zurück
Magazin Mitbestimmung

: Geistiger Raubbau tut nicht weh

Ausgabe 04/2012

FLIESSBANDARBEIT Wer dauernd schwer hebt, riskiert einen Bandscheibenschaden. Wer über Kopf arbeitet, bekommt Schmerzen in der Schulter. Aber was passiert, wenn einer am Fließband in der Automobilindustrie immer die gleichen Handgriffe tun muss? Von Michaela Böhm

Von Michaela Böhm, Journalistin in Frankfurt/Main/Foto: Manfred Vollmer 

Der Montagearbeiter gleitet auf dem „Happy Seat“ durch die Öffnung der Karosse, wo später die Fahrertür eingesetzt wird. Ohne mühsam hineinklettern zu müssen. Horst Hansen (Name geändert) greift nach einem Schrauber, setzt eine Schraube auf, ein kurzes Surren, ein Licht leuchtet auf, nächste Schraube. Sonnenblende rechts, Sonnenblende links, vier Schrauben. Jetzt die Mittelkonsole und die Konsole mit der Diebstahlwarnanlage am Himmel. „Jörg, die Krawattennadel“, ruft Hansen. Jörg, Gruppensprecher und Springer, läuft los und reicht ihm die Halterung für die Bandführung des Sicherheitsgurts in den Wagen. Selbst aus der Karosse zu klettern und die Krawattennadel zu holen würde zu viel Zeit brauchen. Elfmal schrauben. Fertig. Nächstes Auto. 100 Sekunden sind vorüber. So lange ist der Takt.

Wir sind bei Opel Bochum, am Rande der Stadt, mitten in der Karosseriefertigmontage. Sieben Stunden und zehn Minuten dauert die Frühschicht. Das macht 258-mal ins Fahrzeug schwenken, über 500 Sonnenblenden befestigen, genauso viele Konsolen und 2838-mal schrauben. Am nächsten Tag das Gleiche. Fünf Tage pro Woche. Monat für Monat. Jahr für Jahr. Das geht nicht nur Horst Hansen so, sondern allen 2500 Arbeitern am Band – vom Presswerk bis zur Endmontage. Zwar rotieren die Montagearbeiter alle anderthalb Stunden, nach jeder Pause, aber die Handgriffe unterscheiden sich nur wenig. Und immer muss man konzentriert bleiben. „Sonst schieße ich den Himmel ab“, sagt Hansen. Soll heißen: Ich darf nicht versehentlich mit dem Schrauber in den Stoff der Decke geraten.

Lothar Degner, 49, heute Betriebsrat und Schwerbehindertenvertreter bei Opel in Bochum, erinnert sich genau: 950 Dichtungen hat er auf Getriebe gesetzt und 950 Bolzen. Neunhundertfünfzig. Tag für Tag. Das war 1990, als der Energieanlagenelektroniker zu Opel kam und in der Montage landete. In der ersten Woche denkt er: „Ein Albtraum! Das halte ich niemals bis zur Rente aus.“ Die Arbeit laugt so aus, dass er sich am Feierabend zu nichts aufraffen kann. Ich kündige, denkt er. In der zweiten Woche fiel es ihm leichter, nach der vierten war er versöhnt. Da hielt er seine erste Lohnabrechnung in der Hand. Montagearbeiter verdienen gut. Degner wollte trotzdem weg vom Fließband und konnte nach zwei Jahren zu den CNC-Maschinen wechseln. Also stimmt, was Arbeitswissenschaftler, Betriebsräte und Produktionsplaner sagen: Fließbandarbeit war schon immer stupide. Gestern wie heute. Ist das so?

Statt einer Antwort zwängt sich der Opel-Betriebsrat Dietmar Hahn im Bochumer Werk zwischen Fließband und Kommissionieranlage. Es ist noch nicht lange her, dass sich der Montagearbeiter die Sonnenblenden und Konsolen selbst aus dem Materialkasten holte. Heute liegt alles griffbereit auf dem nackten Blech der Karosse. Das ist bequem, oder? „Die zwei Meter, die der Arbeiter zum Materialkasten ging, wurden ihm weggenommen“, sagt Hahn missbilligend.

Die wenigen Sekunden, die einer braucht, um sich aus der gebückten Haltung aufzurichten und ein paar Schritte zu gehen, gelten als pure Verschwendung. Bewegungen sind nicht wertschöpfend. Weg damit. Was wegfällt, wird sofort durch einen Handgriff am Auto ersetzt. Ehemalige Beschäftigte aus der Fließfertigung, die Kernteams, planen, welche Handgriffe wann an welchem Linienabschnitt getan werden; und fahnden nach Verschwendungen. Die Planer stehen am Rande des Bandes und beobachten die Montagearbeiter und ihre Arbeitsabläufe akribisch. Steht einer untätig herum und wartet? Bewegt sich einer zu viel? Ist ein Handgriff fehleranfällig? Getreu dem japanischen Produktionssystem von Toyota werden unnötige Bewegungen identifiziert und getilgt – warten und transportieren gehört dazu. Tätigkeiten wie Vormontage, prüfen oder Materialbereitstellen sind schon längst vom Band abgetrennt, in andere Abteilungen oder an Externe ausgelagert worden. Ziel: mehr Autos pro Stunde, mehr Produktivität. Das geht in der standardisierten Massenproduktion der Automobilindustrie nur, indem das Band schneller läuft und mehr Menschen eingesetzt werden. Die stehen dicht beieinander, was wiederum ihre Arbeitsumfänge kleiner macht und automatisch den Takt verkürzt, sagt Detlef Gerst vom Ressort Arbeitsgestaltung und Gesundheitsschutz der IG Metall. Die Folge: Die Handgriffe wiederholen sich häufiger, die Arbeit wird eintöniger und anspruchsloser. Das ist nicht nur bei Opel in Bochum so. 

ZUM DAUERSTEHEN VERDAMMT_ Beim Autozulieferer Bosch in Bamberg hat die Linie 8 bei den Arbeitern einen schlechten Ruf. Ursprünglich für die Herstellung von Dieseleinspritzventilen für das Bosch-Werk in der Türkei vorgesehen, hat die Geschäftsleitung dann doch entschieden, das Band in Bamberg aufzubauen. Allerdings um den Preis, die doppelte Stückzahl zu machen. „Hamsterkäfig“ heißt es bei den Beschäftigten. Weil so wenig Platz ist. Weil die Arbeit monoton ist, aber viel Konzentration erfordert. Weil jeder Handgriff vorgeschrieben ist. Weil man zum Dauerstehen verdammt ist. Weil nicht einmal Gelegenheit ist, einen Schluck Wasser zu trinken oder die Nase zu putzen. Wie soll das gehen, wenn die Hände ständig was zu tun haben und nicht einmal Platz ist, um das Werkstück abzulegen? Die Linie 8 hat einen so schlechten Ruf bei den Stammbeschäftigten, dass innerhalb eines Jahres rund 500 da durchgeschleust wurden, aber keiner bleiben wollte. Jetzt arbeiten dort Befristete.

Ganzheitliche Produktionssysteme, bei denen sämtliche Arbeitsprozesse vom Personalwesen über Disposition bis zur Endabnahme aufeinander abgestimmt sind, setzen sich in der Industrie durch – egal ob in Deutschland, China oder Südafrika. Die Werke stehen in harter Konkurrenz zueinander, Ergonomie wird zum Kostenfaktor und „reduziert sich darauf, die Griffweiten zu optimieren“, kritisiert Jürgen Klippert vom Kassler Institut für Arbeitswissenschaft. Wie nah muss der Kasten herangerückt werden, damit einer gut hineingreifen kann und sich dabei nicht verrenken muss.

MAN WIRD ALT IM KOPF_ Was passiert, wenn einer über Jahre hinweg die immer gleichen Tätigkeiten verrichtet? Forscher vom Institut für Arbeitsforschung (IfADo) an der TU Dortmund haben vor vier Jahren Fließbandarbeitern in den Kopf geschaut, besser gesagt, sie haben dem Gehirn bei der Arbeit zugesehen. 91 freiwillige Opelaner aus Bochum setzten verkabelte Hauben auf und absolvierten am Bildschirm schwierige psychometrische Tests. Dabei ging es beispielsweise darum, schnell zwischen Aufgaben zu wechseln, ob Ziffern größer oder kleiner als fünf sind oder gerade oder ungerade. Mit dem Elektroenzephalogramm (EEG) konnten die Forscher den Aktivitäten im Gehirn zuschauen. Untersuchungen zu den Folgen eintöniger Arbeit gibt es bereits, aber weltweit zum ersten Mal wurde anhand der Hirnstrommessungen festgestellt, welche geistigen Fähigkeiten beeinträchtigt werden.

Die Gruppe bestand aus je 23 jüngeren und älteren Fließbandarbeitern sowie ebenso vielen jüngeren und älteren Arbeitern, die nicht am Band eingesetzt sind. Das Ergebnis nennt der Forscher Professor Michael Falkenstein vom IfaDo „ernüchternd, aber nicht anders zu erwarten“: Wer viele Jahre stumpfe Arbeit am Fließband verrichtet, ist im Kopf alt geworden. Was leidet, ist vor allem das Arbeitsgedächtnis, quasi der Arbeitsspeicher des Menschen, der für Aufmerksamkeit, Merk- und Gedächtnisfähigkeit sorgt, der dafür zuständig ist, dass wir zwischen verschiedenen Aufgaben wechseln können, im Kopf behalten, was eben noch gefragt war und Entscheidungen treffen.

Auffallend war, dass ältere Arbeiter, die nicht am Fließband arbeiten, sondern abwechslungsreiche Tätigkeiten verrichten, etwa Instandhalter, die Aufgaben gut lösten. Ihre geistigen Fähigkeiten ähnelten denen von jungen Arbeitern. Das lässt für Falkenstein nur einen Schluss zu: „Die Störungen des Arbeitsgedächtnisses haben nichts mit dem Lebensalter, aber sehr wohl mit den Arbeitsbedingungen zu tun.“ Er will nicht falsch verstanden werden: „Die Leute machen ihre Arbeit perfekt.“ Gerade ältere Fließbandarbeiter seien sorgfältig und lieferten gute Qualität. Aber die Handgriffe erfolgten fast automatisiert. Er hält es für eine Verletzung der Menschenrechte, Menschen wie Roboter einzusetzen und ihr Gehirn nicht zu fordern. Das hat Folgen: „Wer es nicht schafft, nach solch stumpfsinniger Arbeit in seiner Freizeit geistig anregenden Aktivitäten nachzugehen, sondern auf der Couch liegen bleibt und sich von simpel gestrickten Fernsehsendungen berieseln lässt, der tut seinem Gehirn nichts Gutes.“ Und merkt es erst nach vielen Jahren. Denn geistiger Abbau geht schleichend vor sich und tut nicht weh.

DER MENSCH BRAUCHT ABWECHSLUNG_ Eintönige Fließbandarbeit dequalifiziert die Beschäftigten, sie verlieren Fähigkeiten ihres ursprünglich gelernten Berufes, verlieren die Kompetenz, Neues zu lernen, trauen sich weniger zu und scheuen sich davor, auf anderen Arbeitsplätzen zu arbeiten, ergänzt Hartmut Buck vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart. Arbeitswissenschaftler wissen es längst: Der Mensch braucht die Abwechslung, braucht wechselnde Tätigkeiten – planen, Material verteilen, kommissionieren oder vormontieren. Mal sitzen, mal stehen, mal gehen, mal grob-, mal feinmotorisch, mal Routinearbeit, mal kreative Arbeit.

Doch das gibt es nur selten. In der Fließfertigung wird zwar auf den körperlichen Belastungswechsel geachtet, aber nicht unbedingt darauf, dass der Mensch abwechselnd gehen, sitzen oder stehen soll. Sondern allenfalls, um gravierende körperliche Schäden zu vermeiden. Salopp gesagt: Wer an einer Arbeitsstation die Schultern beansprucht, wechselt zu einer Tätigkeit, die mehr die Knie fordert. Mehr noch: „All die Gesundheitsmaßnahmen sind Mittel zum Zweck, um kurze Takte durchzusetzen“, ist Heinz Boneder, Betriebsratsmitglied bei BMW in Dingolfing, überzeugt.

Von menschengerechter Gestaltung von Arbeit, die das Denken, Lernen und die Persönlichkeit fördert, sind die Arbeitssysteme in den Montagen der Automobilindustrie weit entfernt, kritisiert Detlef Gerst von der IG Metall. Deshalb haben der Betriebsrat und der Ergonom Dieter Welwei von Opel in Bochum zusammen mit dem Forscher Falkenstein für PFIFF, das „Programm zur Förderung und zum Erhalt intellektueller Fähigkeiten für ältere Arbeitnehmer“ beim Bundesministerium für Arbeit weiteres Geld lockergemacht. Und auch die Werksleitung hat das PFIFF-Projekt unterstützt, betont Pressesprecher Alexander Bazio, und die Erkenntnisse in ergonomische Verbesserungen umgesetzt und beispielsweise den „Happy Seat“ angeschafft.

PFIFF HILFT_ Die Frage war: Hilft mentales Training, die grauen Zellen wieder zu aktivieren? Wieder wurden freiwillige Opelaner gesucht. Dieses Mal hat sich auch Lothar Degner gemeldet. Verkabelte Haube aufsetzen, los ging’s mit den Tests, bei denen wieder die Hirnströme gemessen wurden. Bis zu 20 Zahlenreihen sollte er vorwärts und rückwärts aufsagen. Das lief prima, nur bei einer Art Memory schnitt er schlecht ab. Grund genug, beim Training mitzumachen. Über mehrere Wochen hinweg hat er Gehirnjogging betrieben und an einem Anti-Stress-Programm teilgenommen. Mit Erfolg. „Ich konnte am Ende des Trainings viel höhere Schwierigkeitsstufen bewältigen.“

Doch am Ende zeigte die Opel-Werksleitung kein Interesse, das Training fortzuführen. „Den Leuten wurde geraten, ihre mentale Fitness zu Hause zu trainieren“, sagt Betriebsratsmitglied Dietmar Hahn. Und die Arbeitsbedingungen am Fließband ändern? Dietmar Hahn lacht kurz auf: „Hier geht es um die Optimierung des Standorts und die Auslastung der Beschäftigten.“ Und gerade auch wieder einmal darum, das Werk vor der Schließung zu bewahren.

Die Forschungsergebnisse von PFIFF – das Projekt ging 2011 zu Ende – sollten jedoch nicht in der Schublade verschwinden, IfaDo-Forscher Falkenstein will das Trainingsprogramm auch in andere Betriebe tragen, wo Menschen monotone Arbeit verrichten. Interesse zeigten etwa RWE in Essen und das Volkswagen-Werk in Kassel. Seit Kurzem gibt es dort die erste Fitness-durch-Köpfchen-Insel, um Gedächtnis, Konzentration und Merkfähigkeit zu trainieren. Vorerst nur für die Leistungsgewandelten, also Beschäftigte, die wegen Krankheiten nicht in der regulären Produktion einsetzbar sind. Ziel ist, das Training bald für alle anzubieten. So wie Rückenschule und Yoga. Gute Idee. Und doch bleibt es dabei, dass jeder selbst reparieren soll, was Arbeit angerichtet hat.

Mehr Informationen

Das Projekt PFIFF (Programm zur Förderung und zum Erhalt intellektueller Fähigkeiten für ältere Arbeitnehmer) wurde zusammen mit der Bundesanstalt für Arbeitsschutz (BAuA) in Berlin durchgeführt und vom Arbeitsministerium (BMAS) finanziert. Weitere Informationen unter: www.pfiffprojekt.de

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen