Altstipendiatin: Die St.-Paulianerin
Die Soziologin Tanja Bogusz studierte in Hamburg, Berlin und Paris und erhielt mit der Aufnahme ins Heisenberg-Programm eine der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnungen. Die Geschichte ihrer Familie verschwieg sie lange in ihrem akademischen Umfeld, bis sie ein Buch über ihre Kindheit auf St. Pauli schrieb. Von Fabienne Melzer
Ihre Mutter hatte es Tanja Bogusz fest eingeprägt: Sie solle in der Schule niemandem erzählen, dass sie und die Großmutter auf St. Pauli arbeiten. Als Kind nahm sie es einfach hin. Sie wusste nichts vom Stigma des Hamburger Viertels in den 1970er Jahren. Sie war hier groß geworden zwischen Davidwache und der Großen Freiheit, Tante Martha und Schlachter Jantzen. Die Unsicherheit kam erst später, in der Pubertät. „Erst da fiel mir auf, dass meine Kindheit anders war.“ Es war eine andere, aber keine schlechte Kindheit. „Es gab sehr viel Liebe und schillernde Erlebnisse“, erinnert sich die Soziologin.
Ihre Großmutter kam aus den Niederlanden, war beim Zirkus und arbeitete als Ringkämpferin auf St. Pauli. Ihre Mutter war Bardame im Hotel Luxor. Als Tanja Bogusz dann 2020 zurück nach Hamburg kam, fasste sie einen Entschluss: „Ich hatte das Gefühl: Jetzt ist mal gut. Ich bin über 50 und kann über meine Mutter und Großmutter sprechen.“ In ihrem Buch „Das Mädchen mit dem Heiermann“ erzählt sie ihre Geschichte vom Großwerden auf St. Pauli, vom Studium in Hamburg, Berlin und Paris, von Promotion und Gastprofessuren. Das Buch schaffte es 2024 auf die Spiegel-Bestsellerliste.
Zurzeit arbeitet die Professorin an einem Forschungsprojekt an der Universität Hamburg zur Frage, wie Natur- und Sozialwissenschaften in der ökologischen Krise besser zusammenarbeiten können. Daten allein bewegen Gesellschaften nicht zum Umdenken. Die Soziologin fragt: Wie können wir die ökologische Situation entschärfen und gleichzeitig sozial so austarieren, dass die Menschen auch mitgehen wollen? Eine besondere Auszeichnung erhielt sie im Oktober 2024: Sie wurde in das Heisenberg-Programm der Deutschen Forschungsgesellschaft aufgenommen. Es unterstützt nicht nur Forschung, es finanziert auch für fünf Jahre eine Professur. „Um meine Zukunft muss ich mir keine Sorgen mehr machen“, meint Tanja Bogusz erfreut.
Ein Studium konnte sie sich nach dem Abitur gar nicht vorstellen. Sie wollte etwas Handfestes lernen und machte eine Ausbildung zur Industriemechanikerin. Ein Job als Teamerin für den DGB im deutschfranzösischen Austausch von Auszubildenden und das Zusammenwachsen von Europa ließen sie schließlich umdenken.
„Ich wollte europäische Referentin für den gewerkschaftlichen Austausch werden“, erzählt Tanja Bogusz. Da sie schon in der IG Metall aktiv war, bekam sie eine Empfehlung für die Hans-Böckler-Stiftung und schließlich ein Stipendium.
Ohne diese Unterstützung hätte sie sich das Studium in Paris nicht leisten können und sie wäre dem Soziologen Pierre Bourdieu wahrscheinlich nie persönlich begegnet. „Er war ein Augenöffner. In meinem akademischen Umfeld hatte ich immer das Gefühl: Ich bin hier nicht richtig! Was ich bis dahin nur empfunden hatte, hat er wissenschaftlich erklärt.“ Nun konnte sie ihre Erfahrung soziologisch einordnen und auch ihren Wunsch, sich an die bürgerliche Lebenswelt anzupassen.
Diesen Drang verspürt sie nicht mehr. „Seit ich das Buch geschrieben habe, fühle ich mich rund. Es macht doch etwas mit einem, wenn man sein ganzes Leben lang einen Teil seiner Geschichte verschweigt“, sagt Tanja Bogusz. Sie wollte auch eine andere Sozialgeschichte über St. Pauli erzählen. Das mediale Bild vom Kiez sei oft einseitig. Frauen tauchen darin meist als Abhängige auf – was so gar nicht zu ihrer Mutter und Großmutter passt. „Sie haben ihr Leben immer aktiv gestaltet. Das habe ich von ihnen gelernt, sonst wäre ich auch
nicht so weit gekommen“, sagt Tanja Bogusz. St. Pauli ist für sie die beste soziologische Grundschule, die man sich vorstellen kann.