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Magazin Mitbestimmung

: Der Teufel im Detail

Ausgabe 04/2012

ANRECHNUNG Die Anerkennung beruflicher Qualifikationen an Universitäten und Fachhochschulen gilt als Schlüssel zu Durchlässigkeit und sozialem Aufstieg. Doch die praktische Umsetzung erweist sich oft als unerwartet schwierig. Von Lukas Grasberger

Von LUKAS GRASBERGER, Journalist in Berlin/Foto: Jochen Zick/Keystone

Als die Kultusminister-Konferenz (KMK) 2009 den Hochschulzugang für Berufserfahrene ohne Abi für alle Bundesländer auf den Weg brachte, schrieb sie zugleich fest, dass Zertifikate und Abschlüsse aus der beruflichen Bildung auch an den Hochschulen anerkannt und angerechnet werden sollen. Die Idee der Anrechnung: Wissen und Können zu identifizieren, das Berufstätige mitbringen, damit diese sich bestimmte Seminare, Vorlesungen und Praktika „sparen“ können – eine erhebliche zeitliche und letztlich auch finanzielle Entlastung für berufstätige Studieninteressierte.

Wie steinig sich dieser Weg in der Umsetzung gestalten würde, dürften bildungspolitische Profis geahnt haben. In der Praxis erlebte es die gelernte Erzieherin Claudia Decker als ebenso überraschende wie frustrierende Erfahrung. Mit einem pädagogischen Studium wollte sich die Enddreißigerin ohne Abitur das Tor zum beruflichen Aufstieg, zur Geschäftsführung ihres Trägervereins, öffnen. Neue, individuelle Anrechnungsverfahren versprachen der zweifachen Mutter, dass ihre im Erzieherjob erworbenen Kenntnisse angerechnet würden. Doch bald lernte sie den Teufel im Detail der Anrechnung kennen: Decker und Kommilitoninnen mussten ein sogenanntes Lerntagebuch führen – und darin schildern, welche Spiele sie mit Kindern in der Kita spielten oder wie und warum sie den Kleinen ein Musikstück beibrachten. In Arbeitsbögen sollten sie zudem reflektieren, welche Elemente aus dem Berufsalltag sich in knapp einem Dutzend sogenannter Module der Hochschule wie „Spielpädagogik“ oder „ästhetische Bildung“ wiederfinden. Je nach wissenschaftlicher Relevanz des Moduls konnten dann Leistungspunkte (Credits) angerechnet werden – wobei ein Credit etwa 30 Stunden entsprach. Fünf Credits gab es etwa für „ästhetische Bildung“, zehn für das Modul „Kommunikation und Sprache“, das sich mit Sprachentwicklung und -förderung befasst.

Doch die Studentinnen fühlten sich beim Abarbeiten dieses umfangreichen Portfolios alleingelassen. „Wir hatten keinerlei Anleitung beim Ausfüllen“, empört sich Decker. Zuweilen konnte sie mit den Formulierungen der Module überhaupt nichts anfangen, erfuhr erst im Nachhinein, wo sie ihre Kenntnisse in Musik und Sport einbringen hätte können. Die Portfolio-Anrechnungen ergaben so die schlechtesten Noten im ganzen Studium. „Emotionale Missstimmung hat deshalb die ersten Semester geprägt“, sagt die Bildungsforscherin Walburga Freitag, die das Schicksal Deckers, die in Wirklichkeit anders heißt, protokolliert hat. Welche Mittel und Methoden wirklich helfen, um Berufserfahrenen Zugänge zu Uni und FH zu ebnen, untersucht Freitag in einem Projekt zur „Anrechnung beruflicher Kompetenzen“ mit dem Kürzel ANKOM – einer Initiative des Bundesbildungsministeriums mit dem Ziel, Durchlässigkeit zwischen beruflicher und hochschulischer Bildung zu verbessern.

ERZIEHUNGSBERUFE IM VORTEIL_ Es ist ein Grundproblem, das Freitag häufig an Hochschulen beobachtet, die Ernst machen wollen mit der Anerkennung beruflichen Wissens: Akteure im beruflichen System und an den Hochschulen verstehen sich schlicht nicht, haben jeweils eine ganz eigene Sprache entwickelt mit zuweilen ganz unterschiedlichen Begriffen für die gleichen Dinge. Im Fall von Claudia Decker unterschieden sich Fachsprache und -kultur ihrer Kinder­tagesstätte stark von derjenigen an der Hochschule. „Deren Sprachcodes haben Decker und ihre Kolleginnen – ob bewusst oder unbewusst – ausgeschlossen.“

Dabei, sagt Freitag, sind erziehungswissenschaftliche Studiengänge bereits sehr aufgeschlossen für die Anerkennung beruflich erworbener Qualifikationen. „Dies liegt an den großen Schnittmengen in erzieherischen Berufen und Studium.“ Einem Thema wie „Wie lernen Kinder?“ näherten sich beide Seiten ähnlich. „Es ist deshalb relativ leicht, sich inhaltlich zu verständigen.“

Kein Wunder, dass pädagogisch ausgerichtete Studiengänge wie etwa die der staatlichen Alice-Salomon-Hochschule (ASH) in Berlin-Hellersdorf seit 2005 zu den elf Pilotprojekten von ANKOM gehören. Zwei Anrechnungsverfahren wurden im Zuge von ANKOM entwickelt: die individuelle und die pauschale Anrechnung. Die ASH hat beide Verfahren in ihren Studiengang „Erziehung und Bildung im Kindesalter“ integriert. Während im individuellen Verfahren jeder Student im Einzelfall geprüft wird, geschieht dies beim pauschalen Verfahren ohne Ansehen der Person: Hochschulen erkennen Zeugnisse und Zertifikate bestimmter Bildungseinrichtungen an und wandeln diese Qualifikationen in Leistungspunkte um. An der Alice-Salomon-Hochschule etwa werden so Leistungen pauschal angerechnet, die die Studierenden aus drei sozialpädagogischen Fachschulen mitbringen.

Wie die Fachhochschule aus dem Berliner Ostbezirk Hellersdorf hat knapp ein Dutzend weiterer FHs und Unis dank ANKOM modellhafte Verfahren für Anrechnung erarbeitet – an ganz unterschiedlichen Studiengängen von Wirtschafts- und Naturwissenschaften über Gesundheit bis zur Informationstechnologie. Die Botschaft von ANKOM-Projektleiterin Freitag: „Anrechnung ist machbar, sie ist prinzipiell nicht gebunden an Hochschultypen, Fachdisziplinen oder Berufsfelder.“

HARTE NUSS GLEICHWERTIGKEIT_ Doch sechs Jahre nach dem Start der Initiative fallen die Erfolge noch immer mager aus. „An nur knapp einem Drittel der deutschen Hochschulen findet Anrechnung überhaupt statt“, schätzt Walburga Freitag. Anrechnung gebe es nur in Einzelfällen und zuweilen willkürlich, beklagt auch Andreas Keller vom Vorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft auf einer ANKOM-Konferenz Ende Februar in Berlin. Einen Schub versprechen sich die Experten von der neuen Projektphase, die mit der Konferenz unter dem Motto „Übergänge gestalten!“ startete.

Insbesondere die „harten“ naturwissenschaftlichen Fächer, etwa Ingenieurswissenschaften, tun sich schwer mit der Anrechnung. Auch dort gibt es durchaus Gleichwertigkeit von beruflichem und akademischem Wissen – die sich aber dem ersten Blick nicht erschließt. Ein Hochbautechniker konstruiere möglicherweise mithilfe der Integralrechnung eine Brücke, sagt Kerstin Mucke, die für das Bundesinstitut für berufliche Bildung (BiBB) die Durchlässigkeit aus Sicht der beruflichen Bildung untersucht hat. Fragestellungen eines Studiengangs zu dieser Rechenart könne er, losgelöst von der Praxis, wohl trotzdem nicht beantworten – weil ihm einfach die Fachtermini, das wissenschaftliche Handwerkszeug fehlten.

Um hier Durchlässigkeit zu fördern, müssen Akteure der beruflichen wie der akademischen Bildung „ein gemeinsames Verständnis des Begriffs Gleichwertigkeit entwickeln“, fordert Mucke. Gelingen könne dies durch eine gemeinsame Orientierung an Lernergebnissen. „Dass man sich weniger an den herkömmlichen Lehrplänen orientiert – hat ein Bewerber dieses Zeugnis oder jenes Zertifikat? –, sondern vom Ende her denkt: Was soll jemand am Ende einer Aus- und Weiterbildung wissen und können?“.

Doch durch dieses Denken, dass im Beruf Erlerntes gleichwertig zu an der Hochschule erworbenen Kenntnissen sein soll, fühlen gerade Naturwissenschaften Identität und Fachtradition bedroht. Die Lehrenden seien misstrauisch, sagt Walburga Freitag, sie befürchteten eine Entwertung wissenschaftlicher Qualifikation. „In Zeiten von Elite-Unis wollen sie dies tunlichst vermeiden.“ Gerade in naturwissenschaftlichen Fächern gebe es zudem zuweilen „starke akademische Dünkel“. Das bestätigt auch eine Untersuchung von Manfred Wannöffel, Leiter der gemeinsamen Arbeitsstelle Ruhr-Universität Bochum (RUB)/IG Metall: In einer Studie für die Hans-Böckler-Stiftung hat er den Hochschulzugang für Berufstätige an der RUB analysiert. Schlechte Chancen auf die Anerkennung ihrer Kompetenzen hatten hier insbesondere Bewerberinnen um einen Medizin-Studienplatz: Krankenschwestern mit abgeschlossener Ausbildung und mehreren Jahren Berufserfahrung wurde im zentralen Vergabeverfahren pauschal die Note 4,0 zugeteilt – was jahrelange Wartezeiten bedeutet hätte. Die Alternative: eine freiwillige Zugangsprüfung. „Doch dazu erschien dann keine der Bewerberinnen mehr“, sagt Wannöffel, der gerade bei NC-Fächern enormen Regelungsbedarf sieht, wo bundes-, landesweite und Hochschul-Regelungen restriktiv zusammenwirken. Für ANKOM-Expertin Freitag ist das Beispiel aus Bochum bezeichnend für Prozesse, in denen „aus einer im Grundsatz freizügigen Regelung erneut eine schmale Eintrittspforte wird“.

ATTRAKTIVE BERUFSINTEGRIERENDE ANGEBOTE_ Dabei, glaubt Freitag, müssten sich die Hochschulen öffnen – gerade auch für eine gern übersehene, aber nicht unbedeutende Gruppe: die jährlich bis zu 90 000 Studienanfänger, die Abitur und Berufserfahrung mitbringen. Ihre akademische Weiterqualifizierung sei angesichts des drohenden Fachkräftemangels wichtig, Anrechnung gerade für diese Gruppe ein bedeutender Anreiz.

Wie dies funktionieren kann, beweist die Alice-Salomon-Hochschule: Den Bachelor-Studiengang „Erziehung und Bildung im Kindesalter“ bietet die FH seit Ende 2008 auch in einer sogenannten berufsintegrierenden Form an: Erzieherinnen kommen am Samstag in die Seminare, zusätzlich können sie auch nach der Arbeit am heimischen Computer mit E-Learning-Modulen büffeln. Knapp 40 Prozent der Studierenden absolvieren ihre Vorlesungen und Seminare mittlerweile berufsintegrierend. Dank Angeboten wie diesen konnte die Alice-Salomon-Hochschule die Zahl ihrer beruflich qualifizierten Studierenden ohne Abitur insgesamt binnen fünf Jahren fast verdoppeln. Die genehmigten Anträge auf Anrechnung vervierfachten sich bis 2010 gar. Zukünftig, so die Anrechnungsbeauftragte Adriana Sava, werde mit deutlich mehr Anträgen gerechnet.

Auch bei Claudia Decker klappte es nach dem holprigen Start doch noch mit der Anerkennung ihres beruflichen Wissens: Die Hälfte der Inhalte ihres Studiums konnte sie sich schließlich aus ihrer Erzieherinnentätigkeit anrechnen lassen.

Mehr Informationen

Die Dokumentation der ANKOM-Tagung sowie Informationen zu der BMBF-Initiative "ANKOM – ÜBERGÄNGE VON DER BERUFLICHEN IN DIE HOCHSCHULISCHE BILDUNG" finden sich unter: www.ankom.his.de

Manfred Wannöffel: HOCHSCHULZUGANG FÜR BERUFSTÄTIGE. Exemplarisch analysiert am Beispiel der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitspapier Nr. 188 der Hans-Böckler-Stiftung. Düsseldorf 2012

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