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Team beim Fahrradhersteller Canyon mit Rädern: Waldemar van Heesch (links), Mitarbeiter in der Verpackung, mit Betriebsrat Robert Brückner (Mitte) und IG Metall-Sekretär Markus Friedel Magazin Mitbestimmung

Kampagne: Yes We Canyon!

Ausgabe 02/2024

Die IG Metall und der Koblenzer Fahrradhersteller Canyon haben den ersten Tarifvertrag in der bislang mitbestimmungsfernen Branche abgeschlossen. Von Stefan Scheytt

Auf seiner Website versammelt der Koblenzer Fahrradhersteller Canyon in einer „Story Corner“ allerlei Geschichten: über packende Rennen, heldenhafte Radprofis, begeisterte Freizeitradler, bahnbrechende Innovationen – natürlich alles mit und auf Canyon-Rädern. Eine Geschichte jedoch, die viele Kunden mit ebenso großem Interesse lesen würden, sucht man vergebens: die Geschichte vom ersten Tarifvertrag in der deutschen Fahrradbranche. Ob die Vereinbarung zwischen der IG Metall und Canyon auf die Branche ausstrahlt, muss sich noch zeigen. Sicher ist indes: Gewerkschaft und Belegschaft sind zu Recht mächtig stolz auf diesen „historischen Schritt“.

Einer, der im Zentrum des Geschehens steht, ist der Koblenzer IG Metall-Sekretär Markus Friedel, der sich selbst einen Fahrradverrückten nennt, weil er früher zum Beispiel 24-Stunden- und Siebentagerennen fuhr. Schon deshalb war ihm Canyon ein Begriff, als er vor drei Jahren von der Position des Betriebsratsvorsitzenden bei einem großen Autozulieferer aus Neckarsulm zur IG Metall wechselte.

Tolle Produkte, schlechte Löhne

Wie Markus Friedel sprechen auch Canyon-Betriebsräte und -Beschäftigte sehr anerkennend über das Unternehmen, das rund 1400 Menschen beschäftigt und beim Umsatz in Richtung eine Milliarde Euro unterwegs ist: Sie betonen die
gute Atmosphäre und die authentische Duz-Kultur, sie berichten, dass die Begeisterung fürs Fahrradfahren und fürs Produkt die junge Belegschaft stark verbinde. Vor allem die frühe Entscheidung, Fahrräder ausschließlich online zu
verkaufen, habe das Unternehmen zu einem der Topanbieter weltweit gemacht.

Doch die Zufriedenheit bekam unübersehbare Risse, als die galoppierende Inflation viele Beschäftigte an die Wand drückte, während das Unternehmen vom Verkaufsboom der Coronajahre zehren konnte. „Lange Zeit wurde das niedrige Gehaltsniveau durch Leidenschaft fürs Produkt und fürs Unternehmen kompensiert“, sagt der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Robert Brückner, „aber irgendwann merkt man, dass man davon keine Familie ernähren kann.“ Markus Friedel ergänzt: „Manche Mitarbeiter gingen für 40 Wochenstunden mit 2.000 oder 2.200 Euro brutto nach Hause. Einige hatten Nebenjobs, um über die Runden zu kommen.“

„Damit Menschen sich bewegen, müssen sie mit ihrer aktuellen Situation nicht mehr klarkommen“, lautet Friedels Merksatz. Er spürte, dass dieser Moment bei Canyon gekommen war, und überzeugte in einer Betriebsratsklausur Mitte 2022 die Kollegen, trotz eines gescheiterten Anlaufs vor wenigen Jahren erneut den Versuch zu wagen, Mitglieder für die IG Metall zu gewinnen und einen Tarifvertrag zu erkämpfen. „Ich hatte einen kleinen Kreis hochmotivierter Mitglieder im Betrieb. Nach einem sehr erfolgreichen Testballon im Lager konnten wir tatsächlich eine Lawine im Unternehmen auslösen“, so Friedel. Bei ihrer Forderung nach einem Tarifvertrag verzichteten die Beschäftigten auf Warnstreiks. Stattdessen verbreiteten sie ihre Botschaft etwa auf einer Veranstaltung zum 1. Mai mit dem Bundeskanzler in Koblenz sowie auf diversen Radrennen und ließen durchblicken, dass auch die Tour de France eine Bühne sein könnte, wenn sich Canyon nicht bewegen würde. Als „stärkste Waffe“ bezeichnet Friedel jedoch die Kampagnen-Website mit dem Namen www.yeswecanyon.de. 2023 griffen darauf mehr als 70 000 User weltweit zu, 7000 abonnierten den Newsletter. Friedel ist überzeugt, dass Canyon Respekt vor diesem Instrument hatte, und rät anderen: „Tarifbewegung in der Zweiradbranche muss vor allem in den sozialen Medien stattfinden.“

Mitbestimmung unerwünscht

Die Ausgangssituation bei Canyon ist typisch für die deutsche Zweiradbranche. Sie ist traditionell gewerkschafts- und mitbestimmungsfern. IG Metall-Sekretär Markus Friedel kennt nur drei größere Betriebe, die überhaupt einen Betriebsrat
haben. In letzter Zeit, wohl ausgelöst durch die yeswecanyon-Kampagne, hätten ihn zwar einige Anfragen von Beschäftigten in anderen Unternehmen erreicht, eine Bewegung könne er jedoch noch nicht feststellen.

Nach monatelangen Verhandlungen im vergangenen Jahr gilt nun seit 2024 der neue Haustarifvertrag. Zu dessen Errungenschaften gehört das schrittweise Abschmelzen der Wochenarbeitszeit bis 2028 von 40 auf dann 37,5 Stunden. Weil Canyon schon 2023 auf den Druck reagierte und die Gehälter spürbar anhob – das Einstiegsgehalt in Montage und Logistik beträgt jetzt gut 2.800 Euro –, ist der Lohneffekt durch den neuen Vertrag relativ moderat: Von diesem Mai an gibt es ein monatliches Zusatzgeld von 3,3 Prozent. Tariflich gesichert ist jetzt auch das erhöhte Weihnachtsgeld – je nach Betriebszugehörigkeit zwischen 750 und 3.250 Euro – sowie eine zusätzliche Inflationsausgleichspauschale in diesem Jahr von bis zu 1000 Euro. Zudem werden die Entgelte künftig an die Entwicklung der Flächentarife in der Metall- und Elektroindustrie Rheinland-Pfalz gekoppelt.

Weitere Highlights sind die unbefristete Übernahme von Azubis und dual Studierenden sowie die in den Medien viel beachtete Menstruationsfreistellung: Seit diesem Jahr können sich Frauen an zwei Tagen im Jahr freistellen lassen, von 2025 an sind es vier Tage; zudem werden Periodenartikel kostenlos zur Verfügung gestellt. Zwei beziehungsweise vier zusätzliche Freistellungstage stehen den Beschäftigten nun auch für die Betreuung kranker Kinder und pflegebedürftiger Angehöriger zur Verfügung.

Das ist eine Menge Holz für einen „Einstieg in die Tarifwelt“, wie Betriebsrat Brückner und IG Metall-Sekretär Friedel erklären. Aber noch lange nicht das Ende: Bis Ende 2024 verpflichtet der Tarifvertrag zu weiteren Verhandlungen mit dem Arbeitgeber über ein Entgeltrahmenabkommen und einen Manteltarifvertrag. Waldemar van Heesch, gelernter Fensterbauer, der vor vielen Jahren über eine Zeitarbeitsfirma zu Canyon kam und heute als Koordinator in der Verpackung schichtet, sagt: „Ich bin sehr stolz auf das Erreichte. Ich bin stolz darauf, für ein so tolles, modernes
Unternehmen arbeiten zu dürfen. Wenn man fair miteinander umgeht und bereit ist zu Kompromissen, kann man viel bewegen.“

Van Heesch leistete seinen Beitrag auch dadurch, dass er manche Kollegen von einer Mitgliedschaft in der IG Metall überzeugen konnte. Die Region Koblenz zählt jetzt so viele Mitglieder wie nie zuvor seit Bestehen der Geschäftsstelle.
Ein Teil davon ist einer Gebietsreform geschuldet, ein anderer geht jedoch auf das Konto diverser Tarifabschlüsse und der erstmaligen Tarifbindung beim Fahrradhersteller Canyon.


Schwieriges Umfeld

Nach einem Boom während der Coronajahre sitzen jetzt viele Fahrradhändler auf vollen Lagern. 2023 wurden erstmals mehr E-Bikes als klassische Räder verkauft. Der Markt hat sich stark verändert. Umsatztreiber sind die im Schnitt 2.950  Euro teuren E-Bikes (klassische Räder: 470 Euro). In die Zukunft blickt die Branche hoffnungsvoll, denn Fahrräder und E-Bikes haben sich zu einem hochwertigen Mobilitäts- und Freizeitprodukt mit hohen durchschnittlichen Verkaufspreisen entwickelt.

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