Zulieferer: „Mitwirken, wie wir es bisher nicht kannten“
Beim kriselnden Stuttgarter Mahle-Konzern verhandeln IG Metall und Betriebsräte die Verlängerung eines Zukunftstarifvertrags, der die Beschäftigten an der strategischen Entwicklung beteiligt. Von Stefan Scheytt
Vor dem Hauptsitz des Automobilzulieferers Mahle in Stuttgart steht die imposante Skulptur des Herzstücks eines jeden Verbrennermotors: eine Kurbelwelle mit sechs Kolben, die meterhoch in den Himmel ragen. Mit Motorteilen wie diesen hat sich der Konzern weltweit einen Namen gemacht, aber seit einiger Zeit stehen just diese Hightech-Komponenten für die vielleicht größte Herausforderung in der Geschichte des 125 Jahre alten Stiftungsunternehmens. Der politisch beschlossene Abschied vom Verbrennermotor zwingt Mahle zu einer Transformation, die Boris Schwürz, Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats, so beschreibt: „Wir müssen mit den Altprodukten den Fortbestand des Unternehmens so lange wie möglich sichern und uns parallel mit neuen Produkten vor allem im Bereich E-Mobilität für die Zeit nach dem Verbrenner aufstellen.“
Nach vier Verlustjahren erwirtschaftet Mahle trotz rückläufigem Umsatz zwar wieder Gewinn, aber der Umbau ist noch längst nicht abgeschlossen. Strukturell hat sich der Konzern zum Jahresanfang von fünf auf drei Geschäftsbereiche verschlankt und die Geschäftsführung von sieben auf vier Mitglieder verkleinert. Zur technischen und kulturellen Transformation soll der Mitte 2023 geschlossene Zukunftstarifvertrag beitragen, über dessen Verlängerung derzeit verhandelt wird.
Im Kern geht es darum, Betriebsräte und Beschäftigte an jedem der fast 30 Standorte in Deutschland zu Mitwirkenden bei der Suche nach neuen Produkten und Geschäftsideen zu machen. „Sie alle haben so viel Wissen, Fähigkeiten und Ideen, mit denen man Beschäftigung generieren könnte, von denen man an den anderen Standorten oder in der Zentrale aber oft nichts weiß“, sagt Schwürz und berichtet vom Auftaktworkshop, bei dem jeweils ein Werkleiter und ein Betriebsrat ihren Standort und dessen Kompetenzen vorstellten. „Da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass wir es schaffen, die Silos der einzelnen Geschäftsbereiche aufzubrechen.“
Damit die Ideen nicht schon vor Ort kleingeredet oder verschleppt werden, wurde durch den Zukunftstarifvertrag ein paritätisch besetztes Team an jedem Standort installiert sowie ein koordinierender Lenkungs- und ein Entscheiderkreis in der Zentrale. Letzterem gehören Mitglieder des Vorstands, der IG Metall und des Gesamtbetriebsrats an. Sie können jederzeit angerufen werden. „Durch diese Gremien hat man von jedem Werk einen direkten Draht bis zum Vorstand“, sagt Schwürz. Zudem sind laut Zukunftstarifvertrag der Vertrieb und die Forschung in der Zentrale verpflichtet, bei Bedarf zu unterstützen. Der Betriebsrat kann externe Berater hinzuziehen, Geld für Qualifizierung liegt in einem gesonderten Topf.
Vereinbarungen, die nur für wenige Jahre vor betriebsbedingten Kündigungen schützen, sind gut, aber langfristig zu wenig.“
Um all das zu erstreiten, habe es 17 mitunter heftige Verhandlungstermine gebraucht, erzählt Boris Schwürz, „aber jetzt können wir in einer Form mitwirken, die wir bisher nicht kannten“. Als Gegenleistung für den Vertrag, der betriebsbedingte Kündigungen bis Ende 2025 ausschließt, machten Gewerkschaft und Betriebsrat Zugeständnisse bei der Flexibilität. Bei Bedarf können mehr befristete Beschäftigte und Leiharbeiter eingesetzt oder Kurzarbeit angeordnet werden. Auch garantiert die Arbeitnehmerseite Ruhe in den Werken. Streiks oder Streikdrohungen sind also tabu – damit weiterhin Erträge in den Verbrennerwerken erwirtschaftet werden können.
Die Idee der Zukunftstarifverträge, wie sie auch die Zulieferer Bosch und ZF Friedrichshafen abgeschlossen haben, geht zurück auf das Kornwestheimer Abkommen in der Tarifrunde 2021. Dessen leitender Gedanke war es, „Arbeitnehmervertreter an der strategischen Entwicklung eines Unternehmens mitwirken zu lassen, und idealerweise nicht erst in der Krise, wenn Umsätze und Erträge sinken“. So formuliert es Matthias Fuchs, Leiter des Tarifteams bei der IG Metall Baden-Württemberg und Verhandlungsführer beim Zukunftstarifvertrag von Mahle.
Tatsächlich ist Mahle alles andere als in einer komfortablen Situation, der Transformationsdruck ist gewaltig. Umso wertvoller sei die Möglichkeit durch die Vereinbarung, „bei Bedarf bis in den Vorstand hocheskalieren und damit Dynamik erzeugen zu können“, argumentiert Fuchs. Der Vertrag sei ein nachahmenswertes Beispiel für die tiefgehende Beteiligung von Arbeitnehmervertretungen und Beschäftigten.
Es gebe auch schon viele interessante Produktideen – fürs Heizen in E-Autos, für Bremssysteme, für eine hocheffiziente Batteriekühlung in vollelektrischen Lkw. Auch Prototypen seien schon entstanden, berichtet Betriebsrat Schwürz. Ein vorzeigbares Leuchtturmprodukt sei leider noch nicht dabei. Der Konzernumbau binde allerdings derzeit auch viel Energie; die neuen Beteiligungsmöglichkeiten böten zwar viele Chancen, forderten aber auch die Betriebsräte neu heraus. Ein anderes Problem: Auf Basis des Zukunftsvertrags können Betriebsrat und Beschäftigte zwar aussichtsreiche Produkte lancieren, wohin die Investitionen dafür im global produzierenden Mahle-Konzern dann allerdings fließen, entscheidet die Geschäftsführung.
An der Sinnhaftigkeit des Vertrags zweifelt Schwürz dennoch nicht: „Vereinbarungen, die nur für wenige Jahre vor betriebsbedingten Kündigungen schützen, sind gut, aber langfristig zu wenig. Das zeigt die Vergangenheit, in der oft Werke geschlossen oder verkauft und Arbeitsplätze abgebaut wurden, wenn der Kündigungsschutz auslief. Wir wollen durch die Verlängerung des Tarifvertrags unbedingt weiter an unserer Zukunft mitarbeiten können.“
Mahle in Zahlen
Im Geschäftsjahr 2024 erzielte Mahle einen Umsatz von knapp 11,7 Milliarden Euro, das ist weniger als in den zwei vorangegangenen Jahren (12,8 bzw. 12,4 Milliarden). Die Zahl der Beschäftigten ging seit 2020 von gut 72 000 auf 67 700 zurück, wobei der Personalabbau Nordamerika und Europa am stärksten traf. „2013 beschäftigte Mahle in Deutschland fast 14 000 Menschen, jetzt sind wir noch knapp 10 000, von denen rund 6000 noch zu 100 Prozent am Verbrenner hängen“, sagt GBR-Chef Schwürz. Nach Angaben des Gesamtbetriebsrats gibt es an 27 Standorten in Deutschland 19 Betriebsratsgremien.