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Collage aus den Wörtern Energiepreise, Industriepolitik, Konkurrenz aus China, Infrastruktur, Bürokratie,  Fachkräftemangel Magazin Mitbestimmung

Unternehmen: In der Defensive

Ausgabe 06/2025

Die deutsche Wirtschaft steht unter Druck. Als exportorientierte Nation leidet Deutschland mehr als andere Länder unter geopolitischen Krisen. Im Jahr 2024 lag die Produktion um 4,5 Prozent unter dem Niveau von 2023. Laut dem Institut für Arbeitsmarktforschung (IAB) gehen in der deutschen Industrie derzeit monatlich rund 10 000 Arbeitsplätze verloren. Auch der Dienstleistungssektor steht durch den anhaltenden Fachkräftemangel vor Herausforderungen. Es gibt verschiedene Hemmnisse. Von Andreas Schulte und Fabienne Melzer

Energiepreise

Betriebsratsvorsitzender Oliver Elsen in Arbeitskleidung mit Helm vor dem Werksgelände von AOS Stade
Bei der Produktion auf Erdgas angewiesen: Betriebsratsvorsitzender Oliver Elsen sieht AOS Stade den hohen Kosten ausgeliefert.

AOS Stade: Von teurem Gas abhängig

Ohne Gas geht nichts bei Aluminiumoxid Stade (AOS). 550 Beschäftigte wandeln in Stade an der Elbe den Rohstoff Bauxit in Aluminiumoxid um. Die britische Muttergesellschaft Dadco Alumina & Chemicals kauft es, damit ihre Kunden es zum Beispiel zu Aluminium weiterverarbeiten. Für die Produktion benötigt AOS Erdgas, viel Erdgas. Das Problem: In kaum einem anderen Land bezahlen Unternehmen so viel dafür wie in Deutschland. Dazu tragen insbesondere die nationale CO₂-Abgabe  und die Energiesteuern sowie der europäische Emissionshandel bei. 

„Wir sind bei der Produktion technisch auf Erdgas angewiesen und den hohen Kosten damit ausgeliefert“,  sagt Betriebsratsvorsitzender Oliver Elsen, zugleich Mitglied des Aufsichtsrats. „Im internationalen Wettbewerb geraten wir dadurch ins Hintertreffen.“ Auch für die Belegschaft könnte das Folgen haben, denn wenn Arbeitgeber keine andere Stellschraube zum Sparen haben,  geht dies oft zulasten der Belegschaften. Beispiele gibt  es bereits: So hat der Chemiekonzern Covestro einen Personalabbau angekündigt. Und BASF hat im April dieses Jahres beschlossen, bis Ende 2026 weltweit rund 3300 Stellen abzubauen, davon etwa 700 Stellen in der Produktion in Ludwigshafen.

Unter den Sozialpartnern verhärtet sich die Front gegen den europäischen Emissionshandel, der Energie indirekt verteuert. Nach europäischem Recht müssen energieintensive Unternehmen Zertifikate kaufen, um CO₂ ausstoßen zu dürfen. Die Zertifikate werden allmählich verknappt, was den Preis weiter treibt.

Ende August forderte der IGBCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis von der Bundesregierung eine Nothilfe, um Betriebsschließungen zu verhindern. Die EU forderte er zugleich auf, bei den Zertifikatspreisen nachzujustieren. Ende Oktober verlangte Christian Kullmann, Chef des Essener Chemiekonzerns Evonik, sogar ein Ende des europäischen Emissionshandels. Oliver Elsen begrüßt den Vorstoß. „Dabei sitzen wir mit den Arbeitgebern in einem Boot.“

Auf nationaler Ebene verteuern Steuern, Netzentgelte und Umlagen den Strom. Um die Einführung des lange geforderten, günstigeren Industriestrompreises hat die Politik sich monatelang herumgedrückt, auch weil eine Subvention gegen das EU-Recht verstoßen könnte. Im Koalitionsvertrag ist die Einführung bereits vorgesehen., dabei ist sie bereits im Koalitionsvertrag vorgesehen. Anfang November bekräftigte Bundeskanzler Merz die Einführung des Industriestrompreises. Für wen er genau gelten soll, ist weiter unklar.  

Industriepolitik

Marco Hucklenbroich, Betriebsratsvorsitzender bei Ineos in Köln auf Werkgelände
Marco Hucklenbroich, Betriebsratsvorsitzender bei Ineos in Köln, beklagt die mangelnde Unterstützung der Industrie durch die Politik.

Ineos: Hilferufe der Chemie bleiben ungehört

Eine Industriepolitik hat es in den vergangenen Jahren in Deutschland und Europa kaum gegeben. Viele Unternehmen spüren die Folgen. Eines davon ist Ineos. Mitte des Jahres verkündete der Chemiekonzern das Aus für den Standort Gladbeck, und auch Marl „wackelt gefährlich“. So beschreibt Marco Hucklenbroich die Lage. Für die Misere gibt der Betriebsratsvorsitzende am Standort in Köln größtenteils der Politik die Schuld.

„Wir weisen schon seit Jahren darauf hin, dass wir in Europa unter den derzeitigen Bedingungen nicht wettbewerbsfähig produzieren können. Wenn es so weitergeht, wird es hier bald keine chemische Industrie mehr geben“, sagt Hucklenbroich. Denn die CO2-Abgaben auf dem  Kontinent sind deutlich höher als an den übrigen Märkten. Das Problem: Für eine aktive europäische Industriepolitik findet sich unter den Mitgliedstaaten der EU keine Mehrheit. „Nur wenige Länder haben ähnlich viel energieintensive Industrie, daher teilt kaum jemand unsere Interessen. Wir sind vielen in Brüssel schlicht und einfach egal“, sagt Hucklenbroich.

Ineos in Deutschland verliert aktuell Marktanteile durch China- und US-Importe. Das Unternehmen kann preislich nicht mithalten. „Kurzfristig helfen nur Gegen zölle“, sagt Hucklenbroich. Doch auch Gegenzölle allein können das Pro blem dauerhaft nicht lösen. „Denn auf  Zölle dürften die USA und womöglich andere Länder wiederum mit Zöllen reagieren. Davon könnten hierzulande Unternehmen und Branchen betroffen sein, denen es jetzt noch gut geht“, fürchtet Hucklenbroich.

Der lange Arm der fehlenden Industriepolitik reicht bis in die Familien. Angesichts des trüben Ausblicks litten  viele Kolleginnen und Kollegen unter Existenzängsten,  beobachtet Hucklenbroich. „Ich blicke hier schon lange nicht mehr in lächelnde, sondern in besorgte Gesichter.“

Konkurrenz aus China

Versandfertige Stahlcoils liegen im Kaltwalzwerk Beeckerwerth der ThyssenKrupp Steel AG in Duisburg zum Abtransport bereit.
Stahlcoils liegen versandfertig im Kaltwalzwerk Beeckerwerth der ThyssenKrupp Steel AG in Duisburg zum Abtransport bereit.

Thyssenkrupp: Metaller fordern Schutzzölle

Die Stahlsparte von Thyssenkrupp schreibt schon lange rote Zahlen. Deshalb will der Mutterkonzern Thyssenkrupp Steel Europe verkaufen, doch bislang sprangen noch alle Interessierten wieder ab. Dabei haben die Arbeitnehmervertreter nicht einmal etwas gegen einen Verkauf, sofern der Käufer Arbeitsplätze sichert und in die Stahlsparte investiert. Denn aus eigener Kraft dürfte Thyssenkrupp Steel Europe wohl kaum wieder in die Gewinnzone gelangen. Schon jetzt ist klar: 11 000 Stellen werden im Unternehmen wegfallen.

Vor allem die Konkurrenz aus China macht den Duisburgern zu schaffen. „Die Chinesen liefern Stahl oft billiger, als wir die Vorprodukte herstellen können – und das pünktlich, in hoher Qualität“, sagt Marc Winter, Betriebsratsvorsitzender am Standort Rasselstein bei Koblenz. Nach Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sind Chinas Stahlsubventionen fünfmal so hoch wie die der EU. Auch die deutsche Bekleidungsindustrie und der Maschinenbau leiden unter Billigimporten aus China.

Erschwerend für die Stahlbranche und für Thyssenkrupp kommt hinzu: Die deutsche Autoindustrie schwächelt. Sie gilt als Indikator für den deutschen Stahl: „Wenn die Autoindustrie hustet, bekommen wir bei Thyssenkrupp eine Lungenentzündung“, sagt Tekin Nasikkol, Gesamtbetriebsratsvorsitzender bei Thyssenkrupp. Doch auch hier spielt China eine Schlüsselrolle. Die Europäische Kommission rechnet vor, dass staatliche Anreize die effektiven Produktionskosten von chinesischen Elektrofahrzeugen um bis zu 35 Prozent senken. Dies rechtfertige Ausgleichszölle von bis zu 38 Prozent.

Allein, der Ruf deutscher Unternehmen nach Zöllen verhallte bislang nahezu ungehört. Seit dem nationalen Stahlgipfel Anfang November dringt die Bundesregierung bei der EU-Kommission darauf zu prüfen, ob Zölle auf Stahlimporte nötig sind. Außerdem soll Stahl etwa für Infrastrukturprojekte künftig vorrangig von europäischen Herstellern stammen. Noch ist unklar, wie solche Maßnahmen handelsrechtlich umsetzbar sind. 

Infrastruktur

Blick auf den Container Umschlagplatz am Umschlagbahnhof in München Riem
Am Umschlagbahnhof in München Riem werden reihenweise Container verladen.

DB Cargo: EU bremst Bahn aus

Bis Ende 2026 wird es höchst anspruchsvoll für DB Cargo. Bis dahin muss Deutschland gemeinsam mit der Bahntochter einen Umstrukturierungsplan für den defizitären Einzelwagenverkehr des Unternehmens umsetzen. So verlangt es die EU, denn die Kommission hat DB Cargo eine Beihilfe in Milliardenhöhe gewährt. Als Gegenleistung muss DB Cargo sicherstellen, dass die Sparte des Einzelwagenverkehrs bis Ende 2026 profitabel wird. Gelingt es nicht, in die Gewinnzone zurückzukehren, kann die EU-Kommission von DB Cargo Rückzahlungen für Beihilfen in Milliardenhöhe verlangen, so lautete die Auflage bei Gewährung der Beihilfe. „Die EU-Kommission kann uns damit das Licht ausmachen“, sagt Uli Schmidt, stellvertretender Geschäftsführer des Gesamtbetriebsrats bei DB Cargo.

DB Cargo steht damit vor einem Dilemma. Der Einzelwagenverkehr trägt zur Daseinsvorsorge bei, indem er wichtige Güter transportiert. Zugleich  erfordert er viele manuelle Tätigkeiten, Einsparpotenziale gibt es kaum. „Auf die Schnelle lässt er sich daher nicht gewinnbringend gestalten“, sagt Schmidt. „Sehr viele Gesellschaften sind defizitär, die Einzelwagenverkehr betreiben.“

Ohne den Einzelwagenverkehr aber würden mehr Waren auf der Straße befördert werden. Schmidt spricht von 40 000 Lkw pro Tag. Dabei können längst nicht alle Güter, wie etwa Stahl, auf der Straße transportiert werden. In vielen Branchen würden Lieferketten unterbrochen. Eine Deindustrialisierung wäre die Folge, viele Arbeitsplätze gingen verloren.

Uli Schmidt verlangt nun einen Kraftakt, auch von  der Politik. „Die EU-Kommission hat bei der Vergabe von Beihilfen zu viele Befugnisse. Der Kanzler muss sich für eine Nachverhandlung, zum Beispiel zur Streckung des Sanierungszeitplans, stark machen“, sagt er.

Doch Investitionen braucht es nicht nur für den Einzelwagenverkehr. Auch die marode Infrastruktur, wie etwa das Bahnnetz, bremst das Geschäft aus. Transporte verzögern sich dadurch, die Wettbewerbsfähigkeit der Schiene leidet, Einmalinvestitionen für die Infrastruktur verpuffen. „Wir brauchen eine Verstetigung der Mittel, damit die Zukunft verlässlich geplant werden kann“, sagt Schmidt.

Bürokratie

Roland Busch, Vorstandsvorsitzender Siemens, bei der Eröffnung der Hannover Messe
Roland Busch, Vorstandsvorsitzender Siemens, bei der Eröffnung der Hannover Messe

Siemens: Behörden  verschleppen den Fortschritt

Der Siemens-Konzern eilt seit Jahren von einem Rekord zum nächsten. So lag der Gewinn auch im Geschäftsjahr 2024/25 mit 10,4 Milliarden Euro wieder über dem Vorjahr, als er noch neun Milliarden betrug. Der einstige Hersteller von Elektrogeräten wie Waschmaschinen oder Mobiltelefonen zählt inzwischen zu den führenden Technologieunternehmen. Nach Umsatz ist Siemens einer der größten Softwarehersteller weltweit. Vor allem bei der Entwicklung und dem Einsatz industrieller KI spielt das Unternehmen an der Weltspitze mit. Doch fühlt sich das Unternehmen durch Überregulierung,  Bürokratie und lange Genehmigungsverfahren gebremst.

Hagen Reimer, Konzernbeauftragter der IG Metall und Aufsichtsratsmitglied bei Siemens, hält das keineswegs für Panikmache. „Das hört sich für uns als Arbeitnehmerbank durchaus plausibel an.“ Gerade bei KI spiele Tempo eine wichtige Rolle. „Siemens ist ja selbst sensibel mit Maschinendaten“,  sagt Reimer. „Aber hier werden Maschinendaten durch 22 Roland Busch, Vorstandsvorsitzender Siemens,  bei der Eröffnung der  Hannover Messe EU- Vorgaben übertriebenen Schutzmechanismen unterworfen.“ Auf dem Weltmarkt muss sich Siemens gegen Konkurrenz aus Amerika und China behaupten, wo Genehmigungsverfahren oft deutlich schneller laufen. „Das ist, als würde man bei einem Rennen mit zusammengebundenen Füßen laufen“, sagt Reimer.

Genehmigungs- und Planungsverfahren dauern in Deutschland oft unverhältnismäßig lange, denkt auch der Metaller. Zwischen Leipzig und Chemnitz etwa scheitere die Elektrifizierung der Bahnverbindung aus einer Vielzahl von Gründen seit über 25 Jahren an knapp 30 Kilometern Oberleitung. Aktuell ist der Baubeginn für 2027 und die Fertigstellung für 2032 geplant. „In der Zeit genehmigen, planen und bauen sie in China eine Schnellbahntrasse über Hunderte Kilometer“, sagt Reimer.

Der Metaller will keineswegs chinesischen Verhältnissen das Wort reden. Aber in der Zeit, in der hier Gerichte und Politik Umweltschutz- und andere Interessen gegeneinander abwägen, hätten Mitbewerber aus Asien den Markt längst abgedeckt. „Es geht für Siemens nicht unbedingt darum, dass solche Entscheidungen immer in seinem Sinne ausfallen“, sagt Reimer. „Es geht darum, dass sie einfach schnell getroffen und dann nicht wieder umgeworfen werden.“

Fachkräftemangel

Pflegekraft, die ein Bett herrichtet im Krankenhaus
Pflegekräfte müssen zu oft Aufgaben von Servicekräften übernehmen.

Helios: Pflegepersonal unter Dauerstress

Für Arbeitgeber ist die Sache klar: Laut der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) sehen etwa 62 Prozent von ihnen im Fachkräftemangel ein großes Geschäftsrisiko. Das Mantra vom fehlenden Personal erschallt seit einigen Jahren. Dabei ist der Fachkräftemangel kein Schicksal. Laut einer Studie der Hans- Böckler-Stiftung suchen Unternehmen zwar händeringend nach Personal, doch zugleich entlassen sie Beschäftigte. Offensichtlich trennen sie sich also lieber von ihrem Personal, anstatt es fit zu machen für neue Aufgaben. „Solche Befunde legen nahe, dass ein Teil der Arbeitgeber noch nicht verstanden hat, dass Investition in die Beschäftigten ein wichtiger Lösungsansatz ist“, sagt Bettina Kohlrausch, Wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

Ganz ähnlich sieht dies Bernd Behlert. Der Konzernbetriebsratsvorsitzende der Helios Kliniken redet den Fachkräftemangel nicht klein. Laut Verdi fehlen an deutschen Krankenhäusern Zehntausende Stellen. „Viele verlassen den Job, weil er immer unattraktiver wird. Pflegekräfte werden zu wenig wertgeschätzt“, sagt Behlert.  Die größten Kritikpunkte: Pflegekräfte verdienen zu wenig, und sie werden zunehmend zu Tätigkeiten herangezogen, die eigentlich Servicekräfte erledigen sollten. Krankenhäuser halten die Mindestanzahl an Pflegekräften nicht ein.

So nimmt die Arbeitsverdichtung immer weiter zu. Dadurch verlassen wiederum mehr Kolleginnen und Kollegen diese Branche – ein Teufelskreis. Außerdem ziehen private Krankenhausträger Gewinne aus dem öffentlich finanzierten Gesundheitssystem, und Bundesländer kommen ihren Verpflichtungen zur finanziellen Ausstattung der Kliniken nicht ausreichend nach.

„Angeworbene Fachkräfte aus dem Ausland helfen  nur punktuell“, sagt Behlert. Zu oft gelinge die Integration nicht. „Schon nach zwei bis drei Jahren verlassen sie Deutschland wieder. Wir müssen Arbeitskräfte aus Deutschland gewinnen.“

Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung zeigt, dass dies gelingen kann. Ausreichend Personal, verlässliche Arbeitszeiten und ein gutes Gehalt würden zur Rückkehr von mindestens 300 000 Vollzeitpflegekräften in den Beruf oder zur Aufstockung der Arbeitszeit von Teilzeitkräften führen.

Eine weitere Studie der Stiftung nennt Lösung sansätze für den Fachkräftemangel auch in anderen  Branchen: attraktive Arbeitsbedingungen, eine vorausschauende Personalpolitik, die auch auf Aus- und Weiterbildung setzt. Und bessere Kinderbetreuungsangebote könnten mehr Frauen eine Berufstätigkeit ermöglichen. 

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