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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW New Deal für Deutschland

Ausgabe 01+02/2007

Offensive Gewerkschaften sind im Strategievorschlag des Wirtschaftswissenschaftlers Giacomo Corneo zu einem New Deal für eine tragende Rolle vorgesehen.



Mit Professor Dr. Dr. Giacomo Corneo sprachen Margarete Hasel und Herbert Hönigsberger am Institut für öffentliche Finanzen und Sozialpolitik an der FU in Berlin-Dahlem.


Warum sollten die Gewerkschaften Ihrem Vorschlag folgen?
Eine koordinierte Lohnpolitik, die die Kaufkraft sichert, bedeutet für die Arbeitnehmer immerhin, keine Verluste hinnehmen zu müssen wie in den vergangenen Jahren. Wenn diese Lohnpolitik glaubwürdig angeboten wird, begünstigt sie Beschäftigung. Doch ist diese erste Komponente meines Vorschlags allein nicht ausgewogen, denn die Kapitaleinkünfte und die Gehälter der Hochqualifizierten werden weiterhin prächtig steigen.

Für mehr Balance sorgt das zweite Element: die Steuerprogression. Es gibt Spielräume für eine stärkere Belastung sehr hoher Einkommen, insbesondere der Kapitaleinkommen. Von Investitionen in Bildung, Gesundheit, Infrastruktur, Umwelt schließlich können die unterprivilegierten Schichten überproportional profitieren. Diese Programme haben eine Umverteilungsfunktion. Darüber hinaus fördern sie Konjunktur und Wachstum.

Warum New Deal?
Viele institutionelle Akteure und Experten in Deutschland missachten die Idee, dass Wirtschaftspolitik am besten im Konsens zu gestalten ist. Der New Deal ist eine Art Gesellschaftsvertrag, den alle Teilnehmer im Geiste freiwillig unterschreiben. Weil sie überzeugt sind, dass die Kosten durch die Vorteile mehr als kompensiert werden. Neoliberale Vorschläge mögen langfristig das Wirtschaftswachstum erhöhen. Aber was haben viele Menschen davon, wenn ihr Lebensstandard sinkt? Das neoliberale Projekt ist deshalb in Deutschland nicht konsensfähig. Das zeigen nicht nur die Wahlen, sondern auch der Zickzack-Kurs, mit dem der Wohlfahrtsstaat und der regulierte Arbeitsmarkt ausgehöhlt werden.

Was spricht für eine stärkere progressive Besteuerung?
Die Marktkräfte führen heute zu mehr Ungleichheit. Die Volatilität der Einkommen nimmt zu. Das hat nichts mit Verdienst und Verschulden einzelner gesellschaftlicher Gruppen zu tun, dagegen viel mit exogenen Faktoren wie der technologischen Entwicklung, dem Eintritt Indiens und Chinas in die Weltwirtschaft und der Öffnung der Märkte Osteuropas. Es gibt keine persönliche Verantwortung dafür, dass einige reicher und viele ärmer werden.

Der Bedarf nach Umverteilung ist offensichtlich. Zumal in Deutschland die Lohnsteuerzahler einen wachsenden Teil der Finanzierung des öffentlichen Sektors tragen. Ende der 50er Jahre haben die Kapitaleinkommen die Hälfte zum Aufkommen der Einkommensteuer beigetragen, heute sind es zehn bis 15 Prozent. Die Einnahmen aus Unternehmenssteuern entsprachen damals etwa fünf Prozent des Sozialprodukts, heute liegen sie bei lediglich 2,5 Prozent.

Wie weit kann man bei Steuererhöhungen gehen - angesichts offener Grenzen und einer integrierten Weltwirtschaft?
Es gibt empirische Studien zu den Reaktionen international tätiger Unternehmen und der Personen mit sehr hohen Einkommen auf Erhöhungen der Steuersätze, die zeigen, dass diese Reaktionen weniger gravierend sind, als behauptet wird.

Die schwedischen Sozialdemokraten wurden 2006 nicht zuletzt wegen ihrer Steuerpolitik abgewählt, obwohl dort der gesellschaftliche Konsens über höhere Steuern größer ist.
Steuererhöhungen können so gestaltet werden, dass sie politisch mehrheitsfähig sind. Weniger als ein Tausendstel der Bevölkerung - 50 000 Erwachsene, die in etwa 30 000 Familien leben - sollten wirklich spürbar höhere Steuern zahlen. Das sind Haushalte, die ein jährliches Einkommen über 400.000 Euro und oft weit mehr erzielen. Die sind so reich, dass sie gut vier Prozent des gesamten Einkommens beziehen. Doch sollte man das nicht Reichensteuer nennen. Das klingt wie Judensteuer.

Wie dann?
Ganz einfach: Der Steuertarif muss progressiv reformiert werden. Weil es in Deutschland seit 50 Jahren eine grandiose Fehlentwicklung gibt. Die obere Proportionalzone, die Zone, in der die Leute mit dem höchsten Grenzsteuersatz belastet werden, fängt für Ledige etwa bei 52.000 Euro im Jahr an. Das ist unglaublich niedrig. Immer mehr Steuerzahler rücken in die obere Proportionalzone. Geht es so weiter, haben wir in 20 Jahren ohnehin eine Art Flat-Tax, weil über die Hälfte der Steuerzahler mit dem höchsten Satz belastet wird.

Doch lässt sich das vermeiden, wenn der Schwellenwert mit der Inflation steigt und die obere Proportionalzone bei beispielsweise 500.000 Euro anfängt. Dann werden nur sehr hohe Einkommen mit dem höchsten Grenzsteuersatz belastet. Und dieser Satz soll kräftig angehoben werden.

Die Mehrheit der Ökonomen in Deutschland dürfte auf diesen Vorschlag ablehnend reagieren und negative Folgen für Wachstum und Beschäftigung prognostizieren.
Wer in der Forschung aktiv ist, weiß: Sowohl die modelltheoretischen als auch die empirischen Studien deuten darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Höhe der Steuern äußerst labil ist.

Im Bundestag können Sie es in jeder Debatte hören und in der Wirtschaftspresse jeden Tag lesen: Steuern runter, damit es zu mehr Wachstum kommt.
Die Medien und einflussreiche wirtschaftspolitische Berater scheinen nicht ganz frei vom Druck der Lobbys zu sein. Auch war die Empfehlung einiger Experten, die direkten Steuern zu senken, eine Art Frustreaktion auf die Unbeweglichkeit der deutschen Arbeitsmarktpolitik. Richtig ist aber, dass Steuerpolitik nicht in den Dienst wachstumspolitischer Ziele gestellt werden soll. Die direkten Steuern haben in erster Linie eine verteilungspolitische und eine fiskalische Funktion zu erfüllen.

Sie haben früh vor den Folgen der rot-grünen Steuerpolitik gewarnt. Sehen Sie sich bestätigt?
Bisher zeigen die Studien, dass die Senkung der Einkommensteuer nicht zu mehr unternehmerischer Tätigkeit und mehr Risikobereitschaft geführt hat. Dagegen hat beispielsweise Holland schon auf die Unternehmenssteuerreform reagiert und seine Steuern kräftig gesenkt. Der Steuerwettlauf nach unten hat dank deutscher Politik einen Impuls erhalten.

Und es gibt Anzeichen, dass die Bezieher sehr hoher Einkommen auf die Steuergeschenke mit weniger Arbeit reagiert haben, weil sie nicht mehr so viel arbeiten müssen, um eine Yacht zu kaufen oder Urlaub auf den Seychellen zu machen. Die Einkommensteuerreform hat die Ungleichheit, die bereits durch die Marktkräfte erzeugt wird, noch verstärkt. Unklar sind die Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum. Für fundierte Aussagen hierzu ist es noch zu früh.

In der jüngsten Haushaltsdebatte im Bundestag haben insbesondere die Sozialdemokraten die derzeitigen höheren Wachstumsraten auch auf die Steuerpolitik von Rot-Grün zurückgeführt.
Seit der Kapitalismus existiert, entwickelt sich die Volkswirtschaft zyklisch. Verglichen mit anderen Zyklen ist der aktuelle Aufschwung eher geringer als in der Vergangenheit. Wenn man die Wirkungen der Steuerpolitik seriös herausfiltern will, braucht man Daten und Beobachtungen über einen längeren Zeitraum vor und nach der Reform.

Denn es gibt viele Gründe für höhere Wachstumsraten - zum Beispiel die boomende Weltwirtschaft. Die Studien über individuelle Unternehmerreaktionen legen bisher eher nahe, dass die Steuerpolitik keine positive Anreizwirkung gehabt hat. 

Wie beurteilen Sie die Erhöhung der Mehrwertsteuer?
Wenn man den Steuersatz schon erhöhen will, dann bitte im Aufschwung. So gesehen war der Zeitpunkt unter konjunkturellen Aspekten ziemlich glücklich gewählt. Die Verteilungswirkung wird allerdings negativ sein. Fiskalisch rechnet man mit etwa 24 Milliarden Euro mehr für die öffentlichen Kassen. Das ist in einer Situation der Unterfinanzierung positiv.

Doch hätte auch eine Erhöhung um nur einen Prozentpunkt gereicht, wenn man auf fragwürdige Maßnahmen wie das Elterngeld verzichtet und die direkten Steuern progressiv erhöht hätte. Wenn die Markteinkommen ungleicher werden, ist es Aufgabe der Politik, dem entgegenzuwirken. Also muss progressiver besteuert werden.

Und die Unternehmenssteuerreform?
Die von Steinbrück und Koch geplante Reform wird ein Albtraum für die Finanzprüfer und für die Steuerplanung der Unternehmen sein. Am stärksten werden ausländische Kapitalbesitzer profitieren. Die niedrige Abgeltungssteuer auf Zinseinkommen wird Portfolio- und Investitionsentscheidungen verzerren. Die Senkung der Steuersätze wird den internationalen Wettlauf nach unten verstärken. Und den öffentlichen Kassen werden weitere fünf Milliarden fehlen. Die Bundesregierung sollte auf diese Reform verzichten und stattdessen die EU-Ratspräsidentschaft benutzen, um die Weichen für eine europäische Unternehmenssteuer zu stellen.

Das Infrastrukturprogramm als weitere Säule Ihres New Deal in Höhe von rund 25 Milliarden Euro jährlich wird aus den zusätzlichen Steuereinnahmen und dem Plus an Beschäftigung finanziert. So weit, so gut. Aber wie wollen Sie uns die koordinierte Lohnpolitik verkaufen?
Man muss sie mit den Alternativen vergleichen, die realistisch sind - und nicht mit dem, was abstrakt wünschenswert ist. Die wahrscheinlichste Entwicklung ist die Erweiterung des Niedriglohnsektors durch Kombilöhne oder aktivierende Sozialhilfe. Man soll auch die Versuche, den Flächentarifvertrag auszuhöhlen und beim Kündigungsschutz eine Bresche zu schlagen, nicht unterschätzen.

Selbst beim Status quo werden die Arbeitnehmer zunehmend in zwei Klassen gespalten. Diejenigen, die es auf einen gut bezahlten, relativ sicheren Arbeitsplatz geschafft haben, stehen einem wachsenden Prekariat gegenüber, das allen Wechselfällen der Konkurrenz ausgesetzt ist. Das wahrscheinliche Ergebnis einer defensiven Gewerkschaftspolitik ist, dass die Insider immer weniger werden und die Gewerkschaften Mitglieder und gesellschaftliche Bedeutung verlieren. 

Wie kommen sie demgegenüber wieder in die Offensive?
Im Kapitalismus brauchen die schwächeren Teile der Gesellschaft die Gewerkschaften als kollektive Organisationen, die Wissen, Kompetenz und Interessenvertretung zusammenbringen. Doch die defensive Politik der vergangenen Jahre hat das Absterben der Gewerkschaften nur verlangsamt. Mit einem Vorschlag wie dem New Deal hingegen können die Gewerkschaften in die Offensive kommen und etwas anbieten: "Wir bringen ein Opfer, in dem wir für fünf Jahre auf ein reales Wachstum der Tariflöhne verzichten.

Dadurch schaffen wir Planungssicherheit für die Unternehmen und machen neue Personaleinstellungen attraktiv. Dafür wollen wir mehr Krippenplätze und bessere Schulen für unsere Kinder, bessere Krankenhäuser für unsere Eltern und eine saubere Umwelt für alle. Und zur Finanzierung dieser kollektiven Fortschritte verlangen wir gerechtere Steuern". Damit verhindert man, dass der Wohlfahrtsstaat in die Tonne getreten wird. Und die Gewerkschaften werden am Leben erhalten. Ansonsten bröckelt ihr Einfluss weiter.

Und wenn die Gewerkschaften in Vorlage gehen, aber die Regierung ihren Teil nicht hinbekommt?
Die Gewerkschaften sollen keinen Alleingang machen, sondern mit der Bundesregierung einen Pakt schließen. Ohne Arbeitgeber! Die Regierung verpflichtet sich auf eine Besteuerung nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit. Die Erbschaftssteuer wird angehoben, es gibt kein Bankgeheimnis für Kapitaleinkünfte, der Grenzsteuersatz für die höchsten Einkünfte ist wieder bei 50 Prozent.

Davon werden Zukunftsinvestitionen finanziert. Das schreibt die Regierung in Gesetze und in die Haushaltsentwürfe. Gleichzeitig verpflichten sich die Gewerkschaften auf jährliche Lohnsteigerungen nur in Höhe der Inflationsrate im Jahr davor. Nach fünf Jahren schauen wir, was passiert ist.

Man kann die Unternehmer politisch draußen halten. Aber in den Tarifverhandlungen sind sie nicht aus dem Spiel.
Für den Erhalt der Flächentarifverträge wäre ein solches Abkommen sogar ein starkes Signal. Denn es wäre höchst unpopulär, gegen dieses Agreement etwas zu unternehmen. Dann würden die Gewerkschaften jederzeit und aus einer moralisch besseren Position ihre Waffen einsetzen können. Denn sie verzichten nicht auf Widerstand, wenn Reallohnsenkungen verlangt werden.

Wie stehen die politischen Chancen für den New Deal?
In den letzten 20 Jahren mussten alle Industrienationen ihr Modell umstellen. Die Richtung hing von den politischen Kräfteverhältnissen ab. Wo das Kapital stärker war, wurde fast ausschließlich auf die Interessen der Großaktionäre und Top-Manager geachtet - wie in den angelsächsischen Ländern. Wo das Kräfteverhältnis ausgeglichener war - wie in den nordischen Ländern - wurde das neue Modell auch für die Arbeitnehmer akzeptabel.

Deutschland, Italien und Frankreich haben noch kein neues Modell gefunden. Wer werden die ausschlaggebenden Akteure sein, wenn das neue Modell entsteht? Wenn die Gewerkschaften dabei sein wollen, müssen sie etwas vorschlagen, das sowohl schlüssig als auch mehrheitsfähig ist.

Damit gehören Sie zu den wenigen Wirtschaftswissenschaftlern, die den Gewerkschaften einiges zutrauen.
Organisationen können - wie Menschen - aus Erfahrungen lernen und über das kurzfristige Eigeninteresse hinausgehen. In kritischen Situationen sind sie bereit, sich für das Gemeinwesen einzusetzen, wenn ein glaubwürdiges Projekt existiert. Ich glaube an die Macht der Ideen.



 

Zur Person
Weil er den Kolleginnen und Kollegen seiner Frau, einer Pianistin, erklären wollte, welcher Materie die Leidenschaft eines Finanzwissenschaftlers gilt, hat Giacomo Corneo, 42, ein ungewöhnliches, auch für ökonomische Laien verständliches, ja vergnügliches Buch geschrieben: "New Deal für Deutschland - Der dritte Weg zum Wachstum" ist im Sommer 2006 bei Campus erschienen.

Mit überraschenden Argumenten und präziser Kritik an gängigen Konzepten unterscheidet sich dieses Buch von den zahllosen Rezepturen, die schon zur Rettung Deutschlands veröffentlicht wurden. Viele Vorschläge Corneos widersprechen der praktizierten Politik und bestärken gewerkschaftliche Positionen. Dabei wendet er sich gleichermaßen gegen "das ökonomische Dogma des Sozialromantikers" wie gegen neoliberale "Sozialdarwinisten".

Studiert hat der gebürtige Italiener in Mailand, Paris und Bonn, in Berkeley und Philadelphia hat er geforscht. Zudem war er Berater beim französischen Finanzministerium. Seit 2004 lehrt er Finanzwirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin.
www.wiwiss.fu-berlin.de/ls/corneo


 

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