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Magazin Mitbestimmung

: New Yorks machtvolle Lehrergewerkschaft

Ausgabe 11/2010

BILDUNG Eine Gruppe Berliner GEWler diskutierte in New York mit Kollegen der UFT, der United Federation of Teachers, über Schulpolitik. Von Cornelia Girndt

Cornelia Girndt ist Redakteurin des Magazins Mitbestimmung/Foto: Cornelia Girndt

Der Wingate Campus in Brooklyn ist ein großer Schulkomplex, der aufgesplittet wurde in mehrere kleinere Schulen. So hat man die Schüler besser unter Kontrolle. Tony Sclafani, Stadtteilvertreter der New Yorker Lehrergewerkschaft UFT, steht im Klassenzimmer vor der Tafel. Um ihn herum sitzen einige Lehrer der Highschool, die hier sonst 15-Jährige aus Einwandererfamilien aus Puerto Rico und Haiti unterrichten - darunter besonders betreuungsbedürftige Jugendliche.

Doch heute geht es um die große Politik: Der Vertrauensmann der Gewerkschaft an der Schule hat sein Klassenzimmer für die monatliche Sitzung zur Verfügung gestellt. Tony Sclafani ist ein Typ wie Jack Lemmon, klein und witzig, der seinen New Yorker Stadtteil Brooklyn als "the best" anpreist, besser als Queens, die Bronx und sogar Manhattan. In diesem Moment ist er sehr ernst: "We are under attack", sagt Tony zu den Lehrern und erzählt von der rechten Wirtschaftslobby, die das System der öffentlichen Schulen und deren Gewerkschaft, die UFT, zerstören will. "Wir sind mitten in einem politischen Fight, die Hedgefonds greifen unsere Pensionsfonds an, sie wollen sich dieses lukrative Feld erschließen", sagt der Brooklyn-Vertreter der UFT.

Deshalb bittet er die Lehrer, bei den amerikanischen Zwischenwahlen wählen zu gehen, und um Spenden für eine PR-Kampagne, mit der die Angriffe gekontert werden sollen. 200 000 UFT-Mitglieder in New York City, das sei eine "machtvolle Gruppierung".

Organisation dieser machtvollen Gruppierung ist die United Federation of Teachers, UFT, die 95 Prozent der Lehrer organisiert hat und von jedem Mitglied rund 900 Dollar jährlich erhält. Auch wenn davon Sozialversicherungsleistungen und Weiterbildungszentren mitfinanziert werden - die Lehrergewerkschaft in New York ist eine der bestausgestatteten und machtvollsten der Welt.

Und doch kämpft sie derzeit mit dem Rücken zur Wand. Vor allem kämpft sie gegen die privat gemanagten Charter-Schulen, ein dereguliertes Parallel-Schulsystem, das von den milliardenschweren Stiftungen mit Finanzmitteln versorgt wird, wo der Schulleiter Boss und Manager ist. Für die sind Gewerkschaften mit einem 190 Seiten dicken Tarifvertrag, der Gehälter bis zu 100.000 Dollar vorsieht und die Größe der Klassen und Klassenzimmer definiert, Sand im Getriebe ihrer Geschäftsinteressen. Elli Engler, Personalchefin der UFT, eine robuste Frau mit weit schwingenden Hosen, ist aufgewühlt: "Sie machen uns Gewerkschaften in der Presse fertig, sie schimpfen über die alten Lehrer, unsere Gehälter nach Senioritätsprinzip und unsere Tarifverträge", sagt sie bei einer Rundfahrt durch Manhattan. "Das hier wird der Kampf meines Lebens."

Gerade ist in den USA der Film "Waiting for Superman" angelaufen, ein Antigewerkschafts-Film, in dem Bildungsdefizite und das den USA drohende Verdummungs-Debakel drohend an die Wand gemalt wird. Die Regierung baut erheblichen Druck auf, Leistungslohn für Lehrer einzuführen und will den daran koppeln, wie deren Schüler bei den Leistungstests abschneiden. Die New Yorker UFT lehnt das ab. "Alles läuft darauf hinaus, die Lehrer zu bestrafen und die Gewerkschaft zu dämonisieren", sagt die wertkonservative Bildungsexpertin Diane Ravitch in ihrem jüngsten Buch.

Die Debatten darum erleben neun GEW-Gewerkschafter aus Berlin - darunter der Vorsitzende Ulrich Thöne - Anfang Oktober bei ihrem Besuch in Amerikas größter Stadt. In einem formidablen Programm werden die Deutschen von den UFTlern durch Schulen und Gewerkschaftsbüros in fünf New Yorker Stadtteilen gelotst. Umgekehrt hatten vor einem Jahr - auf Einladung der GEW - neun UFTler Schulen in Berlin besucht.

TAG IN DER BRONX_ Dave Kazansky war damals dabei. Heute erwartet er uns in der South Bronx hinter der Metro-Absperrung, blaue Hose, blauer Blouson, den UFT-Ausweis mit Foto immer am Hosenbund, wie bei einer städtischen Behörde. Zuletzt war Dave EDV-Lehrer, dann fragte ihn die Gewerkschaft, ob er einer von fünf "District Reps" in der Bronx werden will, und zahlte ihm 40.000 Dollar mehr, als er als Lehrer verdient hatte.

Die Bronx ist seit den 80er Jahren berüchtigt, als die Gangs das Gebiet kontrollierten und sich kaum die Polizei hineintraute. Hier gibt es 325 öffentliche Schulen. In jeder Einzelnen hat die UFT einen gewählten Vertreter, der ihr über Vorfälle berichtet, erzählt Carol Harrison. Die gebürtige Jamaikanerin, eine Kindergärtnerin, vibriert vor Energie, als "District Rep" ist sie zuständig für 54 Schulen und permanent mit einem Ohr am Mobiltelefon. Vorgestern hat sie viel Medienrummel gehabt, weil eine Bronx-Lehrerin ihre Memoiren als Ex-Callgirl publiziert hatte. Und nun vor dem Rauswurf steht.

Wenn bei der Montagssitzung im Nachbarschafts-Quartier der Bronx 15 Gewerkschafter zusammensitzen, sitzt fast die ganze Welt zusammen, Leute mit afroamerikanischen, jüdischen und hispanischen Wurzeln. Heute besprechen sie die gerade eingegangenen Mitglieder-Beschwerden: Jede Beschwerde hat eine Ziffer, die sich auf einen Passus im Tarifvertrag bezieht. Es geht um den Rauswurf einer Lehrerin aus ihrer Klasse, um den Vorwurf der Inkompetenz und um Mobbing durch den Schulleiter.

Die Gewerkschaft unterhält mehrere Teaching Center, dort werden Lehrerinnen und Lehrer, die eine schlechte Beurteilung erhielten, kollegial begutachtet und weitergebildet. "Wir haben über 4000 Lehrer in New York, denen ansonsten der Verlust der Lehrerlaubnis droht", sagt Carol Harrison. Beim Rundgang öffnet sie auch die Tür zum "Phone Bank Room", wo 15 Telefone stehen. Von hier aus machen die UFTler aus der Bronx Werbung für den demokratischen Senatskandidaten Gustavo Rivera. Carol greift zum Hörer und macht vor, wie das geht: "Hello, Ann, I hope we have your support for Rivera." Das schafft auch direkten Kontakt zu den Mitgliedern.

DICHT ORGANISIERT_ "We are under attack", der Satz von Tony Sclafani klingt nach beim Blick aus dem 32. Stock auf Ground Zero, wo neben den Becken, die den ausgelöschten Standort des World Trade Center markieren, neue Gebäude hochgezogen werden. Tag und Nacht dröhnt das Hämmern von Amerikas größter Baustelle hinauf zum Millennium Hotel, wo uns die Gastgeber von der UFT absichtsvoll untergebracht hatten. Nicht weit davon residiert die Lehrergewerkschaft. Als New Yorks Finanzdistrikt nach dem 11. September 2001 in Schutt und Asche lag, hat die United Teachers Federation das beschädigte Hochhaus Broadway 50/52 gekauft, um beim Wiederaufbau mitzuhelfen. Nun liegt die elegante, 19-stöckige Gewerkschafts-Zentrale nur wenige Schritte von der Wallstreet und New Yorks Börse entfernt.

Der Kampf um eine gute Bildung für alle - als Teil sozialer Gerechtigkeit - ist in die Gründungsurkunde der UFT eingeschrieben. Ihre ersten Vorsitzenden stammten aus armen jüdischen Einwandererfamilien und waren in den 60er Jahren in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung aktiv. Im Verlauf von 50 Jahren hat die UFT in New York City ein Netz von gewerkschaftlichen Interessenvertretern aufgebaut. In dieser Dichte und Spezialisierung wohl einmalig: Allein in New York City arbeiten über 1000 Hauptamtliche. Darunter Lila Ezra, die Mitgliedern psychologische Unterstützung bietet. Oder Ellen Procida, die in letzter Instanz jene Lehrer vertritt, die ihre Lehrerlaubnis verlieren könnten. Einige Dutzend UFT-Hauptamtliche verwalten die Pensionsfonds, andere kümmern sich um das Vertragsnetz von Zahnärzten oder um marode Schulgebäude. Diese Gewerkschaft ist Personalrat, Sozialversicherung, Rechtsbeistand, Weiterbildungsinstitution, Stadtteilgruppe und politischer Arm in einem. Wir treffen sogar einen speziellen UFT-Betreuer für diejenigen New Yorker Lehrer, die verhaftet wurden.

"Gibt es Gewalt?", fragen wir Dave Kazansky. "Die Probleme sind nicht in den Schulen, sondern außerhalb", sagt er und signalisiert: Wir haben die Schulen im Griff. Auch wenn es schon mal vorkomme, dass Jugendliche mit Regenschirmen aufeinander losgehen. Etwas anderes haben die auch nicht in den Hosentaschen. Wer eine Schule in New York betritt, geht durch einen Metalldetektor. Dahinter sitzt eine blau-uniformierte Polizistin der "School Police". In manchen Schulen sind zwei, in anderen auch 18 Polizisten präsent. Das ist normal. So normal wie die Tatsache, dass in jedem Klassenzimmer die amerikanische Flagge gegrüßt wird. In allen Fluren hängen Verhaltensregeln: Respekt, Rücksichtnahme, kein Herumlärmen, keine Baseballkappen, keine Handys. In einer Schule in Brooklyn verlassen 12-Jährige in Zweierreihe das Klassenzimmer, um in die Schulkantine zu gehen. Die räumliche Enge zwingt zu Disziplin.
 
EIN TAG IN HARLEM_ Wir fahren durch Manhattan: Von der 125. Straße geht es drei Blocks weiter zur Hernandez Elementary School, einer öffentlichen Grundschule. Schuldirektorin Karen Melendez-Hutt steht in der Bibliothek, herzlich umrahmt von ihren Kolleginnen. 80 Prozent der Schüler sind schwarz. Als Melendez vor zehn Jahre diese Grundschule in Harlem übernahm, bekam sie Beileidsbekundungen, und die Eltern waren aufgebracht, dass sie, die neue Schuldirektorin, eine Weiße ist. Es war eine "Struggling School", die Kinder konnten weder lesen noch schreiben, sie waren aggressiv, und auch die Erwachsenen wurden handgreiflich, berichtet Karen Melendez.

Wie hat sie es geschafft, die Schule zum Guten zu verändern, fragen die Berliner Lehrer. Melendez zeigt auf ihre Kolleginnen und sagt: "Ich bin nicht der Boss, ich unterstütze meine Kolleginnen." Zum Leitungsteam der Schule gehören auch die Eltern- und der Gewerkschaftsvertreter. Der lobt ihre kooperative und menschenfreundliche Art.

Mrs. Melendez Schule bekommt Extra-Finanzmittel für Schulen in sozialen Brennpunkten. Damit finanziert sie Hilfslehrer und Sozialarbeiter, denn um viele der Schüler müsse man sich besonders kümmern, sagt sie. Beim Rundgang sehen wir in einem "Guidance Room" einen Rapper mit einem Zirkushut, der mit einem 10-jährigen Jungen Schach spielt. Der Junge hatte heute Morgen eine Krise, er wurde aus der Klasse genommen und wird nun individuell betreut. In machen Klassen arbeiten ständig zwei Hilfslehrerinnen mit. Da können die Berliner nur staunen. Doch ohne das Teacher Center der Gewerkschaft im Haus, ohne die systematische Weiterbildung der Lehrer hätte diese öffentliche Grundschule in Harlem keine Bestnoten erhalten, sagt die Schulleiterin.

Anerkennung erhält sie dafür nicht wirklich. "Die Regierung meint, dass die öffentlichen Schulen ihren Job nicht gut machen, das ist nicht richtig", sagt Melendez unbeirrt freundlich. Im Stockwerk darüber hat eine Charter School eröffnet. Vom Treppenhaus aus können wir einen Blick hineinwerfen: helles Licht, schöne Möbel und Räume. "Sie picken sich die besten Schüler raus, und wir haben nicht die Wahl", sagt eine Lehrerin bitter.

STRAFE UND UNTERSTÜTZUNG_ Auch der Wingate Campus in Brooklyn war ein Brennpunkt-Schulkomplex. "Wie motiviert ihr die Schüler zu ordentlichem Verhalten?", fragt die Neuköllner Lehrerin Lenka Kesten, die viele arabisch-türkische Schüler hat, von denen einige stören und auf den Boden spucken. Ben Shuliver, der junge, förmlich gekleidete Schulleiter der "Highschool of Public Service", antwortet: "Wir bieten Sicherheit und fordern Disziplin. Wenn ein Jugendlicher aggressiv ist, wird er sofort bestraft, die Eltern informiert. Aber wir geben auch sofort Unterstützung. Schulische Sozialarbeiter und individuelle Begleiter kümmern sich um die Jugendlichen. Bereits wenn sich Konflikte aufbauen, reden wir mit den Schülern", sagt Shuliver. Die Schule bietet einen Schutzraum jenseits einer von Armut und Gewalt geprägten Außenwelt. Und eine starke Schulgemeinschaft, in der jeder Schüler einen Vertrauenslehrer hat. "Die Finanzmittel, die wir pro Schüler erhalten, investiere ich in Lehrer, so können wir die Klassen verkleinern", sagt Ben. "Teamwork ist in dieser Lage das Wichtigste. Wenn der Schulleiter die Autorität nicht kollegial teilt, haben alle verloren", ergänzt der gewerkschaftliche Vertrauenslehrer.

Die Deutschen erzählen von der Debatte um Migranten und Integration in ihrem Land. Dazu sagt eine New Yorker Lehrerin erstaunt: "Wir sind zu 100 Prozent Immigranten." Und Tony Sclafani, der mit seiner Großmutter noch Italienisch sprach, meint: "Unser Schulwesen gibt es seit 170 Jahren. Seitdem haben wir nichts anderes getan, als Immigranten zu erziehen und zu integrieren - in unseren öffentlichen Schulen."

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