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Kämpferisch gestimmt: Warnstreik im Conti-Werk Rheinböllen Magazin Mitbestimmung

Arbeitskampf: Schluss mit Kuschelkurs

Ausgabe 05/2021

Beim Automobilzulieferer Continental wehrten sich Gewerkschaft, Betriebsräte und Belegschaften erfolgreich gegen die Kahlschlagpläne der Konzernführung. Von Andreas Molitor

Es waren entscheidende Stunden – und so mancher Betriebsratskopf war hochrot angelaufen vor Wut. „Die Stimmung war grauslich“, erinnert sich Anne Nothing, die Vorsitzende der Belegschaftsvertretung, an jene denkwürdigen Sitzungen. „Es wurde geschrien und durcheinandergebrüllt. Es war ein harter Kampf um die Macht.“

Der Betriebsrat des Continental-Werks in Babenhausen, 30 Kilometer südöstlich von Frankfurt am Main, stand vor einer schweren Entscheidung: Wie sollte man sich zu den Kahlschlagplänen der Konzernführung verhalten? In der Vergangenheit hatten Werksleitung und Betriebsrat gut harmoniert. Die Beschäftigten waren damit nicht schlecht gefahren – solange die Fabrik schnurrte und die Anzeigeinstrumente aus Babenhausen guten Absatz fanden. Doch jetzt war die Situation komplett anders: 2600 von 3400 Beschäftigten sollten ihren Arbeitsplatz verlieren, die Produktion schon 2025 völlig eingestellt und nach Serbien verlagert werden.

Im Betriebsrat kam es zum erbitterten Streit. Der langjährige Vorsitzende scheute den Konflikt mit der Werksleitung. Er war bereit, den vorgelegten Rahmensozialplan zu akzeptieren, mit ein paar Nachbesserungen hier und dort, und das Werk mit dem Arbeitgeber zu Grabe zu tragen.

Stimmung gedreht

In dieser Situation übernahm Anne Nothing im Betriebsrat die Regie. Die studierte Drucktechnikerin, seit 2004 im Werk und seit 2014 Betriebsrätin, löste ihren gesundheitlich angeschlagenen Vorgänger ab. Sie nutzte die Gunst der Stunde, rüttelte die Kolleginnen und Kollegen im Betriebsrat wach und drehte die Stimmung zuerst im Gremium, dann in der Belegschaft. „Wie lange wollen wir denn noch warten?“, rief sie der versammelten Belegschaft entgegen. „Wie lange wollen wir noch dasitzen wie das Kaninchen vor der Schlange?“

Ähnlich ging es zur gleichen Zeit an vielen deutschen Continental-Standorten zu. Babenhausen war nur ein Puzzleteil in den Plänen des Managements, denen 13 000 Arbeitsplätze allein in Deutschland zum Opfer fallen sollten – im Aufsichtsrat verabschiedet mit dem Doppelstimmrecht des Vorsitzenden Wolfgang Reitzle.

Etliche Werke, die den ehrgeizigen Renditezielen im Weg standen, fanden sich auf der Sterbeliste wieder oder sollten bis auf einen kläglichen Rest schrumpfen. Vereinfacht gesagt: Fast jeder Standort des traditionsreichen Automobilzulieferers, der am Verbrenner und erst recht am Dieselmotor hing, stand zur Disposition. Den Umsatzeinbruch infolge der Coronakrise nutzte die Konzernführung, um den schon eingeschlagenen Kostensenkungskurs noch einmal dramatisch zu verschärfen. Das Management sieht die Zukunft des Unternehmens nicht als klassischer Automobilzulieferer, sondern – befeuert durch Zukäufe wie den des israelischen Cybersicherheitsspezialisten Argus – als Technologiekonzern.

  • Anne Nothing Conti Betriebsrätin

„Und dann hab‘ ich gesagt: ‚Wollen wir uns das wirklich bieten lassen? So, jetzt halten wir einfach mal dagegen.‘“

ANNE NOTHING, Betriebsratsvorsitzende des Continental-Werks Babenhausen

Bei der IG Metall keimte zunächst noch die Hoffnung, man könne mit dem Management Zukunftsvereinbarungen für die gefährdeten Standorte erarbeiten – mit langfristigen Perspektiven, nötigen Investitionen, Ideen für neue Produkte und einer Schätzung der dafür nötigen Belegschaftsstärke. Aber dann, erinnert sich Jörg Köhlinger, Leiter des IG Metall-Bezirks Mitte, „wurde uns schnell klar, dass sie über den Abbau der 13 000 Jobs überhaupt nicht mehr reden wollten“.

Die Gewerkschaft brach die Gespräche ab – und stellte unter dem Motto „Solidarisch in die Offensive“ die Signale auf Konflikt um. „Es begann der Kampf um jeden Arbeitsplatz an den einzelnen Standorten“, sagt Jörg Köhlinger. In seinem Bezirk, der Hessen, Rheinland-Pfalz, das Saarland und Thüringen umfasst,­ ­liegen etliche der am schwersten vom Kahlschlagszenario betroffenen Standorte. Doch der Bezirkschef wusste, dass die Belegschaften vor Ort aus dem Stand alles andere als arbeitskampffähig waren. Der Organisationsgrad lag im Schnitt bei 30 Prozent. Außerdem, so Köhlinger, „waren die Betriebsräte nicht konflikterprobt“, sondern traditionell auf friedliche Einigung ausgerichtet. Dem Gewerkschafter war klar: „Wir werden uns auf keinen Fall in das Abenteuer eines Arbeitskampfs stürzen, wenn wir von vornherein wissen, das wir nicht gewinnen können.“

Unter der Regie der Bezirksleitung und der Geschäftsstellen wurden die Standorte stufenweise per Regieanweisung in den Arbeitskampfmodus versetzt. Köhlinger und sein Team schickten ihre Gewerkschaftssekretäre in jedes Werk. „Die schnelle Eingreiftruppe“, sagt Anne Nothing halb scherzend, „führte Eins-zu-eins-Gespräche am Arbeitsplatz; jeder wurde angesprochen.“ Mit Erfolg: Der Organisationsgrad schnellte überall in die Höhe, in Babenhausen etwa von 30 auf 70 Prozent. Insgesamt konnten im Bezirk 1200 Mitglieder gewonnen werden.

Minenhund Babenhausen

Das Babenhausener Werk war der Minenhund für die Eskalationsstrategie, die mit Werksrundgängen, Betriebsversammlungen und Arbeitskampfschulungen begann. „Wenn der Werksleiter vor der versammelten Mannschaft redet, dreht ihr Euch einfach alle um“, hatte Anne Nothing die Belegschaft instruiert. Der Mann war total irritiert. So etwas hatte er noch nie erlebt.

Nun rollte die Protestwelle – mit Autokorsos, drei Warnstreiks, einem 24-Stunden-Streik und der Vorbereitung der Urabstimmung über einen unbefristeten Streik. Hierzu hatte der Vorstand der IG Metall bereits seine Genehmigung erteilt.

Die Werksleitung war völlig überrascht. „Der Arbeitgeber hatte mit unserer Eskalationsfähigkeit nicht gerechnet“, sagt Jörg Köhlinger, „die Chefs vor Ort waren regelrecht überfordert.“ Im Bebraer Werk etwa musste die Werksleitung beim Betriebsrat nachfragen, was denn eigentlich passiert nach so einer Urabstimmung.

Im Januar kam es – kurz vor Streikbeginn und unter dem Druck der Autohersteller, die um dringend benötigte Zulieferungen bangten – zur Einigung in Babenhausen. Der Sanierungstarifvertrag legt fest, dass der Standort bis 2028 erhalten bleibt, drei Jahre länger als ursprünglich vorgesehen. Betriebsbedingte Kündigungen gegenüber IG Metall-Mitgliedern sind bis Ende 2022 ausgeschlossen. Danach nehmen Beschäftigte, die ihren Conti-Job verlieren, immerhin 40 000 bis 60 000 Euro mehr mit nach Hause, als es der Rahmensozialplan vorsah. Außerdem wurden zwei Zukunftsprojekte vereinbart.

Signal, dass sich Widerstand lohnt

Damit war der erste Dominostein gefallen. Die Kunde aus Babenhausen mit den dort vereinbarten Abfindungen verbreitete sich wie ein Lauffeuer an den anderen Standorten. Es war das Signal, dass gemeinsamer Widerstand sich lohnt. Die Belegschaften der anderen Conti-Werke im IG Metall-Bezirk Mitte wollten sich nun nicht mit weniger abspeisen lassen. Auch hier entflammte der Protest.

Überall gab der Arbeitgeber schließlich nach und willigte in längere Fristen für den Stellenabbau und deutlich höhere Abfindungen ein. An einigen Standorten wurde der Einsatz von Transfergesellschaften für die Suche nach neuen Jobs festgeschrieben. Im rheinland-pfälzischen Rheinböllen werden die Entwicklung und die Produktion eines autonom fahrenden Transportfahrzeugroboters vorangetrieben – ein Hauch von Zukunft für ein Werk, das der Konzern schon abgeschrieben hatte.

Jörg Köhlinger wertet das vereinbarte Bündel von Sanierungs- und Zukunftstarifverträgen als Ermutigung für andere. „Wir haben uns in einer Notwehrsituation zu gemeinsamem Handeln gegen einen vermeintlich übermächtigen Gegner zusammengeschlossen und Erfolg gehabt, weil wir glaubwürdig eskalationsfähig waren.“ Das Ergebnis sei keine komplette Rücknahme der Kahlschlagpläne, sondern ein Kompromiss, erkämpft „aus einer schwierigen Defensivsituation“.

In einigen Werken hätten die Beschäftigten gern noch mehr rausgeholt. Nach all den Monaten des Konflikts waren sie auf Streik gebürstet, wollten es den Bossen mal so richtig geben. Und nun? Höhere Abfindungen, vielleicht eine Transfergesellschaft, eine verlängerte Sterbefrist. Die Conti-Werker im thüringischen Mühlhausen wiederum sind enttäuscht, weil sich ihr verbissener und solidarischer Kampf sowohl für die eigene Fabrik als auch für das „Schwesterwerk“ im hessischen Bebra für sie nicht, wie erhofft, auszahlt: Ihre Fabrik wird – was allerdings fast zu erwarten war – geschlossen, wenn auch zwei Jahre später als geplant.

Hätte man nicht doch einen unbefristeten Streik wagen sollen? Die Betriebsräte hatten nach der Einigung vielfach Probleme, die Belegschaften wieder einzufangen und für die ausgehandelten Kompromisse zu gewinnen. „Ich hätte gestreikt“, sagt der Babenhausener Betriebsrat Yilmaz Efe. „Wir haben die Leute aufgestachelt – und dann haben wir ihnen das Ventil nicht gegeben. Der Vertrag ist uns dann erst mal um die Ohren geflogen.“ Betriebsräte und Gewerkschaftssekretäre haben momentan alle Hände voll zu tun. „Der Weg in die Kampfbereitschaft war schon sehr kräftezehrend“, sagt Michael Erhard, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Frankfurt. „Aber der anschließende Aufwand für die Deeskalation ist mindestens viermal so hoch.“

Standortfragen

Die Basis sperrt sich: Im hessischen Karben ließ die IG Metall den Kompromiss über einen Sozialtarifvertrag kurz vor Ende der Erklärungsfrist platzen, weil die Arbeitgeberseite versucht hatte, den Personalabbau noch zu beschleunigen. Bei Mitgliederversammlungen machten die Conti-Werker deutlich, dass sie das nicht akzeptieren. „Wir haben Continental dann ein letztes, nicht verhandelbares Angebot gemacht“, erinnert sich Michael Erhardt, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Frankfurt. „Bei einer Ablehnung wären wir den harten Weg eines Streiks gegangen, mit entsprechend hohem Risiko.“ Vereinbart wurde unter anderem ein weitergehender Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen.

Raus aus der Defensive: „Wir brauchen mehr Wirtschaftsdemokratie, etwa durch die Abschaffung des Doppelstimmrechts im Mitbestimmungsgesetz und die Erzwingbarkeit des Interessenausgleichs im Betriebsverfassungsgesetz. Dies würde die strukturelle Defensive, die uns oft genug in Situationen wie in Babenhausen, Karben, Rheinböllen und Bebra-Mühlhausen bringt, infrage stellen und mehr gewerkschaftliches Offensivspiel auch bei der Gestaltung der Zukunft der Standorte ermöglichen.“ 
Jörg Köhlinger, Leiter des IG Metall-Bezirks Mitte

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