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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW „Wir brauchen ein Bildungssystem ohne Sackgassen“

Ausgabe 04/2012

INTERVIEW Andrä Wolter, Hochschulforscher an der Berliner Humboldt-Universität, über die Gleichwertigkeit von Berufserfahrung und Abitur und über einen Beschluss der Kultusminister, der die bildungspolitische Landschaft verändert hat.

Mit Professor Wolter sprachen GUNTRAM DOELFS und MARGARETE HASEL in Berlin./Fotos: Rolf Schulten

Alle Prognosen prophezeien mittelfristig weniger Studierende bei einem gleichzeitig wachsenden Bedarf an hoch qualifizierten Arbeitskräften. Doch trotz jahrzehntelanger Debatte über die Öffnung der Hochschulen stagniert die Zahl der Studierenden des dritten Bildungsweges bei einem Prozent.
Das ändert sich gerade. In der Tat war es so, dass der Anteil dieser Studierenden bis zum Jahr 2009 an den Universitäten nahezu konstant bei rund einem Prozent lag. Für das Jahr 2010 beobachten wir erstmalig einen Anstieg auf durchschnittlich zwei Prozent, an den Fachhochschulen auf 2,5 Prozent. Vorläufige Schätzungen für das Jahr 2011 deuten darauf hin, dass die Zahlen weiter steigen. Das ist noch nicht der große Durchbruch, aber ein bildungspolitischer Fortschritt.

Was ist der Grund für die steigenden Zahlen?
Dass erstmalig eine gewisse Dynamik auf niedrigem Niveau eingesetzt hat, liegt primär am Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) aus dem Jahr 2009. Dort wurde eine Erweiterung des Kreises der Studienberechtigten vorgenommen. So erhalten alle Absolventen beruflicher Fortbildungsprüfungen, also Meister, Techniker oder Fachwirte, generell die allgemeine Hochschulreife. Zudem erhalten alle Absolventen einer qualifizierten Berufsausbildung eine fachgebundene Hochschulreife, wenn erlernter Beruf und gewähltes Studienfach miteinander korrespondieren.

Wie hoch ist das Potenzial des dritten Bildungsweges nach dem KMK-Beschluss?
Wir haben derzeit über Gymnasium und Fachoberschulen eine reguläre Studienberechtigtenquote von knapp unter 50 Prozent. Und wir haben jedes Jahr rund 100 000 Absolventen beruflicher Fortbildungsprüfungen in Deutschland sowie eine weit größere Zahl derjenigen, die eine qualifizierte Berufsausbildung mit Abschluss besitzen und über das Kriterium mehrjährige Erwerbstätigkeit verfügen. Daher ist das Potenzial gewaltig angewachsen. Es dürfte – vorsichtig geschätzt – in den jüngeren Alterskohorten bei 70 Prozent in einem Jahrgang liegen. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass auch alle ein Studium aufnehmen.

Damit hat das Abitur als wichtigster Zugang zur Hochschulreife nicht ausgedient?
Nein, in Deutschland steht nach wie vor das Modell Gymnasium, Abitur, Studienaufnahme im Vordergrund. Hierzulande erwirbt man Studierfähigkeit dem vorherrschenden Verständnis nach immer noch am Gymnasium, aber nicht in der beruflichen Bildung. Die Frage, ob Berufstätige ohne Abitur studierfähig sind, beantwortet noch immer ein Großteil der Hochschullehrer, der Gymnasiallehrerschaft und des Bildungsbürgertums negativ.

Zugleich müssen wir ernüchtert konstatieren, dass die Idee, allein über die Bildungsexpansion mehr junge Menschen zur Hochschulreife zu führen und dadurch eine größere gesellschaftliche Durchlässigkeit, aber auch die erforderlichen Qualifikationen zu erreichen, wohl ein Mythos war.
Das war in der Tat ein Stück weit ein Mythos. Die Hochschulexpansion hatte ihre Basis vor allem darin, dass die traditionellen Bildungsschichten die neuen Möglichkeiten voll ausschöpften. Wir beobachten einen sehr hohen Anteil akademischer Selbstreproduktion und gleichsam eine kulturelle Vererbung des Bildungsstatus. Im universitären Bereich kommen rund 60 Prozent der Studierenden aus einem Elternhaus, wo zumindest ein Elternteil über einen Hochschulabschluss verfügt. Auch an den Fachhochschulen ist der Anteil akademischer Selbstreproduktion sehr hoch. Die anderen 40 Prozent stehen dagegen für einen Aufstieg durch Bildung – wir sprechen heute oft von „first generation“.

Wird die Öffnung der Hochschule für Berufserfahrene diese Dominanz der akademischen Selbstreproduktion überwinden?
Nein, dazu sind die Zahlen einfach zu gering.

Bedeutet der KMK-Beschluss mehr Bildungs- und Chancengerechtigkeit?
Ich unterscheide zwischen sozialer Öffnung der Hochschule und der Öffnung für Berufstätige. Natürlich gibt es da eine kleine Schnittmenge. Aber allein über eine stärkere berufliche Öffnung schaffen wir die soziale Öffnung der Hochschule nicht. Wenn wir mehr soziale Öffnung wollen, müssen wir stärker am ersten Bildungsweg ansetzen. Wir müssen mehr Kinder aus Arbeitnehmerfamilien und aus den sogenannten bildungsfernen Schichten zum Abitur bringen. Und dafür sorgen, dass sie auch studieren. Die eigentliche soziale Selektion findet nicht beim Hochschulzugang statt, sondern im Schulsystem. Die andere Frage ist, wie wir mehr qualifizierte Berufstätige an die Hochschule bekommen.

Und wie?
Dass die Meisterprüfung als allgemeine Hochschulreife gewertet wird, ist bildungspolitisch ein wichtiger Schritt, der die hohe Anerkennung der Meisterprüfung deutlich macht. Zugleich aber ist die Annahme, dass jetzt alle Meister ein Hochschulstudium aufnehmen, fern der Realität. Die Karriereperspektiven von Absolventen beruflicher Fortbildungen zielen in der Regel nicht auf ein Studium. Gleichwohl hat der KMK-Beschluss die bildungspolitische Landschaft verändert. Der Kreis derjenigen, die für eine Öffnung der Hochschulen eintreten, ist größer geworden.

Gewerkschaften fordern diese Öffnung schon lange. Nun auch die Wirtschaftsverbände. Woher kommt dieses neu erwachte Interesse der Wirtschaft?
Das hat viel mit dem befürchteten Fachkräftemangel zu tun. Die Unternehmen haben ein großes Interesse, dass es zu einer Gleichstellung der beruflichen Bildung mindestens mit dem Abitur kommt.

Basiert der Schwenk auch auf gesellschaftspolitischer Einsicht?
Die Arbeitgeber befürchten tatsächlich mittel- bis langfristig ein Unterangebot an hoch qualifizierten Arbeitskräften. Aber auch die Debatte um einen europäischen wie nationalen Qualifikationsrahmen spielt eine Rolle. Gerade in den vergangenen Wochen gab es eine massive Auseinandersetzung um die Einordnung der beruflichen Bildung im Verhältnis zum Abitur. Da haben Gewerkschaften und Arbeitgeber durchaus ähnliche Positionen vertreten. Innovationsstarke Unternehmen mit einem hohen Weiterbildungsbedarf sehen, dass wir einen Typus von Innovation haben, bei dem wir eine gerade noch vorakademische und eine schon akademische Qualifikation immer weniger unterscheiden können. Deswegen ist die Möglichkeit einer akademischen Weiterbildung auch für Beschäftigte, die nicht akademisch vorqualifiziert sind, in ihrem Interesse.

Die Antwort auf die Veränderungen in der Arbeitswelt heißt Akademisierung?
Die Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt und im Beschäftigungssystem sind dramatisch. Und die Trends sind ziemlich klar: Ein immer größerer Teil der Wertschöpfung wird im Dienstleistungsbereich erzeugt, immer mehr Beschäftigte arbeiten in diesem Sektor. Hinzu kommt eine Verschiebung von den einfachen Dienstleistungen hin zu komplexen, humankapitalintensiven Dienstleistungen. Derselbe Prozess findet auch im industriellen Bereich statt, wo der Anteil etwa von Ingenieursarbeit wächst. In der Summe nimmt der Anteil hoch qualifizierter Arbeit zu, während der Anteil herkömmlicher Facharbeit stagniert.

Ein Beispiel dafür ist der Gesundheitssektor.
Wir beobachten ein Upgrading in vielen Berufsfeldern. Vor allem dort, wo es ohnehin eine schulische Berufsausbildung gibt, werden berufliche Tätigkeiten durch Hochschulqualifikation angereichert. Das ist im Gesundheitswesen der Fall, wo für nichtärztliche Gesundheitsberufe mehr und mehr Studiengänge, beispielsweise für Pflegemanagement, angeboten werden. Bei den Erzieherinnen beobachten wir ebenfalls eine Akademisierung der Ausbildung, was viel mit der geänderten Bewertung des frühkindlichen Bereiches zu tun hat. Dieser gilt nicht länger als Aufbewahrungsort, sondern hat einen Bildungs- und Lernauftrag. Dazu braucht man anderes Personal mit anderen Qualifikationen.

Dafür war bislang das System der dualen Berufsausbildung zuständig, das seine Absolventen einen attraktiven Arbeitsplatz hat finden lassen. Stößt es an Grenzen?
Es ist kein Zufall, dass die europaweite Diskussion über einen Europäischen Qualifikationsrahmen – zusammen mit dem Bologna-Prozess und und vor allem mit seinem Pendant im Sektor der beruflichen Bildung, dem Kopenhagen-Prozess – eine neue Dynamik in Deutschland erzeugt hat. Im internationalen Vergleich gibt es Hochschulsysteme, die den Zugang über schulische Zertifikate steuern, zum Beispiel in Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Und es gibt Systeme, die den Hochschulzugang über Aufnahmeprozeduren an den Hochschulen steuern. Diese tun sich in der Regel leichter, auch beruflich erworbene Kompetenzen zu akzeptieren. Und wir haben Hochschulsysteme, die schon immer stärker Weiterbildung als Teil ihres Ausbildungsauftrages aufgefasst haben. Ein Beispiel ist Schweden. In Bezug auf die Öffnung gegenüber Berufstätigen waren diese Länder immer offener als Hochschulen in Deutschland.

Die Antwort auf die Akademisierung der Arbeitswelt ist die Verberuflichung der Hochschulen?
Eine wichtige Aufgabe wird sein, Ausbildungsstrukturen zu schaffen, in denen die Lernorte Betrieb und Hochschule kooperieren. So, wie wir es heute in dualen Studiengängen haben. Wir sind noch viel zu sehr von der alten Idee besessen, ein Studium sei nur dann erfolgreich, wenn am Ende ein Hochschulabschluss steht. Stattdessen müssen wir stärker in modularisierten Zertifikatsstrukturen denken. Die Hochschulen müssen in Zukunft für Berufstätige auch unterhalb der Abschlussebene von Bachelor und Master ergänzend zur zuvor absolvierten Berufsausbildung Zertifikate anbieten, die ein ein- oder zweijähriges Studium ermöglichen. Und diese Studiengänge müssen nach oben offen sein. Sie müssen ermöglichen, dass man später mittels weiterer Module einen regulären Hochschulabschluss erreichen kann.

Das setzt eine Erweiterung des Angebots an den Unis voraus.
So ist es. Das bedeutet mehr berufsbegleitendes Studieren, Teilzeitstudiengänge, eine stärkere Nutzung technologiebasierter Lernmöglichkeiten wie Fernstudium. Die Online­welt und die Präsenzwelt an den Hochschulen müssen näher zusammenrücken. Traditionell hat das die FernUni Hagen abgedeckt, inzwischen engagieren sich mehr und mehr einzelne Unis und vor allem Fachhochschulen. Auch Stellungnahmen der Hochschulrektorenkonferenz signalisieren ein Umdenken.

Wie können wir uns die offene Hochschule der Zukunft vorstellen?
Eine moderne Hochschule muss sich als Einrichtung des lebenslangen Lernens definieren. Sie muss den zeitlichen Horizont ihrer Klientel erheblich öffnen. Traditionell ist es so, dass Hochschulen auf die Zielgruppe der 18- bis 25-Jährigen für die Erstausbildung gucken. Das wird immer weniger hinreichen. Das beginnt schon vor dieser Zeitspanne, weil sich Hochschulen immer mehr im Bereich der schulischen Vorbereitung auf ein Studium engagieren und Angebote für jüngere Altersgruppen machen. Das setzt sich vor allem aber oberhalb dieser Altersspanne fort, weil zukünftig mehr Erwerbstätige im Alter von 30 bis 35 Jahren für ein Studium oder zum Erwerb von Zertifikaten an die Hochschulen kommen werden. Hochschulen müssen zu alterspluralen Einrichtungen werden – einschließlich des nachberuflichen Bereichs.

Um den Beschluss der Kultusministerkonferenz mit Leben zu füllen, wurde im vorigen Jahr vom Bundesbildungsministerium der Wettbewerb „Aufstieg durch Bildung: offene Hochschulen“ aufgelegt. Sie sind Mitglied in einem der drei wissenschaftlichen Begleitteams. Welchen Erkenntnisgewinn versprechen Sie sich?
Ich verspreche mir einen doppelten Erkenntnisgewinn. Zum einen werden wir so etwas wie „Best Practices“ analysieren und entwickeln, an denen sich andere Hochschulen orientieren können, die jetzt nicht in der Projektförderung sind, aber auf diesem Gebiet initiativ werden wollen. Zum anderen gilt es, die Erfolgsbedingungen für die Implementierung offener Studienformate an den Hochschulen zu identifizieren.

Wen haben Sie dabei im Auge?
Lebenslanges Lernen, wie es in der internationalen bildungspolitischen Diskussion verstanden wird, ist ein Konzept, das offene, durchlässige, flexible Strukturen im Bildungssystem von der Schule bis zur Weiterbildung schaffen will – Strukturen, die anknüpfungsfähig sind, die Ausstiege und Wiedereinstiege ermöglichen und keine Sackgassen enthalten. Vor diesem Hintergrund haben wir zum einen Berufsgruppen im Auge, die sich durch eine relativ enge Abstimmung zwischen Ausbildungsberuf und Studiengang auszeichnen, eine Kontinuität, die Anrechnung beruflicher Kompetenzen ermöglicht. Außerdem denken wir an Bereiche, in denen sich die Segmentierung zwischen akademisch und nicht akademisch auflöst, wie in manchen Gesundheitsberufen. Vergleichbares gibt es auch im technischen, kaufmännischen und erzieherischen Bereich. Doch lebenslanges Lernen meint auch, dass die Aufnahme eines Studiums die Chance für einen Berufswechsel und eine berufliche Neuorientierung eröffnen kann.

Wie realistisch ist diese Vision?
Angesichts der dynamischen Arbeitslandschaft würden sich Hochschulen auf Dauer von wesentlichen gesellschaftlichen Entwicklungen abschneiden, wenn sie darauf nicht flexibel reagieren. Auch ist der innere Zwang des Hochschulsystems enorm, sich zu verändern. Es gibt mehr und mehr private Konkurrenten, die vorangehen. Auch der Typus des Studierenden verändert sich. Und nicht zuletzt verändern sich die Bedarfe des Arbeitsmarkts- und Beschäftigungssystems. Es gibt daher wirksame Kräfte, die die Hochschulen in diese Richtung lenken. Ich sehe den KMK-Beschluss von 2009 bis zum Jahr 2025 mit Leben erfüllt. Danach werden die Studierendenzahlen in ganz Deutschland, nicht nur in einzelnen Regionen, so dramatisch zurückgehen, dass sich die Hochschulen im Eigeninteresse weit öffnen müssen.

Zur Person

Andrä Wolter, 61, ist einer der profiliertesten Bildungsforscher in Deutschland. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen neben der Hochschulforschung das Bildungsmonitoring und das lebenslange Lernen, zu dessen wissenschaftlichen Hauptförderern der Erziehungswissenschaftler zählt. Bis 2010 arbeitete er als Professor für Organisation und Verwaltung im Bildungswesen an der TU Dresden; von 2004 bis 2006 leitete er zudem die Abteilung Hochschulforschung bei der Hochschul-Informations-System GmbH (HIS) in Hannover. Seit 2010 hat Wolter einen Lehrstuhl für „Erziehungswissenschaftliche Forschung zum Tertiären Bildungsbereich“ an der Berliner Humboldt-Universität.

Wolter zählt zu den Autoren des Nationalen Bildungsberichtes und koordiniert (zusammen mit Anke Hanft, Oldenburg, und Ada Pellert, Berlin) seit Ende 2011 im Auftrag des Bundesbildungsministeriums die wissenschaftliche Begleitung des Programms „Aufstieg durch Bildung: offene Hochschulen“, mit dem das Ministerium an derzeit 26 Hochschulen und Hochschulverbünden die Einrichtung von Studienprogrammen für Berufstätige fördert. Im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, der er auch als Vertrauensdozent verbunden ist, hat er in einer Studie die Bildungs- und Berufswege ihrer Stipendiaten untersucht („Die etwas andere Bildungselite“, Klinkhardt Verlag 2009).

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