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Magazin Mitbestimmung

Standortschließung: Kündigung auf Finnisch

Ausgabe 09/2012

Für sein Forschungszentrum in Ulm stellte Nokia vor Kurzem noch Investitionen in Aussicht, jetzt müssen sich 730 Arbeitnehmer einen neuen Job suchen. Der Fachkräftemangel hilft enorm bei der Jobsuche – und die gute Wirtschaftslage der Stadt. Von Ingmar Höhmann

Der Betriebsratsvorsitzende Heiner Mosbacher hatte zu Beginn des Jahres noch allen Grund zum Optimismus: Gerade erst hatte die Geschäftsführung das Nokia-Forschungszentrum in Ulm gelobt. Der Standort entwickelte Software, ein Betriebssystem, das den arg gebeutelten Handyhersteller wieder in die Gewinnzone bringen sollte – die Marktreife stand kurz bevor. Das Management hielt große Stücke auf das Projekt. Jeder Dritte der 730 Mitarbeiter hatte seine Stelle in den vergangenen zwei Jahren angetreten, ein weiteres Dutzend hatte schon neue Verträge unterschrieben. Das Gebäude, für das Nokia eben erst einen zehnjährigen Mietvertrag abgeschlossen hatte, reichte nicht mehr aus. Bürocontainer wurden aufgestellt, weil der Platz knapp wurde. Ein Neubau auf dem Kornfeld gegenüber war geplant, in wenigen Wochen sollten die Bagger anrücken.

Jetzt will Nokia den Standort loswerden. „In Ulm wurde im Bereich einfacher Mobiltelefone geforscht“, sagt Pressesprecher Benjamin Lampe. „Aufgrund der veränderten Marktsituation müssen wir uns auf die Themen fokussieren, die das stärkste Potenzial haben. Dies sind Smartphones und ortsbezogene Dienste.“ Die werden allerdings in Berlin entwickelt. Der große Hoffnungsträger der Finnen heißt Lumia: Die neuen Nokia-Smartphones laufen mit dem Microsoft-Betriebssystem Windows Phone und sollen Apple und Samsung Paroli bieten. Alles andere will Nokia auslaufen lassen, auch die Produkte der Tüftler in Schwaben. Längst ist die Handyentwicklung ein globales Geschäft. Nokia unterhält ein gutes Dutzend Entwicklungszentren, außer in Berlin unter anderem in Peking, Berkeley und im finnischen Tampere.

KÜNDIGUNG AUS HEITEREM HIMMEL

Der Traum der Ulmer, in der Nokia-Familie eine wichtige Rolle zu spielen, platzte am 14. Juni. Um acht Uhr morgens informierte Nokia-Vorstandsmitglied Mary McDowell den Betriebsrat von der Schließung des Standorts. Eine halbe Stunde später versammelte sich die Belegschaft in der Kantine. Auf einer Leinwand spielte McDowell eine Videobotschaft von Konzernchef Stephen Elop ab: Es liege nicht an der Arbeit der Mitarbeiter, sagte er, doch der Beschluss sei notwendig. Schockstarre habe sich breitgemacht, erinnert sich Mosbacher. „Das kam für uns völlig überraschend.“ Die Frage, wann Nokia das Zentrum schließen wolle, mochten weder McDowell noch Elop beantworten, dafür aber die Journalisten, die nach der Versammlung beim Betriebsrat anriefen. Das Aus sei für den 30. September geplant – so habe es Nokia gerade per Pressemitteilung verkündet.

Kündigung aus heiterem Himmel – das hat bei Nokia System. Nach Belieben hat der Handyhersteller in den vergangenen Jahren Standorte eröffnet, verlagert und geschlossen. Diesmal trifft es die Mitarbeiter in Ulm. Gewerkschafter, Politiker und Ökonomen kritisieren das radikale Vorgehen, mit dem der Handykonzern aus Finnland seinen zuvor hochgelobten deutschen Hightech-Standort für überflüssig erklärt hat. „Wie so oft hat das Management nur auf die Zahlen geschaut, ohne einen Gedanken an die Belegschaft zu verschwenden“, sagt Petra Wassermann, Erste Bevollmächtigte der IG Metall in Ulm. „Ich finde das zynisch und rücksichtslos. Nokia hat sich schon häufig mit diesem Stil vorgetan.“ Beispiel Bochum: 2008 machte Nokia das Werk mit 2300 Mitarbeitern dicht und verlegte die Produktion ins rumänische Cluj.

Mittlerweile ist auch diese Fabrik geschlossen, nun entsteht im noch billigeren Vietnam Ersatz. Die jüngste Sparrunde hat es besonders in sich: 10 000 Mitarbeiter weltweit sollen bis 2013 das Unternehmen verlassen. Neben Ulm betrifft das auch Standorte im kanadischen Burnaby und im finnischen Salo. Der Umgang mit den eigenen Mitarbeitern ist dabei nicht die Stärke des Konzerns. „Nokia hat Probleme, den Slogan ‚Connecting people‘ auch nach innen durchzusetzen“, sagt Torsten Gerpott, Inhaber des Lehrstuhls für Unternehmens- und Technologieplanung sowie Telekommunikationswirtschaft an der Universität Duisburg-Essen. „Veränderungsmanagement heißt nicht, sich im finnischen Kämmerlein Schließungen auszudenken, ohne die Arbeitnehmer zu informieren und mitzunehmen.“

GIGANTISCHE VERLUSTE

Dass es dem Konzern nicht gut geht, hätte allerdings auch den Ulmern schon vor dem 14. Juni bekannt sein müssen. Über mehrere Jahre wies der Aktienkurs meist nach unten – ein Indiz dafür, dass das Vertrauen in die Innovationsfähigkeit sank. Allein im zweiten Quartal machte der Konzern 1,41 Milliarden Euro Verlust – viermal mehr als im Vorjahreszeitraum. Der Umsatz brach um rund ein Fünftel auf 7,5 Milliarden Euro ein. Viele sehen Nokia sogar als Pleitekandidat. Die Aktien sind an der Börse kaum noch etwas wert, der Kurs lag Mitte Juli bei 1,70 Euro – 95 Prozent niedriger als noch Anfang 2008. Gerpott beziffert die Überlebenschancen des Konzerns auf 50 Prozent. „Die finanzielle Situation ist katastrophal“, sagt er. „Nokia muss in den nächsten sechs bis zwölf Monaten neue Modelle auf den Markt bringen, die sich gegen die Smartphones von Samsung und Apple durchsetzen, sonst droht die Insolvenz oder der Verlust der Unabhängigkeit.“ Doch die Probleme sind hausgemacht: Viel zu lange habe das Unternehmen an überholten Konzepten festgehalten, sagt Wirtschaftsprofessor Gerpott. „Das waren klare Managementfehler. Nokia war zu optimistisch und hat den Kopf in den Sand gesteckt, als Wettbewerber wie Samsung und Apple den Markt aufrollten.“ Seit Jahren schrieben Marktforscher, dass Touchscreen-Smartphones die Zukunft gehörten – nur im Nokia-Vorstand kam das nicht an. Stattdessen stellte das Unternehmen weiter Tastentelefone her. Auch das Festhalten an der eigenen Symbian-Betriebsplattform gilt als Kardinalfehler des Managements. „Es ist für mich unverständlich, dass für Symbian so lange erhebliche Ressourcen eingesetzt wurden, obwohl absehbar war, dass die Plattform keine Überlebenschance haben würde“, sagt Gerpott.

Dem radikalen Kurswechsel bei der Betriebssystem- und Modellpolitik widerspricht Betriebsratschef Mosbacher nicht – wohl aber der Schließung als Konsequenz: „Wir können auch in Ulm Smartphones entwickeln, das wäre überhaupt kein Problem. Aber offenbar sieht das Management das anders.“ Mosbacher kennt die Entscheidungskultur bei Nokia: Als Gesamtbetriebsrat in Deutschland hat er seit 2008 das Aus für die Standorte Bochum, Frankfurt und München sowie Stellenkürzungen in Ratingen begleitet. Jetzt erlebt er das Gleiche in Ulm. Manchmal könne er die Schließung rational sehen, als rein finanzielle Entscheidung, sagt er. „Dann aber gewinnen die Emotionen Überhand: Wie kann ein Unternehmen so mit seinen Mitarbeitern umgehen?“

GEFASST OB DER SCHLIESSUNG

Sichtlich gefasst sehen die Mitarbeiter dem Ende entgegen. Bei einer Aktion auf dem Münsterplatz in Ulm Ende Juni verzichteten sie darauf, den Konzernnamen zu nennen, Trillerpfeifen waren tabu. Stattdessen organisierte der Betriebsrat einen „Smart-Mob“, eine Blitzdemonstration. Dafür nutzte er die Public-Viewing-Anlage von „Radio 7“. Als der Lokalsender den Nokia-Klingelton abspielte, zogen 400 Mitarbeiter gleichzeitig ein T-Shirt mit der Aufschrift kyvyt.com an – Finnisch für „Talente“. Auch ein aufgedruckter QR-Code verwies auf die Internetseite, auf der die Nokianer ihre Jobprofile hinterlegt haben. „Wir wollten zeigen, dass bei uns Talente schlummern und Investoren anlocken“, sagt Mosbacher.

Auch wegen ihrer Kooperationsbereitschaft konnten sich die Arbeitnehmer innerhalb von zwei Wochen mit der Geschäftsführung auf einen Interessenausgleich einigen. Dank ihres Engagements wird der Standort nun erst Ende Dezember schließen. Das gibt den Mitarbeitern mehr Zeit, sich neue Jobs zu suchen. Außerdem profitieren so auch diejenigen, die sich derzeit noch in der Probezeit befinden, von den vereinbarten Ausgleichszahlungen. Ein weiterer Punkt: Die Arbeitnehmer können am Nokia-Bridge-Programm teilnehmen. Das sieht unter anderem Fortbildungen und eine finanzielle Unterstützung für Mitarbeiter vor, die sich selbstständig machen wollen.

Das Durchschnittsalter der Arbeitnehmer in Ulm beträgt rund 38 Jahre. Viele haben sich kürzlich noch eine Immobilie zugelegt. Zeljko Majstoro, zuständig für die technische Produktzulassung, hatte Glück im Unglück: Er stand kurz davor, für die Familie ein Eigenheim zu kaufen. „Dann habe ich die Entscheidung bis nach dem Urlaub vertagt“, sagt der 42-Jährige. „Heute bin ich erleichtert, dass ich nicht unterschrieben habe. Bei der Arbeitssuche bin ich jetzt flexibler.“ Trotz der sicheren Kündigung herrscht unter den Ulmer Handy-Spezialisten Gelassenheit. „Zumindest herrschen nun klare Verhältnisse“, sagt Michael Reiner, der seit 14 Jahren bei Nokia in Ulm arbeitet. Der Projektleiter und stellvertretende Betriebsratsvorsitzende ist mit 53 Jahren einer der Älteren, doch er sieht auch für sich gute Chancen in anderen Unternehmen. „Kurz nachdem Nokia die Schließung bekannt gegeben hatte, riefen schon Firmen an, die Mitarbeiter abwerben wollten“, sagt er.

STABILER ARBEITSMARKT

Die Arbeitslosenquote in Ulm liegt bei 3,4 Prozent, auch in anderen Städten in der Region ist der Arbeitsmarkt leer gefegt. Viele Unternehmen suchen händeringend nach Fachkräften – die hoch qualifizierten Nokia-Ingenieure sind für sie ein Glücksfall. Woche für Woche reisen Rekrutierungsteams an, um den Nokianern ihre Betriebe vorzustellen. Im Intranet haben die Ulmer inzwischen mehr als 1000 Stellenanzeigen gesammelt. „Die meisten Kollegen werden schnell einen neuen Job finden“, sagt Betriebsrat Mosbacher. „Aber klar ist auch: Beim Lohn müssen wir wohl Abstriche machen. Viele werden zudem umziehen müssen, fast alle Stellenangebote liegen außerhalb von Ulm.“ Manche werden einen besonders aufwendigen Umzug in Kauf nehmen müssen. Ein kanadischer Mitarbeiter etwa hatte erst vor Kurzem seine Stelle in Ulm angetreten. Er und seine Frau hatten ihr Haus in Kanada verkauft, ihre Jobs aufgegeben. Nokia versprach ihm eine sichere Zukunft. Mit der Kündigung verliert er nicht nur seine Arbeit, sondern auch seine Aufenthaltserlaubnis. 

Text: Ingmar Höhmann / Foto: Ingmar Höhmann

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