ermöglichten. Diese Sicherheiten kann weder die ökonomische Sphäre noch die zivilgesellschaftliche selbst wirksam garantieren. Das kann nur der Staat.

Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes erhöht den sozialstaatlichen Handlungsbedarf. Sozialhilfe und Arbeitsmarkt sind zwei grundsätzlich verschiedene Systeme, deren Verteilungslogiken miteinander nicht vereinbar sind. Das Verteilungsergebnis des Marktes kann Menschen weit unter das Existenzminimum drücken. Die Sozialhilfe setzt deshalb Lohnsenkungen ein Limit. Ab dieser Grenze wird die Arbeitskraft dekommodifiziert und somit die paradoxe Angebotsfunktion der Arbeit abgebrochen, bevor die Löhne unter die Schwelle sinken, wo Menschen bei sinkenden Löhnen immer mehr arbeiten müßten, um zu überleben.

Die soziale Einbettung des Marktes aber wird gesprengt, sobald die Löhne diese in der Verfassung garantierte Grenze unterschreiten. Und deren Grenzposten werden überrannt, sobald man das Minimum vertraglich organisiert. Oberhalb des Minimums aber sollte der Arbeitsmarkt sehr viel effizienter gestaltet werden, auch wenn das kurzfristig gegen die Interessen der Insider geht, wie das aktuelle Präludium zum 3. Bündnis für Arbeit deutlich zeigt.In einer Zeit aber, wo selbst den Insidern immer weniger durch die Sozialversicherung garantiert ist und immer mehr Eigenverantwortung abverlangt wird, wo an allen Ecken und Enden gespart wird, da ist Umverteilung wenig plausibel.

Warum und wozu also brauchen wir eine Sozialhilfe? Man kann diese Frage mit den immensen sozialen, politischen und fiskalischen Opportunitätskosten beantworten, die entstehen, wenn sie nicht existiert. Ein Blick in die USA verdeutlicht: Fehlt ein staatliches Minimum, kommt es zu gesellschaftlicher Desintegration und steigender Kriminalität, und neben den vielgepriesenen Anspornkräften werden vielfältige Destruktivkräfte freigesetzt. Arbeitslosigkeit, Niedriglohnsektor und soziale Probleme werden in den USA in einem mittlerweile gigantischen Ausmaß durch die -marktwirtschaftlich organisierten- Gefängnisse abgefangen, abgedeckt und gemanagt. [11]  Ich habe den starken Eindruck, daß die Aktivierungspotentiale des US-Modells in Wirklichkeit auf eine Apathisierung hinauslaufen. Man denke an die eindrucksvolle Beschreibung der US-amerikanischen working poor von Barbara Ehrenreich, an die sinkende Wahlbeteiligung, an die horrende Armutsquote der Kinder (21%!), die eigentlich das zivilgesellschaftliche Zukunftspotential stellen sollen.  [12]

Das entscheidende Argument aber ist, daß menschenwürdige Minima die moralische Marke für eine gute Gesellschaft sind. Wie die Schwächsten, die Versager, die Abweichler behandelt werden, entscheidet über die Menschlichkeit einer Gesellschaft, und nicht die Situation der Starken, Einflußreichen, Konformen. Der Staat muß also einen gewissen Teil seiner Ausgaben konsumptiv verwenden, für die Subvention des Lebensunterhalts eines bestimmten Anteils seiner Bürger. Und dies muß er in jedem Fall, egal ob er diesen Menschen nun eine Sozialhilfe zahlt oder sie ins Gefängnis steckt. Ebenso wichtig wie Redistribution aber ist die Reintegration. Gerade angesichts des zunehmenden Kostendrucks muß der Staat langfristig in das Sozial- und Humankapital seiner Bürger investieren, so daß sie die Subventionen idealerweise irgendwann nicht mehr brauchen oder -besser noch- gar nicht erst in die Situation kommen, daß sie diese benötigen.

Damit meine ich vor allem die Möglichkeiten, die der Staat für die Entwicklung von capabilities im Sinne Amartya Sens bereitstellt, also Arbeitslosen die Möglichkeit gibt, ihre Fähigkeiten, Begabungen und Vorlieben zu entwickeln, um so am Wettbewerb auf ihre individuell optimale Weise teilzunehmen. Es geht also um die Herstellung größerer Chancengleichheit im Markt. -- Aber nicht über die Individualisierung der Arbeitslosigkeit und über Zwang. Denn wenn der Sozialstaat zukünftig primär mit Verträgen, Drohungen und Sanktionen operiert, um seine Klientel zu aktivieren, wird er entmündigend und paternalistsich. Und genau dafür wird auch schon das bisherige Arrangement von generösen aber passiven Leistungen kritisiert.

Aktivierung jedoch, die auf Freiwilligkeit und Wahlfreiheit statt Zwang, positiven Anreizen statt negativen Sanktionen, vielfältigen und flexiblen Integrationsoptionen statt festgelegten Programmen beruht, ist in ihrem Erfolg weitreichender und nachhaltiger. Schließlich ist zu überlegen, ob die deutsche Politik nicht jede Legislaturperiode aufs Neue ihr eigenes Scheitern programmiert, indem sie sich illusorische Ziele für die Reduktion der Arbeitslosigkeit setzt. So wie Sysiphos rollt sie denselben Stein immer wieder den Berg hoch, wohlwissend, daß er doch nur wieder im Tal landet. Neuerdings soll die Arbeitslosigkeit durch die Hartz-Vorschläge halbiert werden. Wenn man die Vision Vollbeschäftigung kritisch hinterfragt und nach alternativen Versionen sozialer Teilhabe durch Arbeit sucht, kann sich auch der Horizont der Leistungen für Arbeitlose erweitern. Die Sozialhilfe könnte als ein -wie Anthony Atkinson es nennt- "participation income" auch nicht marktgängige Arbeit innerhalb der Zivilgesellschaft finanzieren, z.B. in der Familie, der Kommune oder in Vereinigungen des 3. Sektors. Dies wäre eine positive und eine realistische Perspektive für die Balance von Staat, Markt und Zivilgesellschaft in Deutschland."

[1] Schröder, 2002, S. 10. [2] Dritter Sektor: Vereine, Verbände, NGOs, Stiftungen, Selbsthilfegruppen, Parteien, Intitiativen, Gewerkschaften, Freiwilligendienste. [3] Lediglich Korea und die Schweiz haben ähnliche Regelungen. [4] z.B. Engels 2002; Riphan 2000. [5] Generell haben Familien mit Kindern in Deutschland ein sehr viel höheres Sozialhilferisiko als Familien ohne Kinder. Der Familienlastenausgleich kompensiert kinderbedingte Armutsrisiken völlig ungenügend. [6] Weil es eine viel zu geringe Anzahl von Kindergartenplätzen gibt und weil sie nicht in Maßnahmen der Hilfe zur Arbeit einbezogen werden, bis ihr Kind das 4. Lebensjahr erreicht (bzw. bei mehreren Kindern bis das jüngste 10 ist) werden Alleinerziehende quasi in der Sozialhilfe "eingeschlossen". [7] Ein Freibetrag wurde nicht eingerichtet; ebenso erreicht die Progression bereits bei 800 Euro die Normalsätze. Und schließlich wurde weder Freibeträge noch eine Progression für die Arbeitgeber eingeführt, für es sich ja -bei allen Arbeitsanreizen für den Einzelnen- schließlich auch lohnen muß, einen geringqualifizierten Arbeitslosen einzustellen. Auch andere Entwicklungen deuten in Richtung einer weiteren Ausdehnung des Niedriglohnsektors, so z.B. die Weiterentwicklung der Leiharbeit in Form der Personal Service Agenturen (Hartz) oder die ICH-AG. Oder die Kombilöhne, ein leider zu unrecht mit viel Aufmerksamkeit bedachter Modellversuch. [8] In der historischen "langen Dauer" hat die Sozialhilfe damit drei Transformationen vollzogen: Bis zum 20. Jahrhundert war sie ein Almosen, gewährt auf der Basis individueller Not, aber keinesfalls garantiert. Gegenleistungen vom guten Betragen bis zur Arbeit waren dringend erforderlich, um zu den würdigen Armen -den deserving poor- zu gehören und Fürsorgeleistungen zu erhalten. Im 20. Jahrhundert wurde sie zu einem an die Staatsbürgerschaft geknüpften sozialen Recht. Im ausgehenden 20. Jahrhundert nun kehrte der Gedanke der Gegenleistung wieder zurück. Jedoch wird die Sozialhilfe nicht wieder zu einem Almosen, sondern das Recht wird mittels eines Vertrages an die Pflicht zur Gegenleistung gebunden. [9] In der historischen "langen Dauer" hat die Sozialhilfe damit drei Transformationen vollzogen: Bis zum 20. Jahrhundert war sie ein Almosen, gewährt auf der Basis individueller Not, aber keinesfalls garantiert. Gegenleistungen vom guten Betragen bis zur Arbeit waren dringend erforderlich, um zu den würdigen Armen -den deserving poor- zu gehören und Fürsorgeleistungen zu erhalten. Im 20. Jahrhundert wurde sie zu einem an die Staatsbürgerschaft geknüpften sozialen Recht. Im ausgehenden 20. Jahrhundert nun kehrte der Gedanke der Gegenleistung wieder zurück. Jedoch wird die Sozialhilfe nicht wieder zu einem Almosen, sondern das Recht wird mittels eines Vertrages an die Pflicht zur Gegenleistung gebunden. [10] Erstes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, 23.12.02, Bundesgesetzblatt Jahrgang 2002, Teil I Nr. 87, ausgegeben zu Bonn am 30.12.2002, Artikel 11: Danach wird im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung der Alhi der vom Partner absetzbare Mindestfreibetrag für einen Alleinstehenden von 602,92 Euro auf 482,33 Euro gekürzt. Der bisher vom Partnereinkommen zusätzlich absetzbare Erwerbstätigenfreibetrag in Höhe von 25% des Existenzminimums für einen Alleinstehenden (151 €/Monat) wird gestrichen. Der Vermögensfreibetrag pro Person (Arbeitsloser, Partner) und Lebensalter sinkt von 520 € auf 200 €. Der Höchstbetrag des Schonvermögens pro Person sinkt von 33.800 € auf13.000 €. Dadurch sollen 2003 1,31 Mrd. € an Alhi-Zahlungen gespart werden, das sind 8,6% der Alhi-Ausgaben im Jahr 2002. (Haushalt 2002: 14,8 Mrd €, 2003: 12,3 Mrd €): http://www.bmwi.de/textonly/Homepage/Das%20Ministerium/Haushalt%20des%20BMWA/Haushalt.jsp [11] Die USA geben jährlich 4% ihres Bruttosozialproduktes für Gefängnisse und Sicherheitsmaßnahmen aus. Für die Arbeitsmarktpolitik dagegen werden 0.5% des BSP veranschlagt. In Europa sind diese Relationen ungefähr umgekehrt. [genauer: für entstandene Schäden durch Kriminalität (z.B. Gefängnisse) und für Prävention (z.B. Sicherheitsmaßnahmen)]. Freeman 1997, Bosch 1998. Auf 100,000 Einwohner kamen 2002 in Deutschland 92 Gefängnisinsassen. In den USA sind es 702, also fast achtmal so viele. International Herald Tribune, 3 Jan 2003 [12] UNICEF 2000; National Center for Children in Poverty 2002: Child Poverty Fact Sheet, www.nccp.org/

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