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Magazin Mitbestimmung

Dritter Bildungsweg: Hauptschule, Job - und dann ab zur Uni

Ausgabe 04/2014

Nicht allein das Abitur berechtigt zum Studium – auch eine Ausbildung und Erfahrung im Beruf können die Tür zum Hörsaal öffnen. Die Hans-Böckler-Stiftung kooperiert jetzt direkt mit zwei Hochschulen, um das Studium ohne Abi zu fördern. Von Jan-Martin-Altgeld.

Wie stark sich Boris Veszely mit seiner Arbeit im Krankenhaus identifiziert, wird durch den sorgfältigen Blick klar, den er sich über die Jahre angeeignet hat. Fast beiläufig entfernt er ein winziges Stück Papier vom Boden, wenn über den Flur des Bonner Universitätsklinikums geht – oder er macht einen Kollegen auf dessen unvollständige Arbeitskleidung aufmerksam. „Ich mag die Stationsarbeit wirklich gern“, sagt Veszely, der hier als Gesundheits- und Krankenpfleger arbeitet. Ab Oktober ist damit erst mal Schluss. Dann beginnt der 30-Jährige ein Studium des Health-Care-Managements an der Hochschule Niederrhein in Krefeld – obwohl der einzige formale Schulabschluss, den Veszely vorweisen kann, ein Hauptschulabschluss ist.

Bereits im März 2009 hat die Kultusministerkonferenz den Hochschulzugang ohne Abitur vereinfacht. In allen Bundesländern werden Studienwillige seitdem nach einer abgeschlossenen zwei- bis dreieinhalbjährigen Berufsausbildung und drei weiteren Jahren im Job zum Studium zugelassen. In manchen Bundesländern kommt zudem eine fachliche Eignungsprüfung auf die Bewerber zu. Mit dieser weitgehenden Vereinheitlichung, so die Hoffnung, würden sich mehr Studienanwärter für den dritten Bildungsweg interessieren. Die Zahlen sprechen jedoch eine andere Sprache. Im Jahr 2011 lag die Zahl der Studenten, die ohne Abitur an Hoch- und Fachhochschulen eingeschrieben waren, nach Berechnungen des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) bundesweit bei rund 44 000 – das sind rund zwei Prozent.

Dass er den Schritt weg vom sicheren Job im Krankenhaus in den Hörsaal riskiert, hat er dem Modellprojekt „Dritter Bildungsweg – Studieren ohne Abitur“ der Hans-Böckler-Stiftung zu verdanken: „Ohne dieses Angebot wären mir die Aussichten wahrscheinlich zu schlecht“, sagt Veszely. Ihm ist bewusst, dass der Lebensstandard eines Vollzeitstudenten nicht derselbe sein kann wie bisher. Mit dem Böckler-Stipendium ist sein Auskommen aber zumindest gesichert. „Der monatliche Zuschuss ist an den vollen BAföG-Satz angelehnt und liegt bei 670 Euro. Dazu gibt es 300 Euro Büchergeld“, sagt Bärbel Friedrich, wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem Projekt. Wer allerdings zu dem Zeitpunkt, zu dem er den Antrag stellt, über eigenes Vermögen aus seiner früheren Berufstätigkeit verfügt, der bekommt entsprechend weniger.

Veszely, der sechs Jahre lang den JAV-Vorsitz an seiner Arbeitsstelle innehatte und Ersatzmitglied im Personalrat der Bonner Uni-Klinik war, bringt eine wichtige Voraussetzung für das Böckler-Stipendium mit: gewerkschaftliches Engagement. „Alternativ können Bewerber sich auch gesellschaftspolitisch engagieren“, sagt Bärbel Friedrich. Das verlangen die Förderrichtlinien der Stiftung. Auch bisher konnten sich schon junge Menschen ohne Abitur um ein Stipendium bewerben. Neu ist, dass die Stiftung jetzt gezielt daran arbeitet, den Übergang vom Beruf ins Studium zu erleichtern – und dabei unmittelbar mit den Hochschulen zusammenarbeitet. Bisher zählen sieben Studiengänge der Ingenieurswissenschaften an der Uni Duisburg-Essen zum Programm (darunter Maschinenbau sowie Elektro- und Informationstechnik) sowie zwei gesundheitswissenschaftliche Studiengänge der Hochschule Niederrhein.

Neben der finanziellen Förderung bildet die fachliche Vorbereitung den Hauptpfeiler des Programms. Ziel ist es, Lücken beim Schulwissen frühzeitig zu schließen – zum Beispiel durch einen vierwöchigen Vorbereitungskurs im Vorfeld des Studiums. Auch Krankenpfleger Boris Veszely wird bald studienrelevantes Wissen aus Mathematik, Physik, Biologie sowie Deutsch und Englisch aufarbeiten. Dafür bekommen die Hochschulen finanzielle Mittel von der Stiftung. „Besonders wenn die Schulzeit länger zurückliegt, ist es manchmal schwierig, sich wieder ans Lernen zu gewöhnen“, sagt Friedrich. Auch aus diesem Grund stellt das Böckler-Programm den Stipendiaten an ihren Hochschulen wissenschaftliche Mitarbeiter zur Seite. Das sei wichtig, meint die Projektkoordinatorin.

Denn manchmal, so weiß sie, gibt es Signale der Lehrenden, die durch die Blume sagten: Eigentlich wollen wir euch nicht. Dabei bringen die Männer und Frauen, die sich für den dritten Bildungsweg entscheiden, oft wertvolle Praxiserfahrungen aus verwandten Bereichen mit. Das sieht auch Jessica Heibült, Forscherin vom Zentrum für Arbeit und Politik der Uni Bremen, so. Sie beschäftigt sich mit der Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung. Sie sagt: „Ich finde es wichtig, beruflich Qualifizierte nicht als Sondergruppe zu begreifen und ihre Studierfähigkeit nicht infrage zu stellen. Beruflich Qualifizierte können die Hochschulen mit ihren Berufserfahrungen bereichern, und auch andere Studierende können von ihnen profitieren.“

VORBEREITUNG AUF DIE WISSENSCHAFT Zusätzlich zum Vorbereitungskurs, der das Schulwissen auffrischen soll, bietet das Böckler-Programm „Studieren ohne Abitur“ drei Wochenendseminare an, die alle vor dem Studium besucht werden müssen. Boris Veszely hat sie schon hinter sich. „Da geht es um das Einstellen aufs Studium: Lernmethoden, wissenschaftliches Arbeiten“, sagt er. „Das nimmt einem schon ein bisschen die Angst vor dem, was später kommt.“ Einer, der das erste Semester im dritten Bildungsweg bereits hinter sich hat, ist Cornelius Forstmann. An der Leibniz Universität Hannover studiert der 25-Jährige Wirtschaftswissenschaften. Dass der gelernte Speditionskaufmann einen fest bezahlten sowie unbefristeten Job für ein Vollzeitstudium aufgab, sei wohl nur durch seinen Bildungshunger zu erklären, sagt er.

Die formalen Zulassungsbedingungen zum Studium ohne Abitur recherchierte Forstmann zum Teil selbst, fand aber auch Unterstützung in der Servicestelle der Offenen Hochschule Niedersachsen. „Die haben mir erzählt, dass es einen Vorbereitungskurs gibt“, sagt Forstmann. Sinnigerweise heißt der Kurs „uni:fit“. Drei Wochen vor Semesterbeginn werden dort die künftigen Studierenden auf die hohen mathematischen Anforderungen vorbereitet. Allerdings richtet sich dieses Angebot an alle Studenten, nicht etwa speziell an solche, die nach der zehnten Klasse die Schule verlassen haben. Das kann, wie Forstmann berichtet, zu Problemen führen: „Die Leute, die aus dem Abi kommen, haben ein Grundwissen – über bestimmte Ableitungen zum Beispiel. Dieses Wissen habe ich als Realschüler nicht. Es wird aber vorausgesetzt.“

Neben dem Damoklesschwert mit Namen Mathematik sieht Veszely aber auch die Vorteile, die seine berufliche Biografie zu bieten hat: „Ich hatte vorher faktisch eine 50-Stunden-Woche. Ich bin also einiges an Zeitaufwand gewöhnt. Das bringe ich jetzt ins Studium ein.“ Die Ausdauer, glaubt er, werde ihm helfen, durchzuhalten, wenn es mal etwas härter wird. Viele Menschen mit ähnlichen Qualifikationen wissen derweil nicht einmal, dass ihnen überhaupt die Möglichkeit für ein Studium offensteht. Da viele Hochschulen nur dürftig über den dritten Bildungsweg informierten, erklärt Friedrich, würden die Informationen viele Kandidaten gar nicht erst erreichen: „Selbst manche Professoren glauben noch, dass ausschließlich das Abitur die Tür zur Uni öffnet.“

Mehr Informationen

Informationen Böckler-Programm „Dritter Bildungsweg“

Online-Studienführer für beruflich Qualifizierte:
www.studieren-ohne-abitur.de

 

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