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Cover der CD 'Fremd im eigenen Land' von Advanced Chemistr Magazin Mitbestimmung

Das politische Lied: Kein Ausländer und doch ein Fremder

Ausgabe 05/2023

August 1992, seit Tagen halten rechtsradikale Ausschreitungen an einer Unterkunft für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen an. Mit ihrem Song „Fremd im eigenen Land“ rappt die Hip-Hop-Band Advanced Chemistry auf Deutsch gegen Alltagsrassismus und Fremdenfeindlichkeit an.

Advanced Chemistry: Fremd im eigenen Land (1992)

Ich hoffe, die Radiosender lassen diese Platte spiel‘n
Denn ich bin kein Einzelfall, sondern einer von viel‘n
Nicht anerkannt, fremd im eigenen Land
Kein Ausländer und doch ein Fremder
 

Nach der vierten Krawallnacht rechnet die Polizei mit weiteren rechtsradikalen Ausschreitungen in Rostock. Die Stadt sei inzwischen ein Sammelplatz für Rechtsradikale aus dem ganzen Bundesgebiet geworden, sagte ein Polizeisprecher. Mit einem Ausschnitt aus der Tagesschau vom 26. August 1992 über die Ausschreitungen an einer Unterkunft für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen beginnt der Song „Fremd im eigenen Land“ der Heidelberger Hip-Hop-Band Advanced Chemistry.

Die drei Rapper Torch, Linguist und Toni-L berichten in ihrem Song drei Strophen lang aus erster Hand vom Alltagsrassismus, der Kindern aus Einwandererfamilien täglich entgegenschlägt, von herablassenden Sprüchen über Racial Profiling bis hin zu körperlicher Gewalt. Jede Strophe beginnt mit: „Ich habe einen grünen Pass mit ’nem goldenen Adler drauf“ und endet mit: „Kein Ausländer – und doch ein Fremder.“

Der zentrale musikalische Baustein des Songs ist ein Sample der Erkennungsmelodie von Spiegel TV. Das passt in die Tradition des politisch engagierten Hip-Hop. Chuck D, Rapper der US-Formation Public Enemy, prägte einst den Ausspruch, Rap sei das CNN der Schwarzen.

Die Mitglieder von Advanced Chemistry sind in Deutschland geboren. Die Eltern von Torch kommen aus Ostpreußen und Haiti, Toni-L ist italienischer Abstammung, die Familie von Linguist stammt aus Ghana, er ist dort und in Deutschland aufgewachsen. Ständig müssen sie sich erklären, rechtfertigen, fragen lassen, ob sie einmal in ihre Heimat zurückgehen
möchten. Advanced Chemistry hatte sich 1987 in Heidelberg gegründet. Durch afroamerikanische GIs waren sie mit Hip-Hop in Berührung gekommen. Die junge Szene organisierte ihre eigenen Jams – Auftritte, auf denen oft spontan und im Stegreif gerappt wurde.

Zu Beginn rappt die Szene – viele sind bilingual – noch auf Englisch. Die deutsche Sprache gilt als uncool. „Oft wurde ihre Beherrschung einem sogar ganz abgesprochen“, sagt Linguist rückblickend. „‚Woher kannst du denn so gut Deutsch?‘“ Irgendwann streut Torch deutsche Ansagen und Reime ein, bringt Freestyles auf Deutsch und gilt seitdem als der Erste, der auf Jams deutsch rappt.

1992 kennt das Radiopublikum deutschen Rap nur von den Fantastischen Vier, die es grade mit dem harmlosen Mittelschichtsulk „Die da!?!“ in die Hitparaden geschafft haben. „Fremd im eigenen Land“ läuft zwar nicht so häufig im Radio, und doch schlägt der Song ein. MTV spielt ihn europaweit. „Der Song war wirklich polarisierend“, erinnert sich Torch in einem Interview. „Es ist ja überhaupt kein Radiosong, er hat nicht die richtige Länge, ist nicht nett, da passt gar
nichts. Aber den Leuten hat das alles aus der Seele gesprochen.“ Vor allem unterwandert der wütende, aus persönlicher Sicht geschriebene Song selbstbewusst das Monopol der „eingeborenen Deutschen“, zu bestimmen, was denn Deutschsein heißt.

Inzwischen bekommt die Hip-Hop-Szene Anerkennung von höchster Stelle: 2021 zeichnet die Stadt Heidelberg Torch mit der Richard-Benz-Medaille aus. 2023 wird die „Hip-Hop-Kultur in Heidelberg und ihre Vernetzung in Deutschland“ in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Die Pioniere aus Heidelberg, die im Hip-Hop ein Zuhause fanden, haben ihr Land geprägt.

Das Lied anhören/ansehen:

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