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Enya Hauptmann, Marie Grigo, Christian Hellfritsch und Kai Sarg (v. l. n. r.) Magazin Mitbestimmung

Gewerkschaft: Mission Mitbestimmung

Ausgabe 05/2025

Erschließungsteams werben in Ost und West für Tarifverträge und für die Gründung von Betriebsräten. Längst nicht überall sind sie willkommen. Von Stefan Scheytt

Im Bezirk Mitte der IG Metall vereinen sich Ost und West. Vom Saarland, ganz im Westen, bis nach Thüringen reicht das Einsatzgebiet von Sebastian Gasior. Der IG Metall-Sekretär leitet ein 14-köpfiges Team von sogenannten Erschließern. Sie besuchen Betrieb für Betrieb, sprechen mit Beschäftigten am Arbeitsplatz und vor dem Werkstor. Es geht um die Gründung von Betriebsräten, um den Kampf für einen Tarifvertrag und darum, Mitstreiter für die Gewerkschaft zu gewinnen. Dabei stellt ­Gasior vor allem eins fest: „Unsere Erschließungsarbeit hat immer den Dialog und die Beteiligung im Fokus. Das kommt in Ost oder West gleichermaßen gut an.“ Wenn er einen Unterschied zwischen Ost und West nennen sollte, wäre es dieser: „Die Skepsis gegenüber Politik und Institutionen – auch gegenüber Gewerkschaften – scheint im Osten ausgeprägter.“

In der Praxis zeigt sich diese Skepsis: Beim Autozulieferer ZF in Gotha beispielsweise dürfen die Erschließer nicht auf das Werksgelände. Und sie schlägt sich in der Statistik nieder. Die Tarifbindung im Osten, von der aktuell 42 Prozent der Beschäftigten profitieren, liegt deutlich unter den 50 Prozent im Westen, auch wenn sich der Abstand verkleinert hat (1998: 76 Prozent im Westen, 63 Prozent im Osten). Nur 34 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten wurden 2021 von einem Betriebsrat vertreten, im Westen waren es 39 Prozent. Zum Schwund bei den Mitgliederzahlen der DGB-Gewerkschaften tragen die östlichen Bundesländer kräftig bei.

Einen Grund dafür sieht Franziska Wolf, Bevollmächtigte bei der IG Metall in Jena, in der ausgeprägten Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsfeindlichkeit vieler Arbeitgeber im Osten. Die erinnere sie gelegentlich an Klassenkampf: „Ich habe in den letzten zehn Jahren keinen einzigen Betrieb erlebt, der unser Angebot zu Tarifverhandlungen nicht massiv abwehrte und erst nach Warnstreiks an den Verhandlungstisch kam.“ Die Folgen dieser aggressiven Haltung seien oft eingeschüchterte Belegschaften. Teilweise gebe es immer noch den vom Jenaer Soziologen Klaus Dörre beschriebenen Typus des „Arbeitsspartaners“, der in den Jahren nach der Wende so tief in den Abgrund blickte, dass er aus Sorge um seinen Job bis heute selbst misera­ble Arbeitsbedingungen erdulde. „Man darf nicht unterschätzen“, meint Wolf, „was 35 Jahre Neoliberalismus mit den Menschen gemacht haben“.

Die Skepsis gegenüber Politik und Institutionen – auch gegenüber Gewerkschaften – scheint im Osten ausgeprägter.“

Sebastian Gasior, Gewerkschaftssekretär der IG Metall

Noël Furchheim, zweiter von rechts, mit dem neu gegründeten Betriebsrat des Hanno­veraner Unternehmens SMP
Noël Furchheim, zweiter von rechts, mit dem neu gegründeten Betriebsrat des Hanno­veraner Unternehmens SMP

Auch Dennis Stihler, Noël Furchheim und Frank Röttger, drei Erschließer bei der Gewerkschaft IGBCE, sprechen von den Nachwirkungen des „kollektiven Traumas“, das Beschäftigte im Osten nach 1989 erlebten. Mit Blick auf die nachwachsenden Belegschaften ist Franziska Wolf dennoch hoffnungsvoll: „Der gesellschaftliche Wandel vollzieht sich auch in den Betrieben, und die Jungen sagen sehr deutlich, dass sie nicht, wie ihre Eltern, 48 Stunden bei Mindestlohn schuften wollen, um dann in Altersarmut zu enden.“

Zwei weitere Effekte der zwei unterschiedlichen deutschen Geschichten beschreibt Gewerkschaftssekretärin Katja Barthold. Bevor sie zur Gewerkschaft Verdi nach Thüringen kam, arbeitete sie bei der IG Metall in Baden-Württemberg. Dort traf sie Beschäftigte mit Gewerkschaftsausweis, deren Eltern bereits Mitglieder, manche sogar im Betriebsrat waren. Sie erinnerten sich, wie sie als Kinder auf den Schultern der Eltern saßen, als für die 35-Stunden-Woche gestreikt wurde. „Das gab’s im Osten nicht“, sagt die aus Chemnitz stammende Barthold. Zudem, analysiert Barthold, gab es im Westen lange Zeit eine Rückkopplung zwischen Unternehmen und Politik: „In jedem größeren Betriebsrat saß mindestens ein SPD-Funktionär. Damit war klar: Wenn es der Arbeitgeber zu toll treibt, landet das auf der politischen Bühne. Im Osten ist das nicht so, hier können sich kommunale Arbeitgeber Dinge leisten, die im Westen kaum möglich wären.“

Katja Barthold vor dem Rathaus in Weimar
Katja Barthold vor dem Rathaus in Weimar: „Im Osten können sich kommunale Arbeit­geber Dinge leisten, die im Westen kaum möglich wären.“

Barthold spielt auf Weimar an, wo sie im vergangenen Jahr während der Tarifrunde im öffentlichen Dienst ein Erschließungsprojekt in der Stadtverwaltung startete. Der Oberbürgermeister erteilte ihr Hausverbot, das er nach öffentlichem Druck wieder zurücknahm, Beschäftigte wurden wegen der Teilnahme an gewerkschaftlichen Veranstaltungen abgemahnt, berichtet Barthold. Wo es vor einem Jahr praktisch keine gewerkschaftlichen Strukturen gab, trifft sich jetzt eine aktive Betriebsgruppe von rund einem Dutzend Verwaltungsbeschäftigten, darunter neue Verdi-Mitglieder und jüngere Beschäftigte.

Solche Geschichten, die dem bundesweiten Trend zur nachlassenden Mitbestimmung entgegenstehen, gibt es in Ost und West. Katja Barthold erzählt von Nahverkehrsunternehmen KomBus, in dem Verdi einen inzwischen guten Tarifvertrag und einen Organisationsgrad von 60 Prozent erkämpfte. Metallerin Franziska Wolf nennt den Wärmetauscherhersteller Kelvion in Thüringen, bei dem ein Aufbauprojekt der IG Metall dazu führte, dass das Lohnniveau seit 2019 von 70 auf heute 100 Prozent des Flächentarifs stieg. Frank Röttger und Dennis Stihler (IGBCE) erzählen vom Schlauchhersteller Masterflex in Gelsenkirchen, der lange „heftigsten Widerstand“ gegen eine Betriebsratsgründung leistete; das Gremium sei inzwischen gewählt, inklusive arbeitgebernaher Betriebsräte. Es habe sich zusammengerauft und mache einen guten Job. Röttger: „Als wir als Dankeschön für die Betriebsratswahl mit dem IGBCE-Eiswagen vorfuhren, holte sich sogar die Personalleiterin ein Eis, die uns früher nur Steine in den Weg gelegt hatte.“

Frank Röttger
Frank Röttger ist im Osten und Westen als Erschließer der IGBCE unterwegs.

Dass die bundesweiten Zahlen bei allen Gewerkschaften nach unten gehen, sei dennoch Fakt und nicht zu beschönigen, findet Andreas Flach, der beim IG Metall Vorstand die Erschließungsarbeit verantwortet. Umso mehr gelte es, jetzt dagegenzuhalten und Menschen zu mobilisieren. Beteiligung und Transparenz hätten oberste Priorität, sagt Flach: „Wir dürfen nicht mit unseren Themen in den Betrieb kommen, sondern müssen die heißen Themen angehen, die die Beschäftigten umtreiben. Und wir dürfen nicht im Hinterzimmer verhandeln, um dann irgendwann ein Ergebnis zu verkünden. Die Menschen wollen beteiligt werden und erleben, dass sie Einfluss auf ihre Arbeitsbedingungen nehmen können.“ Die Ost-West-Thematik spiele dabei praktisch keine Rolle.

Nach 35 Jahren deutscher Einheit scheint das angebracht, zumal auch Arbeitgeber im Westen rücksichtslos agieren, wenn sich die Gelegenheit dafür bietet. IGBCE-Sekretär Röttger berichtet von einem Betrieb in Nordrhein-Westfalen, der ein „U-Boot“ in ein geheimes Gespräch über eine Betriebsratsgründung einschleuste. Kurz darauf wurden drei Gründungswillige, die noch keine IGBCE-Mitglieder waren, entlassen. Ein anderes Unternehmen in Hessen, das ordentlich organisiert ist und nach Tarif bezahlt, verlegte Kapa­zitäten in einen kleineren Ableger ohne Betriebsrat und Tarifvertrag: „Die produzieren dasselbe zu Dumpinglöhnen“, sagt Röttger. „Der Ableger ist aber nicht im Osten, sondern in Nordrhein-Westfalen.“

Sein Kollege Noël Furchheim, gebürtiger Niedersachse und Organizer mit Fokus auf Sachsen-­Anhalt und Sachsen, erzählt von einem Kosmetikhersteller in Baden-Württemberg, dessen arbeitgebernaher Betriebsrat ihm den Handschlag verweigerte. „Ja, es gibt immer noch historisch bedingte Unterschiede zwischen Ost und West“, meint Furchheim, „aber wenn man Gleiches mit Gleichem vergleicht – die Branche, die Rahmenbedingungen, das Verhältnis zwischen Belegschaft und Arbeitgeber –, dann sind die Unterschiede heute marginal.“ Sie müsse oft den Kopf schütteln, sagt Metall-Sekretärin Franziska Wolf aus Jena, wenn sie verfolge, wie jetzt große Arbeitgeber in Westdeutschland Tarifverträge kündigten und die Sozialpartnerschaft grundsätzlich infrage stellten: „Zuerst denkt man: Das ist neu, das gab’s noch nie.“ Doch dann folge sofort der nächste Gedanke: „Doch, im Osten haben es schon viele erlebt, hier gab es für viele nie Sozialpartnerschaft und immer gleich auf die Mütze.“

Die Erkenntnis, dass Beschäftigte im Osten tiefgreifende Transformationsprozesse erlebten und erlitten, die jetzt auch Arbeitnehmern im Westen bevorstehen, führe zwangsläufig zur Überlegung, ob nicht auch der Westen vom Osten lernen könnte: „Wir sind gewissermaßen einen Schritt voraus und könnten das als Gewerkschaften und als Gesellschaft nutzen für neue Erfolgsgeschichten, die der Osten ja durchaus auch geschrieben hat.“

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