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HBS Böckler Impuls

Kapitalmarkt: Finanzmärkte: Eher Bremsklotz als Schmiermittel für die Wirtschaft

Ausgabe 02/2008

Die Umsätze an den Finanzmärkten haben in den vergangenen Jahrzehnten enorm zugenommen. Geld, das in - oft spekulative - Finanzanlagen fließt, fehlt in der Realwirtschaft für Investitionen und neue Arbeitsplätze, so eine Analyse des Wirtschaftsforschers Stephan Schulmeister.

Das Gewinnstreben der Unternehmen verlagert sich von der realen Wirtschaft in die Finanzsphäre, schreibt der Ökonom vom Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung (WIFO). Investitionspläne, die vor 30 Jahren ohne Zögern umgesetzt worden wären, landen heute oft in der Ablage. Begründung: Verglichen mit den am Finanzmarkt zu erzielenden Renditen lohnt sich der Bau einer neuen Fabrik oder Fertigungsstraße nicht. So konkurriert der Finanzsektor mit der nicht-virtuellen Wirtschaft um Geld - statt sie mit Investitionsmitteln zu versorgen. Schulmeister sieht darin die "strukturelle Hauptursache" für das Anwachsen der Arbeitslosigkeit seit den 70er-Jahren.

Einige Eckdaten machen deutlich, welche Dimensionen die Börsenspekulation angenommen hat:

=> Die Umsätze im Handel mit Devisen, Aktien, Anleihen, Wetten auf zukünftige Kurse und anderen Finanzprodukten summierten sich 2006 auf etwa 13.000 Milliarden Dollar - pro Tag. Der überwältigende Teil dieser Transaktionen entfällt auf die Finanzmärkte in den Industrieländern, ihr Volumen war 2006 nahezu 100 Mal höher als das nominelle Bruttoinlandsprodukt (BIP) dieser Länder.

=> Das größte Gewicht haben kurzfristig-spekulative Geschäfte mit so genannten Derivaten wie Futures oder Optionen. Das sind ursprünglich für Absicherungsgeschäfte konstruierte Wertpapiere, mit denen Anleger auf die künftige Entwicklung von Devisen-, Aktien-, Rohstoff- oder anderen Preisen spekulieren können. Zwischen 1986 und 2006 nahm der globale Derivatehandel mit einer jährlichen Wachstumsrate von gut 20 Prozent zu.

=> Besonders stark expandierte der Börsenhandel mit Finanzderivaten - an dem sich zunehmend auch Amateure beteiligen. In Europa wuchs der Börsenhandel mit solchen Papieren zwischen 2000 und 2006 um 28,6 Prozent pro Jahr und erreichte 2006 annähernd das 40-fache des BIP. Fast 99 Prozent dieser Umsätze entfallen auf Großbritannien und Deutschland.

=> Neben dem weiterhin führenden Finanzplatz London etablierte sich die Eurex in Frankfurt als zweitwichtigste Derivatebörse in Europa. Ihre Umsätze expandierten zwischen 2000 und 2006 um 25,7 Prozent pro Jahr und erreichen beinahe die Hälfte des deutschen BIP.

Die Sogwirkung der Finanzmärkte verhindere, dass genügend neue Arbeitsplätze in der realen Wirtschaft entstehen, argumentiert Schulmeister. Zwar gingen viele Ökonomen davon aus, dass der gesamtwirtschaftliche Beschäftigungsstand von der Höhe der Reallöhne, der Regulierung des Arbeitsmarkts und den Arbeitsanreizen für Erwerbslose abhinge. Nach Schulmeister ist jedoch die Realkapitalbildung entscheidend: Neue Arbeitsplätze, die "dem europäischen Produktivitäts- und Einkommensniveau entsprechen", erforderten vor allem hohe Investitionen. Und wegen des technischen Fortschritts seien pro Arbeitsplatz immer höhere Investitionen nötig. Empirische Daten aus den USA, Japan und Deutschland zeigen dem Wirtschaftsforscher zufolge, dass die Kapitalintensität je Arbeitsplatz seit 1960 "in jedem einzelnen Jahr, in jedem Sektor, in jeder der drei Volkswirtschaften" gestiegen ist - in Phasen steigender Reallöhne genauso wie in Phasen real sinkender Verdienste.

In der jüngeren Vergangenheit sind zunehmend Finanzanlagen an die Stelle physischer Investitionen getreten, hat Schulmeister beobachtet. Als Paradebeispiel für diesen internationalen, aber in Deutschland besonders ausgeprägten "Megatrend" führt er den Siemens-Konzern an: Unternehmen wie dieses stoßen immer mehr Teile der industriellen Produktion ab und legen gleichzeitig immer größere Summen am Kapitalmarkt an.

Der Ökonom sieht die Ursachen für den von ihm diagnostizierten Wandel vom Real- zum Finanzkapitalismus vor allem in der Eigendynamik der Börsen. Aber auch technologische Fortschritte und die Geldpolitik spielen eine Rolle:

=> Starke Kursschwankungen an den Finanzmärkten erhöhen potenzielle Spekulationsgewinne und locken so neues Kapital an. Wertpapierkäufe und -verkäufe der neuen Kapitalanleger destabilisieren die Kurse weiter, was wiederum neue Spekulanten anzieht. Auf diese Weise steigen die Handelsvolumina über lange Zeiträume immer weiter an.

=> Neue Informationstechnologien haben die Umschlaghäufigkeit von Wertpapieren stark erhöht. Gleichzeitig sind die Kosten pro Transaktion gesunken. Real-Time-Trading an amerikanischen oder asiatischen Börsen ist selbst für Privatanleger kein Problem mehr. Hinzu kommen computergestützte Handelssysteme, die vollkommen selbstständig agieren - und Kursausschläge damit oft verstärken.

=> Seit den frühen 80er-Jahren liegen die Realzinsen in Europa, insbesondere in Deutschland, nahezu permanent über der realen Wachtumsrate, während sie vorher meist niedriger waren. Dies hat zusammen mit dem etwa gleichzeitig einsetzenden Boom der Aktienkurse und den Spekulationsmöglichkeiten durch die neu geschaffenen Finanzderivate die "Renditeansprüchlichkeit" gesteigert.

=> Die Banken haben ihren Aktivitätsschwerpunkt verschoben: Das Kleinkundengeschäft und die Finanzierung realer Investitionen verloren an Bedeutung, Asset Management und Investment Banking sind in den Mittelpunkt gerückt.

=> Schließlich hat auch die Zahl der Amateurspekulanten in den USA wie in Europa stark zugenommen. Schulmeister vermutet, dass in den USA über eine Million Hobby-Trader am Werk sind. In Europa "dürfte die Zahl nicht wesentlich kleiner sein". 

  • Umsätze mit spekulativen Wertpapieren übersteigen die Wirtschaftsleistung der Industrieländer um ein Vielfaches. Zur Grafik
  • Aktienkurse stiegen in den 60er- und 70er-Jahren langsamer als das Realkapital der Unternehmen, seit den 80ern ist es umgekehrt. Zur Grafik

Stephan Schulmeister: Finanzspekulation, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung, in: Jörg Huffschmid u.a. (Hrsg.): Finanzinvestoren: Retter oder Raubritter?, VSA-Verlag, Hamburg 2007

ders.: Der Finanzkapitalismus, die Wachstumskrise und das Europäische Modell, in: Eckard Hein, Arne Heise, Achim Truger (Hrsg.): Finanzpolitik in der Kontroverse, Metropolis-Verlag, Marburg 2004

ders., Margit Schratzenstaller, Oliver Picek: A General Financial Transaction Tax - Motives, Revenues, Feasibility and Effects, WIFO-Studie, Februar 2008

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