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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Die Zivilgesellschaft muss ihre Stimme erheben'

Ausgabe 12/2006

Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz ist einer der einflussreichsten Kritiker des Globalisierungsmanagements. Damit die Globalisierung die Hoffnungen erfüllen kann, die an sie geknüpft werden, schlägt er eine umfassende Reformagenda vor.



Joseph Stiglitz trafen Margarete Hasel und Herbert Hönigsberger im Deutsch-Amerikanischen Institut (DAI) in Heidelberg.


Wir registrieren, dass Sie die Globalisierungskritik in Ihrem neuen Buch vertieft und radikalisiert haben.
Mein Denken hat sich nicht verändert. In "Die Schatten der Globalisierung" konzentriere ich mich auf Weltbankthemen. Aber ich war mir anderer Fragen durchaus bewusst und auf vielen Gebieten schon immer sehr kritisch. Nur hatte ich keine Gelegenheit, alles niederzuschreiben. Ich habe mich nicht radikalisiert, aber konsistenter und umfassender formuliert.

Wer gewinnt, wer verliert bei der Globalisierung?
Es gibt große Gewinner und große Verlierer. Die westlichen Industrieländer gewinnen insgesamt, dazu China, Indien und die ostasiatischen Länder. Letztere bewältigen die Globalisierung mit einem historisch beispiellosen Wachstum. Auf der Verliererseite stehen die armen Länder Lateinamerikas und Afrikas. Gründe sind unfaire Handelsabkommen und Agrarsubventionen, die zu sinkenden Weltmarktpreisen für Agrargüter führen.

Die multinationalen Konzerne entziehen diesen Ländern natürliche Ressourcen und schädigen dabei ihre Umwelt. Und diese Länder haben weder die Technologien noch die Bildungsstandards, um aus der Globalisierung Nutzen zu ziehen. Das Management der Globalisierung benachteiligt sie in jeder Hinsicht. In den industrialisierten Ländern profitieren die Bezieher von Kapitaleinkommen am meisten. Und die gering qualifizierten Arbeiter verlieren. Sie wurden gezwungen, mit gering qualifizierten Arbeitern aus den Entwicklungsländern zu konkurrieren. Das drückt ihre Löhne unvermeidlich nach unten.

In Ihrem Buch machen Sie vor allem US-Unternehmen und wirtschaftliche Interessen der USA für die Schattenseiten der Globalisierung verantwortlich. Ist die Globalisierung ein amerikanisches Projekt?
Die USA tragen eine überproportionale Verantwortung für die Fehlschläge. Sie haben im IWF die Vetomacht. Von ihnen hängt ab, wie gut der IWF arbeitet. Und er hat nicht gut gearbeitet. Die USA sind nicht einmal bereit, dieses kleine Kyoto-Protokoll zu unterzeichnen. Sie haben zwar Bestechung für illegal erklärt, aber gegen die OECD-Initiative, das Bankgeheimnis zu beschränken, ihr Veto eingelegt.

Sie behindern den Kampf gegen die Korruption, anstatt die Führung zu übernehmen. Unter der Bush-Administration ist es schlimmer geworden. Die bilateralen Handelsabkommen dieser Regierung haben das ganze Welthandelssystem ausgehöhlt. Es war auf dem Prinzip der Nicht-Diskriminierung aufgebaut. Amerikas neues Handelsregiment gründet auf Diskriminierung. Dazu haben die USA die Schaffung des Asiatischen Währungs-Fonds torpediert.

Andererseits sind die Europäer nicht nur unschuldige Zuschauer. Sie unterstützen das schlechte System, nach dem die Spitzen von IWF und Weltbank ausgewählt werden. Selbst wenn sich jemand wie Paul Wolfowitz in hohem Maße mit dem Krieg im Irak identifiziert hat und nicht das Vertrauen der Weltbank genießt, gestehen sie den USA zu: Weil ihr uns beim IWF unterstützt habt, helfen wir euch bei der Weltbank.

Sie kritisieren den IWF als eine Art Zentralkomitee der negativen Globalisierung. Hat sich in Horst Köhlers Amtszeit von 2000 bis 2004 etwas an der IWF-Praxis geändert?
Der IWF hat Kreditnehmern hunderte überzogener Konditionen aufgezwungen, etwa: "Ihr müsst eure sozialen Sicherungssysteme in 90 Tagen reformieren." Diese Bedingungen haben die betroffenen Länder ihrer Souveränität beraubt. Mittlerweile wurden diese exzessiven Konditionen etwas abgebaut, längst nicht so weit wie nötig, aber immerhin. Früher tat der IWF so, als ginge ihn Armut nichts an. Kritiker scherzten: "Er hat sie ja erzeugt." Unter Köhler bekamen Strategiepapiere zur Armutsbekämpfung etwas mehr Gewicht.

Die Armut rückte mehr ins Zentrum der Diskussion. 2003 publizierte der IWF eine Studie, mit der eigentlich die Kapitalmarktliberalisierung weiter vorangetrieben werden sollte. Doch es gibt keinerlei empirische Belege, dass diese Liberalisierung das Wirtschaftswachstum befördert. Dagegen gibt es beträchtliche Belege, dass sie zu Instabilität führt. Und die Studie sagte: Jawohl, das ist richtig. Das war ein bemerkenswertes Eingeständnis, dass frühere IWF-Konzepte falsch waren. Die Politik wurde allerdings nicht so weit geändert, wie es diese Einsichten nahelegten. Schon immer und überall hat der IWF Probleme der Regierungsführung beklagt.

Aber er hat seine eigenen Führungsprobleme. Auch da wurde begonnen, etwas zu ändern, nur wieder nicht weit genug. Noch immer haben die USA ein Vetorecht. Noch immer betreibt der Weltbankpräsident eine Informationspolitik, die demokratischen Prinzipien spottet. Jetzt konzentriert sich der IWF stärker auf globale Ungleichgewichte. Aber mit der Vetomacht USA als Hauptquelle weltwirtschaftlicher Disparitäten ist kaum zu erwarten, dass Bemerkenswertes herauskommt. Doch immerhin liegt das Problem auf dem Tisch.

Was Sie Marktfundamentalismus nennen, hat zu den negativen Trends der Globalisierung erheblich beigetragen. Welche Bedeutung hat diese Strömung noch?
In der Wissenschaft von der Ökonomie akzeptiert das niemand mehr.

Außer in Deutschland.
In den Wirtschaftswissenschaften akzeptieren alle, dass Märkte - bleiben sie sich selbst überlassen - nicht notwendigerweise effiziente Resultate produzieren. Ganz offensichtlich gibt es Marktversagen. Wann immer unvollständige, das heißt asymmetrische Information vorliegt, sind Märkte nicht effizient. Also immer! Denn unvollständige, asymmetrische Information liegt immer vor. Das ist allgemein akzeptiert. Aber wenn sie Ratschläge erteilen, mutieren viele Wirtschaftswissenschaftler zu Politikwissenschaftlern und nicht notwendigerweise zu guten.

Nur als solche können sie sagen, Märkte versagen, aber Regierungen auch. Und deshalb sind Regierungen nicht fähig, Marktversagen zu korrigieren. Aber das sind keine wirtschaftswissenschaftlichen Aussagen. Das sind Aussagen über politische Prozesse. Viele deutsche Ökonomen haben ihren Hut als Wiisenschaftler an den Nagel gehängt und sich einen politischen Hut aufgesetzt. Niemand kann ernsthaft behaupten, dass es für Regierungen keine wichtige Rolle gäbe. Jeder halbwegs Vernunftbegabte muss zu dem Schluss kommen, dass etwas wie ein dritter Weg notwendig ist. Es ist nicht die Frage, ob Regierungen eine wichtige Rolle spielen sollten. Diese Rolle ist vielmehr sorgfältig zu justieren.

Sie haben über 100 Einzelvorschläge für Reformen unterbreitet. Was ist die unverzichtbare Maßnahme, ohne die sich die Globalisierung nicht in eine wünschenswerte Richtung steuern lässt?
Die allererste und wichtigste Maßnahme ist: Die Globalisierung demokratisieren! Die Demokratisierung der Märkte hat die Marktwirtschaft zum Laufen gebracht. Die Demokratie hatte mit der Reform der Marktwirtschaft Erfolg. Wenn wir die Globalisierung in derselben Weise demokratisieren, dann funktioniert sie besser. Nicht perfekt, aber besser. Das ist die Reform, die alle anderen überwölbt.

Die Agenda der Demokratisierung heißt, den IWF, die WTO und die Weltbank reformieren. In einzelnen Politikfeldern und aus der Perspektive der Entwicklungsländer sind die wichtigsten Projekte eine faire Handelsrunde und eine Reform des globalen Finanzsystems, die sie weniger benachteiligt. Derzeit haben zahlreiche Länder Schulden, die sie nie bezahlen können. Das Problem sind kurzfristige Anleihen in harten Währungen. Deshalb müssen wir diesen Ländern erlauben, Kredite in ihren eigenen Währungen aufzunehmen oder in Währungen, die an ihre eigenen gekoppelt sind. Dann sind sie den Instabilitäten des Weltfinanzsystems nicht mehr in diesem Ausmaß ausgesetzt.

Was haben die einfachen Leute und die Arbeitslosen in Europa und den USA davon?
Die Globalisierung für die gering qualifizierten Arbeiter in den entwickelten Ländern fairer zu machen ist eine andere Agenda. Vier Dinge sind wichtig: Erstens eine Produktivitätsagenda mit dem Ziel, die Produktivität der Geringqualifizierten durch Bildung und technologischen Wandel zu erhöhen. Nur wenn ihre Produktivität steigt, können auch ihre Löhne steigen. Das Zweite ist eine Systemanpassung: Eine dynamische Ökonomie verlangt, schnell von einem Job in den anderen wechseln zu können.

Das erfordert eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die die Fähigkeit zur Jobmobilität erhöht. In den USA ist das ein außerordentlich schmerzvoller Prozess. Wenn man den Job verliert, verliert man die Gesundheitsversicherung, was verheerende Folgen haben kann. Drittens müssen wir sicherstellen, dass sich die Ökonomie auf Vollbeschäftigung zubewegt. Qualifizieren, wenn es keine Arbeitsplätze gibt, macht wenig Sinn. Es müssen Jobs her.

Da macht die makroökonomische Politik den Unterschied. Es bedarf einer starken makroökonomischen Politik. Und viertens müssen wir die Globalisierung symmetrischer gestalten. Wir haben die Kapitalmobilität mehr liberalisiert als die Arbeitsmobilität. In den USA wurden die Steuern für die Reichen viel mehr gesenkt als für die Armen. Obwohl die Reichen von der Globalisierung viel mehr profitiert haben. Diese Asymmetrie hat die Arbeiter benachteiligt.

Deshalb müssen wir unsere Steuersysteme und Sozialprogramme korrigieren. Komponenten wie negative Einkommenssteuer oder Kombilohn sollten ausgebaut werden, damit die Leute nicht nur Arbeit, sondern auch ein ausreichendes Einkommen haben. Wenn wir dies und mehr tun, bringt die Globalisierung auch den einfachen Menschen mehr.

Sie sagen oft: "Wir müssen etwas tun". Wer ist damit gemeint?
"Wir" meint alle, jedermann. Diese globale Agenda erfordert globales Handeln. Den USA als der bedeutendsten Ökonomie fällt eine wichtige Rolle zu. Ich hoffe, sie füllen diese Rolle bald mit größerer Führungskraft aus. Aber es sind auch die industrialisierten Länder gemeint. Nicht zuletzt schließt dieses "Wir" uns als Individuen, als Bürger, als Konsumenten ein.

Also keine Dinge kaufen, die die Probleme verschärfen, von Unternehmen soziale Verantwortung verlangen, Druck auf die Regierungen ausüben für Schuldenerlass und fairen Handel. Wir können Druck ausüben und unsere Regierungen dazu bewegen, sich für eine Agenda einzusetzen, die sich weltweit, aber auch in unseren Ländern stärker an sozialer Gerechtigkeit und Solidarität orientiert.

Sehen Sie in Amerika Kräfte, die sich Ihre Agenda zu eigen machen?
Es gibt Silberstreifen am Horizont hinter der Bush-Wolke. Die dramatischen Fehlschläge des Unilateralismus lassen die Amerikaner erkennen, dass wir nicht fähig sind, irgendein Problem allein zu lösen. Wir können aber nicht erwarten, dass andere mit uns kooperieren, wenn wir nicht selbst kooperationsbereit sind. Hier kommt das wohlverstandene Eigeninteresse Amerikas ins Spiel. Und schließlich gibt es jede Menge Amerikaner, die noch Idealismus haben. Dafür war Amerika immer bekannt, für den Glauben, von einem moralischen Standpunkt aus das Richtige tun zu können.

Daran glauben Sie?
Ja. Es gibt bei uns sehr viele Idealisten.

Auch die Gewerkschaften haben auf die Globalisierung reagiert und sich zu einem einzigen internationalen Dachverband zusammengeschlossen. Was raten Sie dem neuen Verband?
Die multinationalen Konzerne haben die Globalisierung erfolgreich zur ihren Gunsten organisiert und sie mit einer asymmetrischen Liberalisierungsagenda durchdrungen. Dazu benutzten sie neoliberale Versatzstücke, aber in der Regel ist ihre Ideologie handgestrickt und schlicht interessengeleitet. Obwohl die Weltbank und selbst der IMF dabei sind, ihre Praxis zu verbessern, sind keine Bemühungen erkennbar, die grundlegenden Arbeitnehmerrechte der ILO durchzusetzen.

Der IWF redet über Inflation, aber nicht über Arbeitslosigkeit. Bei der Kapitalmarktliberalisierung ist sicherzustellen, dass sie nicht zu asymmetrisch ausfällt. Und wenn es Asymmetrien gibt, dann sind Schutzmaßnahmen einzubauen. Das Mindeste ist, eine Debatte über die möglichen Folgen einer Kapitalmarktliberalisierung zu beginnen. Die globale Zivilgesellschaft muss die Stimme erheben. Die Arbeiterbewegung ist ihre wichtigste organisierte Einheit.

 

 


Joseph Stiglitz und sein Werk
Auf Märkten herrscht immer unvollständige, asymmetrische Information. Deshalb können Märkte nie jene effizienten Ergebnisse produzieren, die ihnen gemeinhin zugeschrieben werden. Märkte sind per se und aus sich heraus weder das einzigartige noch das optimale Steuerungsmodell wie es marktfundamentalistische Ideologen behaupten. Märkte funktionieren nur unter Voraussetzungen, die sie selber nicht schaffen können. Das ist der harte Kern der Stiglitzschen Forschungsresultate: "Die unsichtbare Hand des Marktes ist unsichtbar, weil es sie gar nicht gibt."

2001 wurde Joseph Stiglitz für seine empirisch fundierten Beiträge zur Ablösung des so genannten Gleichgewichtsparadigmas durch das Informationsparadigma mit dem Nobelpreis für Ökonomie ausgezeichnet. Nobelpreis-veredelt wurde damit der Nachweis, dass sämtliche Annahmen über die Effizienz von Märkten auf Modellen beruhen, die realitätsfern sind.

Der 63-jährige Wirtschaftsprofessor an der New Yorker Columbia-Universität ist heute einer der einflussreichsten Ökonomen. Renommierte Universitäten wie Yale, Princeton, Oxford und Stanford sind Stationen seiner Karriere. Er war Wirtschaftsberater von Bill Clinton und damit einer der wirtschaftlichen Vordenker des Dritten Weges. Und bis 2000 Chefökonom der Weltbank.

Vor diesem Erfahrungshintergrund überrascht wenig, dass Stiglitz die Globalisierung nicht als eine alles überrollende Naturgewalt wahrnimmt. Er kennt die maßgeblichen Akteure des Globalisierungsmanagements persönlich; er kennt die Stellschrauben, an denen sie gedreht haben. Und deshalb ist er der festen Überzeugung, dass andere Akteure und Stellschraubendreher der Globalisierung ein anderes, menschlicheres Gesicht geben können. Für Stiglitz ist die Globalisierung auch ein Produkt politischer Entscheidungen, die durch andere Entscheidungen anders gestaltet werden kann.

Wie in seinen Bestsellern "Die Schatten der Globalisierung" (2002) und "Die Roaring Nineties" (2004) weist Stiglitz auch in seinem jüngst erschienenen Buch "Die Chancen der Globalisierung" den Anhängern einer entfesselten Marktwirtschaft nach, wie sehr sie auf dem Holzweg sind und entzaubert reihenweise neoliberale Glaubenssätze. Die drei Bücher sind auf Deutsch im Siedler-Verlag, München, erschienen.

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