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Magazin Mitbestimmung

: Schrumpfende Nachfrage

Ausgabe 09/2011

HANDWERK Lange konnte sich das Baugewerbe seine Lehrlinge aussuchen. Doch der Markt ändert sich – Bewerber werden knapp. Allmählich freunden sich die Unternehmen mit dem Gedanken an, weniger gute Anwärter nachzuqualifizieren. Von Susanne Kailitz

SUSANNE KAILITZ ist Journalistin in Dresden/Foto: picture alliance, Waltraud Grubitzsch 

Es gibt Momente, die Jürg Kriesten schwer zu denken geben. „Für alle Leute ist drei mal drei gleich neun“, sagt er. „Wenn beim Lehrling dann zwölf rauskommt, sind Sie erst mal verblüfft.“ Kriesten ist Ingenieur und Geschäftsführer der SF Ausbau, einer Innenausbau-Firma im sächsischen Freiberg, die zur Unternehmensgruppe der Ed. Züblin AG gehört. 120 Mitarbeiter hat das Freiberger Unternehmen. Dass hier auch ausgebildet wird, ist für Kriesten eine Selbstverständlichkeit. Aktuell lernen hier zehn Auszubildende in ganz unterschiedlichen Gewerken des Baugewerbes. Der Chef ist zufrieden, doch sagt er, dass es für seinen Betrieb immer schwieriger werde, gute Lehrlinge zu finden: „Die schulischen Leistungen werden immer dünner. Wenn wir in den Bewerbungsgesprächen mal Flächen berechnen lassen, kommen da häufig ganz gruselige Ergebnisse heraus. Bei vielen hängt es schon am kleinen Einmaleins.“

FRÜHER KAMEN SOGAR ABITURIENTEN_ Trotz der Klagen hat Kriesten nach eigener Auskunft bisher noch gute Lehrlinge gefunden. Doch der Markt kippt – gefühlte und echte Engpässe sind in dieser Gemengelage nicht immer leicht auseinanderzuhalten. Die Zeiten, in denen Firmen sich aus einem riesigen Bewerberangebot einfach die Rosinen herauspicken konnten, sind in Ostdeutschland vorbei. Das sieht auch die örtliche Gewerkschaft so. „Vor zehn Jahren haben sich sogar Abiturienten auf dem Bau beworben“, erzählt Peter Schulze, Regionalleiter der IG Bau für Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen. „Hauptschulabgänger und Jugendliche ohne Abschluss haben die Arbeitgeber damals gar nicht zu Gesicht bekommen.“ Doch die Zahl der Schulabgänger geht dramatisch zurück. Sie hat sich in den neuen Bundesländern während der letzten zehn Jahren nahezu halbiert. Das Reservoir an jungen Leuten, die der Volkswirtschaft zur Verfügung stehen, wird kleiner. So fühlt sich Demografie unten an, an der Basis. Diejenigen, die einen richtig guten Abschluss hinlegen, peilen danach nicht unbedingt Baufirmen wie die von Jürg Kriesten an.

AUCH SCHWÄCHERE BRAUCHEN EINE CHANCE_ Ob Kriesten auch bereit wäre, schwächere Bewerber anzunehmen und diese selbst vorzuqualifizieren, etwas anzubieten, das über die normale Ausbildung hinausreicht? „Da haben wir uns noch keine großen Gedanken gemacht“, sagt er. „Müssten wir aber.“ Sein Betriebsratsvorsitzender Christian Schöphs findet das eine gute Idee, sieht jedoch praktische Probleme: „Wenn man sich im Betrieb besser um die Lehrlinge kümmern will, muss man auch zugeben, dass die Facharbeiter didaktisch kaum geschult sind.“ Er fürchtet, Betriebe könnten überfordert sein: „Es frustriert die jungen Leute ja selbst, wenn sie merken, dass ihnen grundlegende Fähigkeiten fehlen. Sie dann trotzdem zu motivieren, das ist etwas, das nicht jeder kann.“ Was bleibt, ist die gute Absicht: „Ja, man muss sich besser kümmern. Aber die Kapazitäten sind kaum da.“ Gerade die vielen Mini-Firmen, die deutlich kleiner sind als Kriestens Unternehmen, würden sich mit anspruchsvollen Nachqualifizierungen schnell verheben. Denn die durchschnittliche Betriebsgröße der Handwerksunternehmen in Sachsen liegt nach einer Untersuchung der sächsischen Handwerkskammer bei zehn Mitarbeitern. Nur 39 Prozent der Unternehmen sind tariflich gebunden. In diesen kleinen Firmen werden schon die normalen Lehrlinge oft nicht vernünftig ausgebildet. „Die werden schnell als Hilfsarbeiter verheizt“, sagt der Gewerkschafter Schulze.

Um auch denen eine Chance zu geben, die nicht so gute Voraussetzungen mitbringen, bemüht sich der Gewerkschafter dennoch um die Zusammenarbeit mit Unternehmen aus Industrie und Handwerk in seiner Region. Das Ziel ist es, jenen Jugendlichen, die aufgrund ihrer Leistungen keinen Ausbildungsplatz bekommen und denen Warteschleifen in einer staatlichen Maßnahme drohen, ein „nulltes Ausbildungsjahr“ zu organisieren. Das läuft dann so: „Die Unternehmen schließen mit diesen Jugendlichen eine Art Vor-Ausbildungsvertrag ab und integrieren sie im Betrieb. Machen sie sich gut, bekommen sie im Anschluss einen richtigen Lehrlingsvertrag.“

Finanzmittel aus dem Europäischen Sozialfonds und die Möglichkeit, sich den eigenen Nachwuchs nach Wunsch qualifizieren zu können, sollen den Unternehmen die Idee schmackhaft machen. „Die Anträge sind für Thüringen und Sachsen-Anhalt fast durch“, sagt Schulze. In Thüringen sollen bis zum Ende dieses Jahres 500 Plätze für das nullte Ausbildungsjahr besetzt werden. Geplant ist, dass die Jugendlichen ein Langzeitpraktikum im Betrieb von sechs bis zwölf Monaten bekommen, das mit maximal 212 Euro pro Monat von der Bundesagentur für Arbeit gefördert wird. In Sachsen-Anhalt, so berichtet er, gebe es noch Streit mit den Handwerkskammern, die nicht wollen, dass EU-Mittel in das Projekt fließen. Und in Sachsen, sagt Schulze, sperrten sich die Handwerkskammern und Innungen, während die Bauindustrie sehr großes Interesse an dem Projekt zeige. Manche Leute, so scheint es, hoffen lieber auf Nachwuchs aus Polen oder Tschechien „Die Einsicht, dass man auch den Jugendlichen im eigenen Land eine Chance geben muss, ist leider noch nicht da“, sagt IG-BAU-Mann Schulze.

IMAGEKAMPAGNEN FÜR DAS HANDWERK_ Hinzu kommt, dass Jobs im Handwerk bei jungen Leuten nicht besonders beliebt sind. „Was wissen die meisten denn über die Baubranche?“, fragt der Unternehmer Kriesten. „Dass man dort schwere Arbeit verrichten muss, wochenlang auf Montage ist und nur unregelmäßig bezahlt wird.“ Dass die Beschäftigten wie bei der SF Ausbau über ihre Arbeitsbedingungen im Betriebsrat mitreden können und sich darauf verlassen können, pünktlich ihren Lohn zu bekommen, ist in der Branche leider nicht überall gang und gäbe.

Auch Betriebsrätin Marlen Haubold, die bei der SF Ausbau vor 15 Jahren selbst eine Malerlehre gemacht hat und heute in der Verwaltung arbeitet, bekommt bei Gesprächen im Familien- und Freundeskreis immer wieder zu hören: „Die jungen Leute wollen überall arbeiten, aber nicht auf dem Bau. Und wenn der Vater Mitte 50 ist und seit 30 Jahren auf verschiedenen Baustellen schuftet, will der natürlich lieber, dass sein Sohn Anwalt wird oder Arzt.“

Die Handwerkskammern versuchen, mit großem Kampagnenaufwand gegen das schlechte Image anzugehen, und werben für die „Wirtschaftsmacht von nebenan“. Das scheint auch nötig zu sein. Immerhin 39 Prozent der Befragten halten das Handwerk nach einer Forsa-Umfrage für einen weniger oder gar nicht attraktiven Arbeitgeber. Wirklich überraschend ist diese Einschätzung nicht: Bei rund 74 Prozent des allgemeinen Einkommensniveaus liegt das Handwerk. Und mit tariflichen Mindestlöhnen von 6,78 Euro im Osten zählen einige Handwerksbranchen schon fast zum Niedriglohnsektor.

HOHE ABBRECHERQUOTEN_ Schon heute bricht jeder dritte Azubi im Maler- und Lackiererhandwerk seine Ausbildung ab, die Zahl der Meisterprüfungen im Maler- und Lackiererhandwerk hat sich in den vergangenen zehn Jahren fast halbiert. Obwohl Sozialwissenschaftler wie Gerhard Bosch von der Universität Duisburg-Essen dem deutschen System der dualen Berufsausbildung Bestnoten erteilen und es zu „einem der Geheimnisse der deutschen Wettbewerbsfähigkeit“ erklären, ist es reformbedürftig.

Ein Strang der Reformdebatte zielt darauf, die Berufsausbildung stärker als bisher auf ein breites Spektrum verwandter beruflicher Tätigkeiten auszurichten. Auch Jürg Kriesten hält das für den richtigen Weg: „Auf meine Baustellen schicke ich in der Regel ja nicht zehn spezialisierte Mitarbeiter, sondern allenfalls drei oder vier. Wer dort ist, muss nicht nur in der Lage sein, seinen eigentlichen handwerklichen Job zu machen“, sagt er. „Da muss letztlich jeder die Baustelle organisieren, eine Zeichnung lesen oder auch mal einen Händler anrufen können, um Baustoffe zu ordern.“ Damit sich solche gehobenen Anforderungen auch erfüllen lassen, werden aber auch die Unternehmen selbst umdenken müssen. Denn wenn künftig immer weniger Bewerber zur Auswahl stehen, müssen sie sich irgendwann auch um Kandidaten Gedanken machen, denen sie vor zehn Jahren ihre Bewerbungsunterlagen kommentarlos zurückgegeben hätten.

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