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Luftaufnahme des Hamburger Industriehafens Magazin Mitbestimmung

Industrie: Was von „Made in Germany“ bleibt

Ausgabe 06/2025

Externe Schocks und Strukturkrisen gefährden den industriellen Kern unserer Wirtschaft. Warum wir gerade jetzt eine moderne Industrie- und Innovationspolitik brauchen. Von Kay Meiners

Unser Land könnte in Zukunft ein Land ohne Schwerindustrie sein. Ein Land, das Autos in großem Stil aus Asien importiert, seine Grundstoffindustrien wegen zu hoher Energiekosten verloren hat. Ein Land, das mit dem technischen Vorsprung Chinas kaum noch mithalten kann und dem es schwerfällt, strategisch wichtige Rohstoffe in ausreichender Menge auf dem Weltmarkt zu beschaffen. In diesem Land würde weniger Geld erwirtschaftet als heute. Weniger Geld für den Konsum, die Infrastruktur oder die Rente.

Unser Land könnte aber auch ein Land sein, dem es gelingt, weltweit Vorreiter in Innovation zu sein. Ein Land, in dem hoch qualifizierte Beschäftigte in europaweit optimierten Wertschöpfungsketten und in neuen, hybriden Geschäftsmodellen arbeiten, die die Produktion von Gütern mit individuellen Dienstleistungen kombinieren. Ein Land, das überzeugende Antworten findet auf die Megatrends wie das Auslaufen fossiler Energie, eine alternde
Bevölkerung oder den menschenfreundlichen Einsatz von KI – und das volkswirtschaftlich seinen dritten Platz in der Spitzengruppe mit den USA und China behauptet.

Aktuell jedoch geht es dem Land nicht gut. Der Produktionsindex des produzierenden Gewerbes schrumpft. Die Autoindustrie befindet sich in einer tiefen Krise – und mit ihr die Stahlindustrie und die Zulieferer. Im vergangenen Jahr wurden 4,1 Millionen Pkw gebaut, rund 1,5 Millionen weniger als ein Jahrzehnt zuvor. Bereits seit 2018 fertigen die deutschen Marken mehr Fahrzeuge in China als in Deutschland. Die Chemie-, Kunststoff-, Glas- und Papierindustrie leiden unter den nochmals gestiegenen Energiekosten.

In vielen Betrieben sind Jobs in Gefahr. In einer aktuellen Umfrage der IG Metall unter den Betriebsräten von rund 450 Unternehmen in Hessen, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Thüringen sah nur etwa die Hälfte ihre Beschäftigung als gesichert an. Christiane Benner, die Erste Vorsitzende der IG Metall, erklärte kürzlich: „Die Beschäftigten brauchen schnelle und unmissverständliche Signale von der Politik, dass die Rahmenbedingungen klarer und besser werden.“ Auch Michael Vassiliadis, der Vorsitzende der IGBCE, schlug Alarm: „Unsere Industrien haben inzwischen ein Produktionsniveau erreicht, das 20 Prozent unter dem von vor dreieinhalb Jahren liegt, als Putin den Krieg mit der Ukraine vom Zaun brach.“

Verzögerter Strukturwandel

Leitstand in einem Chemiewerk der BASF
Leitstand in einem Chemiewerk der BASF: Das Land braucht rasche Fortschritte bei der weiteren Digitalisierung.

Dienstleistungen machen heute etwa 70 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts aus. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung verharrt aber bei rund einem Fünftel der Volkswirtschaft. Viele Jobs in der Industrie werden gut bezahlt. Doch seit den 1990er Jahren hat sich die Wirtschaftsstruktur kaum noch verändert.

Lange funktionierte das deutsche Modell, die meisten Jobs waren sicher. Doch jetzt, wo verschiedene Risiken zeitgleich eintreten – Handelskriege, höhere Energiepreise und eine verstärkte Konkurrenz –, setzt die Summe der Ereignisse die in einem langen Wachstumspfad entstandenen Strukturen einem erhöhten Druck aus. Deswegen fordern die Gewerkschaften Entlastungen, gerade bei den Energiekosten: Nachlass bei den Netzentgelten, eine Reform des Emissionshandels, Leitmärkte für CO2-armen Stahl, der aber wiederum nur dann wettbewerbsfähig werden kann, wenn es zugleich auch einen Emissionshandel und Regeln für Importe aus Ländern mit niedrigeren Anforderungen gibt.

Für den Staat stellt sich die Frage, wem er helfen soll – und wie: Gibt man Geld aus, um alte Industrien zu stützen, oder fördert man lieber neue Unternehmen? Wie verhindert man den Einstieg in eine Dauersubvention ganzer Branchen? So mancher möchte mit dem Zauberwort der Systemrelevanz unter staatliche Schutzschirme schlüpfen. Aber staatliches Geld soll eine möglichst hohe Zukunftsrendite bringen, etwa, indem es Innovationen vorantreibt.

Grafik zum Produktionsindex des produzierenden Gewerbes

Deutschland ist stark bei technischen Gütern, in der Logistik und in der Wissenschaft, es schwächelt aber bei der Digitalisierung, bei der Förderung neuer Unternehmen und bei den Investitionen in Bildung.

Wir fallen bei Innovationen zurück

  • Automobilherstellung auf dem BMW Werksgelände im Münchner Norden. Karosseriebau, Anbau des Kofferraumdeckels
    Karosseriebau mit Industrierobotern bei BMW: Der Fahrzeugbau war lange eine Quelle des Erfolgs.
  • Ein 20 MW-Elektrolyseur zur Herstellung von grünem, klimaneutralem Wasserstoff von Air Liquide im Chemiepark OQ Chemicals in Oberhausen
    Produktion von grünem Wasserstoff beim Energieunternehmen Air Liquide: ein Energieträger der Zukunft.
  • Moderner Quantencomputer
    Moderner Quantencomputer: Die superschnellen Rechner gelten als eine strategische Technik der Zukunft.
  • Laura Nousch, Projektleiterin des ESA-Projekts am Fraunhofer-Institut für Keramische Technologien und Systeme IKTS, arbeitet an der Montage des Labordemonstrators eines Brennstoffzellensystems. Der Aufbau soll die Stromversorgung für einen Messroboter liefern, der auf einem Eismond des Saturns landen soll.
    Vorarbeiten für eine Mission zu einem Eismond des Saturn: Spitzenforschung und Spitzentechnologie gehören zusammen.

Das Länderranking des Global Innovation Index 2025, einer Studie der Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO), zeigt, dass hier noch Luft nach oben ist. Deutschland ist bei der Innovationskraft vom neunten auf den elften Platz zurückgefallen und rangiert nicht mehr unter den zehn innovativsten Volkswirtschaften. Bei den weltweiten Patentanmeldungen etwa lag das Land vor einigen Jahren noch an der Spitze. In der aktuellen Studie reichte es nur für Rang sieben.

Die Studie attestiert Deutschland noch immer beträchtliche Stärken, etwa bei der Produktion technischer Güter und beim Export, in der Logistik, in der Wissenschaft und bei Investitionen in Forschung und Entwicklung. Die drei deutschen Unternehmen mit den höchsten Investitionen in Forschung und Entwicklung sind dabei Autohersteller.

Zugleich aber treten strukturelle Schwächen bei der Digitalisierung, bei der Entwicklung zukunftsträchtiger Geschäftsmodelle und der Förderung neuer Unternehmen immer deutlicher zutage. Deutliche Schwächen sieht die WIPO-Studie auch im Bildungssektor und bei digitalen Technologien. Bei den Ausgaben für Bildung liegt Deutschland international nur noch auf Rang 56.

Auch der Ausbau der digitalen Infrastruktur, etwa Breitbandinternet und leistungsfähiger Mobilfunk, kommt nur schleppend voran. Bei der Entwicklung mobiler Apps liegt Deutschland nur auf Rang 48, und bei der Gründerkultur und Förderung von Unternehmertum schafft das Land nur Rang 41.

Die USA sind heute noch führend in Spitzentechnologie. Sie haben starke Forschungseinrichtungen und Universitäten, die Innovationen fördern. Viele erfolgreiche Technologieunternehmen und Start-ups entstehen dort. Zudem gibt es eine starke Gründermentalität und viel privates Risikokapital, das neue Ideen finanziert. Davon könnte man sich etwas abschauen.

Der Vorteil Chinas sind niedrige Produktionskosten, eine gut ausgebaute Infrastruktur und hohe Kapazitäten. Der autoritär geführte Staat unterstützt Unternehmen gezielt mit Subventionen, und die große Inlandsnachfrage ermöglicht eine effiziente Massenproduktion. Der neue Fünfjahresplan Chinas, der auf noch mehr Hochtechnologie und strategische Innovation setzt, wird den Druck auch auf Deutschland weiter erhöhen.

Unser Nachbarland, die Schweiz, zeigt, dass sich ein hohes Lohn- und Preisniveau und eine hohe Wettbewerbsfähigkeit nicht ausschließen müssen. Regelmäßig führt das Land Innovationsrankings an. Zum Erfolg tragen leistungsfähige Wissenschaftseinrichtungen bei und eine hoch spezialisierte Wirtschaft, die sich auf Felder konzentriert, für die neue Forschung besonders wichtig ist. Dazu kommt die enge Vernetzung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft.

Das deutsche Modell ähnelt dem der Schweiz, allerdings mit mehr Massenproduktion und mit strukturschwachen, ärmeren Regionen. Sieben Metropolregionen gehören zu den Top-100-Innovationsclustern der Welt. In ihnen gibt es viele Branchen, die globale Spitzenleistungen erbringen im Verbund mit gut qualifiziertem Personal und einer reichen Forschungslandschaft: den Maschinenbau, den Premiumfahrzeugbau, die Energie- und Brennstoffzellentechnik, die Pharmabranche, aber auch Dienstleistungen wie Versicherungen und Kreativberufe.

  • Deutschlandkarte mit Zentren der Innovation nach Branchen
  • Länderranking Innovationsindex
  • Grafik zu Innovationsclustern

Deutschland muss kluge Geschäftsmodelle entwickeln, die nicht effizienter von den USA oder China besetzt werden können.

Die deutschen Stärken

Es existieren verheißungsvolle Großprojekte wie die VW-Batteriefabrik in Salzgitter oder die Wafer- und Chipproduktion von Globalfoundries bei Dresden und moderne Technologien wie die CO2-arme Stahlproduktion, die Wasserstofftechnik oder E-Motoren mit hoher Energiedichte wie den Axialflussmotor. Wichtig wäre es, mehr strategische Zukunftsfelder zu besetzen, auch Quantencomputer, KI, Biotechnologie. Das, was der Ökonom Joseph Schumpeter „schöpferische Zerstörung“ nannte, das Freisetzen gebundener Ressourcen für Neues, gehört zwingend zu einer wirtschaftlichen Erneuerung, aber ohne industrielle, transformationsfähige Kerne leichtfertig zu gefährden.

China wird wohl die größte Herausforderung, gerade für die industriellen Kerne. Ein Indikator für den raschen Aufstieg Chinas sind die Patentanmeldungen, wobei Quantität nicht immer Qualität sein muss. Aber auch die Handelsströme sprechen eine deutliche Sprache. Nach einer Prognose von Germany Trade and Invest (GTAI) könnte das Handelsdefizit mit China in diesem Jahr den Rekord von 88 Milliarden Euro erreichen. Einfuhren von 168 Milliarden Euro stehen Exporte von nur noch 80 Milliarden gegenüber. Die Konkurrenz scheint kaum zu schlagen. Vielleicht lässt sich vom 19. Jahrhundert lernen, in dem Deutschland sich schon einmal einer übermächtigen Konkurrenz – damals Großbritannien – gegenübersah. Damals ging es darum, gegen den Druck einer moderneren Industrie erst eigene Unternehmen aufzubauen. Die erste Industrialisierung Deutschlands war kein ungeregelter Kapitalismus, wie man mit Blick auf die überlangen Arbeitszeiten oder die miserablen Löhne denken könnte, gegen die die Gewerkschaften über Generationen kämpfen mussten. Tatsächlich spielte der Staat eine aktive Rolle: Er investierte in den Bau von Eisenbahnen, Straßen und Wasserwegen, erschloss neue Rohstoffquellen, führte Schutzzölle ein, förderte die Kapitalbildung, schuf einheitliche Standards. Er steckte Geld in Bildung, in Fachschulen und Universitäten – und er schuf selbst eine Nachfrage. Kurzum, er übernahm eine entscheidende Funktion in diesem Prozess der Transformation.

Die Welt heute ist ganz anders. Es geht nicht mehr um Wachstum und Expansion um jeden Preis. Es geht um nachhaltige und resiliente Wertschöpfung in einer Welt, in der Deutschland und Europa zwei mächtigen industriellen Weltmächten gegenüberstehen. Damit Deutschland seinen Platz verteidigt, muss es kluge, transnationale Geschäftsmodelle entwickeln, die nicht effizienter von den USA oder China besetzt werden könnten. Wenn alles zusammenkommt – eine neue Kultur der Innovation, eine aktive Rolle des Staates und mehr Zusammenarbeit in Europa –, kann es Deutschland in Zukunft wieder besser gelingen, strategisch wichtige Märkte zu besetzen. Die Politik muss, wenn sie dafür einen Rahmen schaffen will, wieder mutiger werden.

Grafik zu Patentanmeldungen im Vergleich China, EU und USA seit 1980
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