Pro & Contra: Arbeiten die Deutschen zu wenig?
Ja, findet Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft. Denn trotz hoher Erwerbsbeteiligung gehört die Arbeitszeit in Deutschland im internationalen Vergleich zu den kürzesten. Nein, sagt Amélie Sutterer-Kipping vom Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht und verweist auf die gestiegene Zahl der geleisteten Arbeitsstunden in den vergangenen Jahren.
Ja.
In den kommenden Jahren erreichen in Deutschland Millionen mehr Menschen das Rentenalter als in das Erwerbsalter nachrücken. Wenn ein Ausgleich nicht gelingt, drohen Wohlstandseinbußen und verschärfte Verteilungskonflikte. Die Zeit drängt, denn die Verrentung der Babyboomer erreicht bereits 2030 ihren Höhepunkt. Neben einer Erhöhung des Arbeitskräftepotenzials durch Zuwanderung kommt als Kompensation eine bessere Ausschöpfung des vorhandenen Arbeitskräftepotenzials infrage – entweder durch eine höhere Erwerbsbeteiligung oder durch eine längere durchschnittliche Pro-Kopf-Arbeitszeit. Während die Erwerbsbeteiligung in Deutschland im internationalen Vergleich zu den höchsten zählt, ist die Arbeitszeit die kürzeste in der OECD. Dies führt dazu, dass wir trotz überdurchschnittlicher demografischer Herausforderungen unser Arbeitskräftepotenzial nur unterdurchschnittlich ausschöpfen.
Der Hebel liegt bei der Arbeitszeit. Die am niedrigsten hängende Frucht dürfte dabei die hierzulande hohe Teilzeitquote sein. Eine bessere Kinderbetreuungsinfrastruktur und eine niedrigere Abgabenlast könnten zum Beispiel Anreize bieten, die Arbeitszeit auszuweiten. Die Aushandlung der Arbeitszeit obliegt grundsätzlich den Tarifpartnern oder dem Einzelnen, der souverän darüber verhandelt, wie viel er arbeiten will. Die Politik kann aber Rahmenbedingungen schaffen, unter denen es attraktiv wird, seine Arbeitszeit auszuweiten.
HOLGER SCHÄFER ist Senior Economist für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit beim Institut der deutschen Wirtschaft.
Nein.
Die Deutschen arbeiten nicht zu wenig, sondern mehr und anders als früher. Zwar kommen unsere Beschäftigten auf eine im europäischen Vergleich relativ geringe durchschnittliche Arbeitszeit von 34,7 Stunden pro Woche, doch dies sagt nichts über die erbrachte Arbeitsleistung aus. Insgesamt ist sowohl die Zahl der Erwerbstätigen als auch die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden in den vergangenen Jahren gestiegen. Laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) erreichte die Zahl der abhängig Beschäftigten 2023 mit einem Jahresdurchschnitt von 42 Millionen einen neuen Höchststand, ebenso die Zahl der Erwerbstätigen mit 46 Millionen. Auch das Gesamtarbeitszeitvolumen verzeichnet Rekordwerte. Insgesamt haben abhängig Beschäftigte in Deutschland im Jahr 2023 rund 55 Milliarden Stunden gearbeitet, während es 1991 noch 52 Milliarden waren.
Das liegt vor allem an der höheren Erwerbstätigenquote von Frauen. Sie stieg zwischen 1991 und 2022 von 57 auf 73 Prozent. Hier liegt auch die Ursache für die gesunkene durchschnittliche Arbeitszeit. Ein Großteil der Frauen arbeitet Teilzeit – in Deutschland fast jede zweite – vor allem, weil Frauen noch immer den größten Teil der unbezahlten Sorgearbeit übernehmen.
Die Entwicklung zeigt, dass wir Arbeitszeit neu gestalten müssen. Nötig ist ein offener gesellschaftlicher Diskurs, den wir miteinander und nicht gegeneinander führen.
AMÉLIE SUTTERER-KIPPING ist Referatsleiterin für Arbeits- und Sozialrecht am Hugo Sinzheimer Institut der Hans-Böckler-Stiftung.
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