Altstipendiatin: Die Arbeitssoziologin
Als Modems noch krächzten, ahnte Tanja Carstensen schon: Das sagenumwobene Internet wird das Berufsleben umkrempeln. Heute klärt die Professorin Studierende über digitale Arbeit auf. Von Jeannette Goddar
Das Internet war in den 90er Jahren nur über ein fiependes Modem erreichbar, Tanja Carstensen war 25 Jahre alt und hatte sich gerade ihren ersten PC geleistet. Im Seminar zu Technikgeschichte entwarf sie im letzten Referat des Semesters an der Universität Hamburg ein Szenario, wie der Computer unser Leben verändern würde. „Ein faszinierender Gedanke“, sagt sie, „und einer, der Weichen stellte.“
Nun ist bereits die Frage, wie Technik den Alltag prägt, für eine angehende Soziologin eine große. Tanja Carstensen blickte schon bald hinter den nächsten Vorhang: Wie glauben Menschen, Medien und Experten, dass sich Alltag und Arbeitswelten verändern werden? Sind Computer und Internet für die Menschheit ein Riesenschritt nach vorn – oder Quelle massiver Spaltung und Ungleichheit?
„Schon damals wurden beide Positionen schnell vertreten, oft verknüpft mit enormer Mythifizierung, ähnlich wie wir es heute beim Thema Künstliche Intelligenz erleben“, sagt Tanja Carstensen. In ihrer Dissertation, die von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde, untersuchte sie die damalige Diskussion dazu in Gewerkschaftszeitungen. „Schon als Nebenjobberin im Kino, während meines Studiums, bin ich in die damalige IG Medien eingetreten. Meine Nähe zur Gewerkschaft war immer groß“, sagt sie.
Nach der Dissertation führte die Soziologin ihr Weg über verschiedene Hochschulen schließlich nach Chemnitz. Eine Stadt, die sich in diesem Jahr einerseits als kreative und vielfältige europäische Kulturhauptstadt präsentiert, in der andererseits bei Montagsdemos Menschen zur deutschen Nationalhymne durch die Straßen ziehen, gegen Migration wettern und Fahnen rechter Gruppierungen schwenken. „Chemnitz ist eine Stadt voller Ambivalenzen. Auf den zweiten Blick ist Chemnitz eine wirklich spannende Stadt“, sagt Carstensen.
Seit 2024 hat sie an der TU Chemnitz eine Professur für Soziologie mit dem Schwerpunkt Arbeit, Wirtschaft und Organisation inne. „An eine technische Universität zu kommen, die einen Masterstudiengang Digitale Arbeit anbietet, war immer mein Traum.“
Worum es in dem Studium geht, erklärt die Uni so: „Arbeit mit digitalen Technologien, Arbeit an digitalen Technologien, Arbeit in digitalen ‚Räumen‘, Arbeit, die von digitalen Technologien ausgeführt wird“. 8000 Studierende zählt die Uni. In Hochschulrankings äußern sie sich überwiegend zufrieden.
Bis 2022 leitete die Arbeitssoziologin das von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Forschungsprojekt „Gender, Künstliche Intelligenz und die Arbeit der Zukunft“. Darin widmete sie sich der Frage, wie KI mit Blick auf Geschlechterfragen in der öffentlichen Debatte dargestellt wird. „Auch hier gibt es zu vielen Narrativen Gegennarrative“, so die Soziologin. Ein Beispiel: Einerseits heißt es, KI bietet Potenziale für Chancengleichheit, Geschlechtergerechtigkeit und gute Arbeitsbedingungen. Andererseits wird befürchtet, dass zuerst Frauenarbeitsplätze durch KI ersetzt werden und sich Diskriminierung verschärft.
Umso wichtiger, dass die Arbeitswelt gestaltet wird, etwa durch Betriebsvereinbarungen. Die Vielfalt der Bedürfnisse zu berücksichtigen, ist indes nicht einfach: „Jedes Gespräch im Bekanntenkreis zeigt ja, wie unterschiedlich die Haltungen etwa zu mobiler Arbeit und Homeoffice sind“, erzählt sie. „Dem gerecht zu werden, ist eine Herausforderung“. Hier „handlungsrelevantes Wissen bereitzustellen“, beschreibt die 53-Jährige als ihre Aufgabe. Dass sie das immer wieder zur Stiftung führt, für die sie auch Vertrauensdozentin ist, ist nicht nur ihrem Alumna-Dasein geschuldet. „Die Stiftung bietet der Arbeitssoziologie einen exzellenten Rahmen, um sich zu vernetzen. Da fühle ich mich gut aufgehoben.“