zurück
Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Nur unsere eigene Stärke zählt'

Ausgabe 09/2006

Die IG Metall diskutiert mit den Belegschaften, was die unternehmerische Gegenleistung für eine befristete Abweichung vom Flächentarif sein muss. "So viele Mitgliederversammlungen wie seit 2004 hat die IG Metall in den letzten zehn Jahren nicht gemacht", sagt Berthold Huber.



Berthold Huber, 56, ist zweiter Vorsitzender der IG Metall und geschäftsführendes Vorstandsmitglied für Tarif- und Betriebspolitik. Mit ihm sprach Cornelia Girndt in Frankfurt.



Berthold Huber, wann hat die IG Metall entdeckt, dass eine betriebsnahe Tarifpolitik die Gewerkschaft stark machen kann?
Der Druck der Verhältnisse führt zur Verbetrieblichung. Die Arbeitgeber wollen ein neues ordnungspolitisches System durchsetzen. Tarifnormen werden immer öfter in den einzelnen Betrieben in Frage gestellt. Die Tarifautonomie darf nicht ausgehöhlt werden. Darauf mussten wir eine Antwort finden. Die lautet: Wir müssen unsere tarifpolitische Handlungsfähigkeit in den Betrieben stärken. 

Eine tarifliche Öffnungsklausel mit dem Namen "Pforzheim" erlaubt seit 2004 Abweichungen von Tarifstandards, wenn dadurch Jobs und Investitionen gesichert werden. So manchem IG-Metaller geht das zu weit.
Pforzheim hat transparent gemacht, was die IG Metall in ihrer Tarifpolitik seit längerem praktiziert. Schon 1993 hatten wir für Ostdeutschland eine Härtefallregelung vereinbart. Diesen Weg hat die IG Metall fortgesetzt - über die Beschäftigungssicherungstarifverträge bis zum Pforzheimer Abkommen.

Wir können heute jedem, der es wissen will, sagen: Wir haben 872 einzelbetriebliche Vereinbarungen getroffen, davon sind 175 Fälle Regelungen nach Pforzheim. Damit überblicken wir seit 2004 die abweichenden Vereinbarungen und können so besser abschätzen, ob Wettbewerber betroffen sind.

Trotzdem beklagen Politiker und Arbeitgeber immer wieder die angeblich "starren Tarifverträge" und die Wirtschaftspresse schreibt es.
Mit Verlaub: Das ist dummes Geschwätz. Von Leuten, die andere Interessen vertreten.

Besteht nicht die Gefahr, dass Unternehmen über das Pforzheimer Abkommen Lohnsenkungen heraushandeln wollen - auch wenn gar keine Notlage vorliegt?
Die Unternehmen versuchen es so oder so. Aber wir lassen uns nicht hinters Licht führen. Wir haben klare Kriterien dafür, wann wir Abweichungen zustimmen können. Das Unternehmen muss die Zahlen auf den Tisch legen und wir brauchen belastbare Zusagen zur Beschäftigungssicherung, zu Innovation und Investitionen. Wir reden offen mit unseren Mitgliedern und den Betriebsräten, wir bilden betriebliche Tarifkommissionen. Und dann entwickeln wir gemeinsam eine Lösung. Wenn uns das gelingt, haben wir so gut wie immer Mitglieder-Zuwächse.

Ist darüber auch so etwas wie ein "Du bist die Gewerkschaft"-Gefühl entstanden?
Die Leute erleben täglich, dass sie als einzelne dem Druck auf ihre Arbeitsbedingungen nicht standhalten können. Sie können nur gemeinsam mit ihrer Gewerkschaft in diesen schwierigen Situationen eine Lösung finden. Gleichzeitig gilt für die IG Metall: Nur unsere eigene Stärke zählt. Wenn wir nichts im Kreuz haben, können wir uns doch nur auf den Balkon stellen und große Sprüche klopfen. Das machen unsere ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen ihren Belegschaften mittlerweile auch klar. Sie sagen: "Liebe Leute, wir haben mit euch jahrelang über Mitgliedschaft diskutiert. Ohne eure aktive Unterstützung werden wir für euch nichts erreichen."

Verändert das auch die IG Metall?
Dass wir mit unseren Mitgliedern und Betriebsräten im Dialog stehen, ist doch selbstverständlich. Aber so viele Mitgliederversammlungen wie seit 2004 hat die IG Metall wahrscheinlich in den letzten zehn Jahren nicht gemacht. Und das ist gut so. 

Gesamtmetall hat die Öffnungspolitik forciert. Lässt die Begeisterung der Arbeitgeber nach?
Die Arbeitgeber streben immer noch betriebliche Öffnungen an. Sie haben vielleicht darauf spekuliert, dass wir als Gewerkschaft nicht stark genug sind, diese zu gestalten. Das kann in dem einen oder anderen Betrieb der Fall sein. Ich habe den Arbeitgebern aber immer gesagt: mich schreckt eure Drohung überhaupt nicht. Die Kolleginnen und Kollegen im Betrieb fordern die Unterstützung der IG Metall. Und die IG Metall wird durch betriebsnahe Tarifpolitik nicht schwächer, sondern eher stärker.

Das Gegenteil hatten sich die Marktliberalen in Politik und Wirtschaft erhofft.
Daraus wird nichts. Das zeigen auch die positiven Ergebnisse bei den Betriebsratswahlen. Die IG Metall hat - so unsere Zwischenergebnisse - im Schnitt zugelegt. Und zwar auch dort, wo der Strukturwandel radikal ist, wie bei Siemens. Auch dort, wo über Personalabbau schwerwiegende Einschnitte stattfanden. Bei Opel gab es für uns fünf Prozent Plus; bei DaimlerChrysler haben wir knapp drei Prozent bei den Betriebsratswahlen dazugewonnen, obwohl wir dort gravierende Ergänzungsvereinbarungen gemacht haben.

Sind die gesetzlichen Öffnungsklauseln, wie sie CDU und FDP wollten, vom Tisch?
Das kann man nie wissen. Aber immerhin sagt die Vereinbarung der großen Koalition: Es gibt keinen Handlungsbedarf. Dazu haben die Tarifparteien, vor allem die IG Metall, einiges getan. Dass gesetzliche Öffnungsklauseln sinnvoll wären, glaubt nur jemand, der von ökonomischen Prozessen keine Ahnung hat. Wir sind trotzdem wachsam.

Die Arbeitgeberverbände zeigen ein Bild der Zerrissenheit. Wie kalkulierbar ist der Tarifpartner überhaupt noch?
Kluge Arbeitgeber und ihre Verbandsvertreter schätzen die Vorteile des Flächenvertrages. Der Weg in den Arbeitgeberverband ist aber heute für die Unternehmen nicht mehr selbstverständlich. Es gibt Verbandsaustritte und Verbände ohne Tarifbindung. Die Tariflandschaft wird disparater. Außerdem erleben wir, wie viele Betriebe Supergewinne einfahren, während es anderen richtig dreckig geht. Das ist schwer unter einen Hut zu kriegen. Vor diesem Hintergrund wird in den Verbänden auch heftig diskutiert.

Wie zufrieden ist denn Gesamtmetall mit der Pforzheimer Regelung?
Das werden wir sehen, wenn wir 2007 gemeinsam Bilanz ziehen - IG Metall und Gesamtmetall. Eigentlich zielt die Arbeitgeberseite ja auf etwas anderes. Sie wollen ins Zentrum der monatlichen Einkünfte rein. Arbeitnehmereinkommen sollen um 20 bis 30 Prozent nach unten schwanken - mit dem heutigen Flächentarifvertrag als Höchstgrenze. Das ist natürlich indiskutabel.

Was folgt daraus?
Meine erste Priorität ist die Sicherung des Flächentarifvertrages. Er ist und bleibt das überlegene Modell. Zugleich brauchen wir eine Antwort auf die Differenzierung innerhalb einer Branche. Abweichen kann man nur, wenn etwas im Zentrum steht. Und da steht der Flächentarif. Deswegen müssen wir um ihn herum oszillieren können. Nach unten - aber bitteschön auch nach oben.

So wie die Einmalzahlung von 310 Euro im diesjährigen Tarifabschluss schwanken kann - zwischen null und 620 Euro. Aushandeln tun das Betriebsräte und Arbeitgeber. Löst das Verteilungsprobleme?
Nein, selbstverständlich nicht. Für das Problem ungerechter Verteilung brauchen wir ganz andere Lösungen. Aber wir haben mit der Regelung zur Einmalzahlung ein neues Instrument geschaffen, das den Betrieben und den Betriebsparteien Atmungsmöglichkeiten bietet. Und zwar ohne das Prinzip und die Normen des Flächentarifs zu verletzten.

So wie es aussieht, wollen vier Fünftel aller Betriebe gar keine Abweichung verhandeln.
Da kann ich nur sagen: Der Flächentarifvertrag hat doch einen guten Job gemacht, wenn seine Normen von der überwältigenden Mehrheit als richtig empfunden werden.

Eure Datenbank sagt auch: 90 Unternehmen konnten zu einer Rückkehr in die Tarifbindung bewegt werden - durch ergänzende Tarifvereinbarungen und die Pforzheim-Klausel. Warum machen die das?
Weil ihnen klar wird, dass es nicht rechtens ist, Löhne mit dem Betriebsrat zu verhandeln. Weil wir ihnen ein geordnetes Verfahren anbieten. Ein Unternehmen, das einen stabilen Handlungsrahmen schätzt und seriös ist, hat daran Interesse.

Aber insgesamt ist der Kapitalismus weder seriöser noch sympathischer geworden.
Er ist brutaler geworden. Der Finanzmarkt hat den Kapitalismus deutscher Prägung vollkommen verändert. Der Gedanke, dass Unternehmen ausschließlich für die Aktionäre da sind, dominiert. Da herrschen kurzfristige Profitinteressen. Viele Manager sind zu Sklaven der Finanzmärkte geworden.

Und dabei haben sie selbst gut verdient.
So wie Klaus Esser damals erst den Börsenkurs auf das Dreifache hochgetrieben und dann die Hand aufgehalten hat. Jetzt schreit die interessierte Menschheit: "Das ist unmoralisch." Aber unmoralisch ist vor allem, dass sich beim Mannesmann-Vodafone-Deal nur finanzmarktgetriebene Interessen nach Höchstrenditen durchgesetzt haben. Und nicht nur dort. Stabile Unternehmen werden zerlegt oder zerstört und tausende Arbeitsplätze vernichtet - ohne Rücksicht auf Verluste.

Hinter dem schönen Wort Öffnung steht ja nicht selten schlichte Erpressung. Was kann hier die Gewerkschaft tun?
Selbstverständlich muss man Widerstände aufbauen gegen Erpressungsversuche und auch Nein sagen. Der Weg kann nicht ohne Ende nach unten gehen, die Leute müssen von ihrer Arbeit leben können. Die Menschen sind es leid, ständig zu verzichten. Ich habe erlebt, wie eine Betriebsratsvorsitzende auf einer Betriebsversammlung sagte: "Wir haben schon drei Verzichtsrunden hinter uns.

Wenn die Geschäftsführung jetzt noch mehr verlangt und mit Verlagerung droht, sagen wir ihnen: dann haut doch endlich ab, ihr Gauner!" Dafür hat sie frenetischen Applaus gekriegt. Das war in einem mittelständischen Unternehmen mit 600 Beschäftigten. Eine mutige Frau.

Zunehmend lässt die IG Metall ihre Mitglieder im Betrieb über abweichende Tarifvereinbarungen abstimmen, Unorganisierte bleiben außen vor. Absicht?
Ja, denn wir sind von unseren Mitgliedern beauftragt. Die überwältigende Anzahl unserer Tarifverträge gilt für Beschäftigte, die Mitglied der IG Metall sind. Die betroffene Menschheit vergisst das gern und meint, man bekäme das alles automatisch. Wir haben gerade eine Vereinbarung für einen Automobilzulieferer gemacht, der in einer schwierigen Situation steckt. Unsere Mitglieder erhalten einen Bonus. Für sie wird das Weihnachtsgeld um 10 Prozent abgesenkt, für die anderen um 20 Prozent.

Was sagt ihr da den Nichtmitgliedern?
Wir sagen: "Entschuldigung, ihr habt euch bis dato der Solidarität entzogen und die IG Metall nicht beauftragt, für euch zu verhandeln. Und es sind unsere Tarifverträge, die wir über unsere Organisationsstärke - und über unsere gesetzliche Stellung - erreichen können."

Dem Arbeitgeberverband gefällt es gar nicht, dass bei AEG in Nürnberg ein Sozialplantarifvertrag erstreikt wurde. Sie gehen vors Bundesarbeitsgericht.
Das sehen wir gelassen. Die Gerichte haben bisher die Position der IG Metall bestätigt.

Die Arbeitgeber warnen davor, dass sich Schließungen bzw. Investitionen verteuern.
Nach den AEG-Erfahrungen sollten es sich einige Unternehmen besser zweimal überlegen, ehe sie aus Shareholder-Gesichtspunkten Standorte verlagern - statt mit uns eine Vereinbarung zu machen. Ja, bei AEG sind die Abfindungen teurer geworden. Das kann Elektrolux verkraften, immerhin verlieren Tausende ihren Arbeitsplatz. Abfindung plus Qualifizierung ist für die Menschen in Nürnberg doch nur der zweitbeste Weg. Schwerwiegend ist, dass durch das Vorgehen von AEG die Marke lädiert ist. Der stille Boykott von AEG-Produkten hat die Verkaufszahlen um 35 bis 40 Prozent gedrückt.

Opel, Daimler und VW haben den Beschäftigten individuell hohe Abfindungssummen geboten, wenn sie das Unternehmen verlassen, Zahlen bis 250.000 Euro werden genannt. Gleichzeitig existieren langfristige Standortsicherungsverträge. Was sichern die noch?
Das eine hängt mit dem anderen zusammen: Ohne Zukunftsvereinbarungen hätten wir ja gar nicht diese hohen Summen. Und wir hätten keinen Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen, sondern es würde der übliche Sozialplan regieren. Bei langen Laufzeiten kann man nicht absolut ausschließen, dass sich die Lage von Unternehmen verändert. Der Arbeitgeber muss in diesen Fällen zivile, sozialverträgliche Lösungen anbieten und er kann die Leute nicht einfach vor die Tür setzen. Das ist selbst bei Beschäftigungsabbau ein Erfolg der Standortsicherungsverträge.

Was muss ein Arbeitgeber auf den Tisch legen, wenn er eine vom Tarifvertrag abweichende Vereinbarung erreichen will?
Vor einer Verhandlungsaufnahme erwarten wir detaillierte Aussagen zum Zukunftskonzept der Unternehmen. Außerdem müssen sie die Zahlen offenlegen. Die Konzepte und Unternehmensdaten werden durch externe Sachverständige gecheckt. Da steigen schon die ersten Unternehmen aus, die nur rasch mal was mitnehmen wollten. Aber das klappt nicht. Pforzheim ist kein Programm zur Erhöhung von Profiten und Aktionärsausschüttungen…

… sondern zur Unternehmenssicherung. Aber Papier ist ja bekanntlich geduldig.
In der Tat reicht es nicht, wenn man betriebsbedingte Kündigungen auf dem Papier ausschließt. Zukunft erreichen wir nur, wenn "Besser statt Billiger" verbindlich vereinbart und tatsächlich umgesetzt wird. Dazu sind Investitionen notwendig. In Menschen und ihre Qualifizierung, aber auch in Maschinen, Anlagen und Prozesse.

Erfüllen die Unternehmen ihre Verpflichtungen?
Da muss die Arbeitgeberseite noch nachlegen. Auch wir haben in der Zwischenzeit dazugelernt. Die Zahl hochwertiger Regelungen hat in den letzten eineinhalb Jahren stetig zugenommen. Es gibt Vereinbarungen, da wird detailliert aufgelistet, was wann investiert wird - bis hin zu den konkreten Maschinentypen. Das ist die ausgefuchste Form.

Und wenn kein "Besser", sondern nur ein "Billiger" angepeilt wird, sagt dann die IG Metall "Nein"?
Für Arbeitgeberforderungen nach dem Motto "Arbeitszeit verlängern" und "Geld wegnehmen" braucht es nicht viel Phantasie und auch kein Hochschulstudium. Bei unserer Prüfung der Anträge wurde schon so manches Mal das ganze Elend eines miserablen Produktions- und Finanzmanagements offenbar. Wir machen der Geschäftsleitung dann deutlich, dass die Probleme ganz woanders liegen. Dafür kann und darf die Tarifpolitik nicht herhalten.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen