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Zu sehen sind Bühne mit Vortragendem und Publikum bei der Pflegetagung des HSI 2025 Service aktuell

Tagungsbericht: Es geht nicht nur ums Geld: Wie Reformen die Tarifbindung in der Pflege unterlaufen

Händeringend werden Pflegekräfte gesucht. Zwar sind die Entgelte in der Pflege mittlerweile besser als viele denken. Doch ansonsten haben gute Arbeitsbedingungen Seltenheitswert – und neue Gesetze verschärfen manche Probleme sogar. Auf dem Abschlussworkshop des Forschungsprojekts „Sozialrecht und Tarifbindung“ von Hugo Sinzheimer Institut und Forscher*innen der Universität Kassel diskutierten Expert*innen, wie die Tarifbindung in der Pflege gestärkt werden könnte – und warum bessere Bezahlung allein nicht reicht.

[30.06.2025]

Von Jeannette Goddar

Rund zwei Millionen Menschen in Deutschland arbeiten in der Pflege. Sie leisten körperlich wie emotional herausfordernde Arbeit, auf die Patient*innen, Klient*innen und Angehörige dringend angewiesen sind. „Pflege ist ein Thema, das jeden angeht“, mit diesen Worten begrüßte Ernesto Klengel, Direktor des Hugo Sinzheimer Instituts (HSI) der Hans-Böckler-Stiftung in Berlin rund 50 Expert*innen aus Gewerkschaften, Wissenschaft, Politik und Praxis. 

Sie diskutierten die Ergebnisse des interdisziplinären Forschungsprojekts „Sozialrecht und Tarifbindung“. Das Projekt beleuchtet die vielschichtigen Arbeitsbeziehungen in der Pflege, die nicht nur durch das Arbeits-, sondern auch durch das im Sozialrecht verortete Leistungserbringungsrecht bestimmt sind. Das regelt die Beziehungen zwischen Leistungsträgern, -erbringern und Hilfebedürftigen; also beispielsweise zwischen Pflegebedürftigen, einer Pflegeeinrichtung und der Pflegeversicherung. 

Der Handlungsdruck ist in Zeiten einer alternden Bevölkerung und eines sich stetig weiter verschärfenden Fachkräfte- und Personalmangels immens. Entsprechend viele Anstrengungen unternehmen Bundesregierungen seit Jahrzehnten, um die Lage zu verbessern, von der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns über eine Ausbildungsreform bis hin zur „Konzertierten Aktion Pflege“. Mit dieser wollten Bund und Länder mit den Sozialpartnern und Trägern einen allgemeinverbindlichen Branchentarifvertrag durchsetzen. Doch das Vorhaben scheiterte am Veto kirchlicher Träger. Als Reaktion darauf wurden 2022 Regelungen zur Tarifvergütung in der Pflege eingeführt: Seither müssen Pflegekräfte mindestens nach Tarif, den kirchlichen Arbeitsrechtsregeln oder dem Durchschnittslohn des jeweiligen Bundeslands – plus 10 Prozent Spielraum – bezahlt werden.

Doch was gut gemeint war, droht die Tarifbindung weiter zu schwächen – so lautet ein zentrales Ergebnis des Forschungsprojekts. Es komme zu einer „Benachteiligung derer, die nach Tarif bezahlen“, erläuterte in Berlin Judith Brockmann. Denn: Pflegeeinrichtungen ohne Tarifbindung könnten nach der neuen Regelung die von den Versicherungen refinanzierten Gehälter so gestalten, dass sie auch über Tariflohn zahlen. Die Pflegeeinrichtungen ohne Tarifbindung können so etwa junge Pflegekräfte mit deutlich höheren Einstiegsgehältern locken. Die Arbeits- und Sozialrechtlerin Brockmann hat zusammen mit dem Sozial- und Gesundheitsrechtler Felix Welti das Forschungsprojekt in Kooperation mit dem HSI geleitet.

Die Reform führte so zu Ungleichbezahlung in den Pflegeeinrichtungen und schwächt Mitbestimmung und Tarifbindung. „Der Gesetzgeber darf auch schlechte Gesetze machen“, kommentierte trocken Jens M. Schubert, Professor für das Recht der Sozialen Arbeit an der BTU Cottbus-Senftenberg und ehemaliger ver.di-Bereichsleiter Recht & Rechtspolitik. Er lobte zugleich die Studie – und äußerte die Hoffnung, dass die Umsetzung der EU-Entgelttransparenzrichtlinie im Jahr 2026 für neuen Schwung in der Debatte sorgt, wenn Lohndiskriminierung sichtbar wird. 

Der Soziologe Olaf Struck (Universität Bamberg) wies auf die große „Primärmacht der Beschäftigten“ hin. Fachkräfte seien knapp und selbst Hilfskräfte schwer ersetzbar: „Wer mit einer demenzkranken Person gut zurechtkommt, wird nicht ausgetauscht.“ Doch diese Macht übersetze sich bislang kaum in gewerkschaftliche Organisation. Ein Grund dafür ist, dass eine Reihe Beschäftigte das Wohlergehen derer, mit denen sie arbeiten, bis über die Grenze der Überforderung hinaus über das eigene stellen. Silke Trumpa, Professorin für Fachdidaktik Gesundheit an der Hochschule Fulda verwies auf Zeiten, als die Pflege von Kranken und Alten karitative Aufgabe von Ordensschwestern war. „Die Bereitschaft, sich für Gotteslohn aufzuopfern, sollte eigentlich mit dem Häubchen abgelegt worden sei. Doch sie schwingt immer noch mit.“

„In Zeiten dünner Personaldecke besteht kaum ein Unterschied zwischen Notdienstbesetzung und Normalbetrieb.“

Neben dem Berufsethos erschwert auch das Arbeitsrecht die Durchsetzung der Interessen von Beschäftigten. So dürfen Pflegekräfte nur streiken, wenn die Versorgung sichergestellt ist. „Vor jeder Tarifauseinandersetzung steht eine Auseinandersetzung über eine Notdienstvereinbarung“, erklärte der ver.di-Gewerkschaftssekretär für Recht & Rechtspolitik Arnold Arpaci, und fügte hinzu: „In Zeiten dünner Personaldecke besteht kaum ein Unterschied zwischen Notdienstbesetzung und Normalbetrieb.“ Wenn er dann noch erlebe, dass tariflose Einrichtungen Berufsanfänger*innen mit höheren Gehältern köderten, gingen ihm als Kämpfer für gewerkschaftliches Engagement zuweilen die Argumente aus: „Was sind das für Regelungen?“

Den Wettbewerbsnachteil für tarifgebundene Arbeitgeber bestätigte Alexander Schraml, der Vorstandsvorsitzende des Bundesverbands der kommunalen Senioren- und Behinderteneinrichtungen (BKSB). Der Verband bezahlt seine Mitarbeitenden nach TVöD. „Unsere Situation hat sich durch die Tariftreueregelung verschlechtert.“ Zusätzlich, so Schraml, litten tarifgebundene Einrichtungen unter einem deutlich höheren Verwaltungsaufwand. Sein Plädoyer – und da war er sich mit den Gewerkschafter*innen nicht einig: der Misere durch einen Pro-Pflege-Mindestlohn beizukommen.

Michaela Evans-Borchers vom Institut für Arbeit und Technik wies darauf hin, dass mehr Mitbestimmung auch helfen würde, ein weiteres Kardinalproblem anzugehen: die widrigen Arbeitsbedingungen, an denen sich – anders als bei der Bezahlung – so gut wie nichts geändert hat. „Mit Geld allein ist es nicht getan“, erklärte die Sozialwissenschaftlerin. Bessere Bedingungen seien auch wichtig, um Teilzeitkräfte zu motivieren, mehr Stunden zu arbeiten, und so die allerorten knappe Personalsituation zu verbessern. Silke Trumpa verwies auf eine Umfrage unter Aussteiger*innen aus der Pflege. Demnach wäre ein fairer Umgang im Team die wichtigste Voraussetzung für eine Rückkehr in den Beruf, gefolgt von wertschätzenden Vorgesetzten und einer besseren Personalbemessung.

Auch vor dem Hintergrund einer umfassenden Verbesserung der Arbeitsbedingungen betonte der Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder (Universität Kassel) die doppelte Bedeutung von Mitbestimmung: Sie sei sowohl für die Entwicklung individueller Kompetenzen zur Bewältigung des Berufs als auch für strukturelle Verbesserungen zentral. Er empfahl, gezielt Anreize für eine „Vergewerkschaftung“ zu schaffen, auch durch niedrigschwellige Angebote wie Apps zum Gesundheits- oder Zeitmanagement. Zugleich gelte es, den Arbeitgebern zu vermitteln, dass mehr Mitbestimmung und Tarifbindung zu einer Win-win-Situation führen. Einen Grund, sich frustriert zurückzulehnen, sah er nicht: „In den 1950er Jahren war auch VW noch kaum gewerkschaftlich organisiert.“

Bei der Politik ist auf dem Weg dorthin noch Überzeugungsarbeit zu leisten, wie auf dem Abschlusspodium deutlich wurde. Heike Hoffer, Leiterin des Referats Fachkräftesicherung Inland und der Projektgruppe Pflege im Bundesgesundheitsministerium, erklärte, dass die Tariftreueregelung ja gar nicht mit dem Ziel eingeführt wurde, die Tarifbindung zu stärken, sondern um die Löhne in der Altenpflege anzuheben. Das sei gelungen. Michael Vollert, Referatsleiter im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, ergänzte, dass unterschiedliche Interessen, etwa die Finanzierbarkeit, berücksichtigt werden müssten.

Markus Hofmann, Abteilungsleiter Sozialpolitik im DGB, forderte eine grundlegende Reform der Finanzierung: „Teilkasko reicht nicht.“ Eine Pflegevollversicherung sei notwendig, denn angesichts in die Höhe schießender Eigenanteile bekämen viele Menschen bereits jetzt nicht mehr die Leistungen, die sie bräuchten. Hofmann forderte außerdem, dass Gelder aus der Sozialversicherung nur in tarifgebundene Einrichtungen fließen dürfen – nicht an profitorientierte Konzerne.

Mit Blick auf die geplante „große Pflegereform“ der neuen Bundesregierung mahnte Studienleiter Felix Welti, frühzeitig ein begleitendes Monitoring einzuplanen. Denn: „Das Leben ist immer klüger als die Gesetzgebung.“

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