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Magazin Mitbestimmung

: Auf der Wartebank

Ausgabe 09/2011

ARBEITSMARKT Hunderttausende Jugendliche hängen in Deutschland Jahr für Jahr zwischen Schule und Berufsausbildung fest. Sie drehen Warteschleifen in Eingliederungsmaßnahmen, Praktika und Bewerbungstrainings. Das sogenannte Übergangssystem wird von keinem gemocht, aber weiter gebraucht. Doch Veränderungen sind überfällig. Von Carmen Molitor

CARMEN MOLITOR ist Journalistin in Köln/Foto: epd, Gustavo Alabiso

Wenn man sich das Übergangssystem als ein Dickicht vorstellt, dann gehört Judith Radscheit zu den Gärtnerinnen, die auf einer Parzelle Ordnung schaffen sollen. Seit Anfang 2011 arbeitet sie als Projektkoordinatorin des Regionalen Übergangsmanagements (RÜM) im Kreis Euskirchen in Nordrhein-Westfalen. Das RÜM soll, für drei Jahre finanziert vom Bund und der EU, auf regionaler Ebene für eine bessere Abstimmung der Maßnahmen im Übergang von der Schule in die Berufsausbildung sorgen. Doch selbst in einem überschaubaren Landkreis wie Euskirchen weiß keiner so genau, wie viele und welche Projekte den Schulabgängern so alles dafür zur Verfügung stehen. Radscheit wagt nicht einmal eine grobe Schätzung. Man sei gerade dabei, Zahlen zu erheben, Transparenz und Netzwerke zu schaffen, um langfristig eine bessere Koordination hinzubekommen, sagt sie. Eines sei jedoch sicher: „Auch bei uns sind zu viele Jugendliche im Übergangssystem.“ Und fügt hinzu: „Wenn sie immer wieder von einer Maßnahme zur anderen kommen und den beruflichen Anschluss nicht sehen, lässt ihre Motivation nach. Wir wünschen uns, dass es mehr direkten Anschluss in eine berufliche Ausbildung gibt.“

Das wünschen sich viele. Seit 1990 stieg aufgrund des Lehrstellenmangels bundesweit der Anteil an Jugendlichen, die nach Abschluss der Schulzeit nicht mehr sofort in eine Ausbildung des dualen Systems gelangten. Ihre Zahl wuchs bis 2005 auf 417 000. Frühestens im zweiten Anlauf eine Ausbildung zu erhalten wurde normal: 2006 stammte erstmals jeder zweite Bewerber auf eine Lehrstelle nicht aus dem aktuellen Schulentlassjahr. Für die Wartenden entstand eine Flut von schulischen und außerschulischen Angeboten aller möglichen Träger, die vor allem zwei Schönheitsfehler haben: Sie sind nicht gut miteinander koordiniert und bringen viele Jugendliche kaum näher an einen Betrieb heran. „Unterschiedliche Ressorts auf der Ebene von Bund, Ländern und Kommunen haben jeweils ihre eigenen Maßnahmen geschaffen – aus einem meistens sehr unmittelbaren Problemdruck heraus“, erklärt Professor Dieter Euler, Direktor des Instituts für Wirtschaftspädagogik an der Universität St. Gallen, der seit Jahren zum Übergangssystem forscht. „Diese Maßnahmen führten eher zu einem additiven Nebeneinander als zu einer koordinierten, abgestimmten Gesamtkonzeption.“ Alles zusammen kostet die öffentlichen Haushalte mehr als vier Milliarden Euro jährlich.

NOTLÖSUNG STATT LÖSUNG_ Dass so manches im Übergang eher Notlösung als Lösung ist, hat RÜM-Managerin Judith Radscheit zuvor als Mitarbeiterin eines Trägers erlebt, der ein freiwilliges „Werkstattjahr“ anbot. Mit dem Projekt ermöglicht die Bundesagentur für Arbeit (BA) Jugendlichen, die weder eine Lehrstelle noch eine Berufsvorbereitungsmaßnahme gefunden haben, in der Ausbildungswerkstatt eines Bildungsträgers ihre handwerklichen Fähigkeiten zu erproben. Eine Maßnahme, die von den Inhalten her einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme (BvB) der BA vorgeschaltet ist. Es kann aber auch mal sein, dass Jugendliche auf Geheiß ihres Berufsberaters bei der BA zuerst das BvB und danach das Werkstattjahr durchlaufen – und damit einen Rückschritt machen. „Die Zuweisung hat auch etwas mit dem Datum zu tun“, erläutert Radscheit. „Das Werkstattjahr wird relativ früh befüllt, das BvB erst nach den Sommerferien. Da ist es leider einfach so, dass da nicht im Vordergrund steht, was mit dem Jugendlichen los ist, sondern welche Maßnahme zuerst befüllt werden muss.“

Die berufsvorbereitenden Bildungsgänge der BA waren 2009 mit fast 78 000 Teilnehmenden das Angebot, das unter den Bildungsgängen für Jugendliche ohne besondere Auffälligkeiten am häufigsten gewählt wurde. Zehn Monate lang sollen sich die Jugendlichen über Praktika und Unterricht bei einem Bildungsträger auf die „Eingliederung in Ausbildung“ vorbereiten. Bildungsgänge, die einen Abschluss der Sekundarstufe I oder eine anrechenbare berufliche Grundbildung vermitteln, und das Berufsgrundbildungsjahr folgten auf den Plätzen zwei, drei und vier der gefragtesten Bildungsgänge. Jugendliche ohne Schulabschluss und mit besonderen persönlichen oder sozialen Schwierigkeiten oder mangelnden Deutschkenntnissen nehmen am häufigsten an der „Berufsausbildung Benachteiligter“ der BA teil – Stand April 2011 waren es 117 500.

Es gibt zwei sehr unterschiedliche Gruppen, die im Wartezimmer zwischen Schule und Beruf festsitzen: Die „marktbenachteiligten“ Jugendlichen, die eine Ausbildung erfolgreich absolvieren könnten, aber kein Angebot finden. Und jene, die aufgrund verschiedener Defizite nach der Schule eine persönliche Förderung brauchen, um fit für den Arbeitsmarkt zu werden. Für die erste Gruppe sind viele Maßnahmen im Übergang Zeitverschwendung, denn sie brauchen nichts anderes als eine gezielte Vermittlung in einen Betrieb. „Jugendliche, die einzig aufgrund mangelnder Ausbildungsangebote keinen betrieblichen Ausbildungsplatz finden, benötigen keine berufsvorbereitende Maßnahme und keine Einstiegsqualifizierung“, betont die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ingrid Sehrbrock. „Diese Jugendlichen sollten spätestens sechs Monate nach Beginn des Ausbildungsjahres einen Rechtsanspruch auf eine außerbetriebliche Ausbildung erhalten.“

WEDER SYSTEM NOCH ÜBERGANG_ Die in der Bildungsdiskussion übliche Bezeichnung „Übergangssystem“ mag man beim DGB nicht: „Grundsätzlich haben wir ein Problem mit dem Begriff, weil es kein geordnetes System ist und auch keinen geregelten Übergang von Schule in den Beruf schafft“, betont Hermann Nehls aus der Abteilung Bildungspolitik und Bildungsarbeit beim DGB-Bundesvorstand. Es gebe ein „mangelndes Zusammenspiel der unterschiedlichen Akteure“. Man nehme nur die allgemeinbildenden Schulen: „Unser Eindruck ist, dass das ganze Thema Berufsorientierung und Berufswegeplanung im schulischen Angebot nicht wirklich systematisch verankert ist, weder im Curriculum noch in den Köpfen des Lehrpersonals“, sagt Nehls. Die BA erfülle ihre Aufgabe in der Berufsberatung nicht ausreichend: „Und wenn Beratung gemacht wird, dann in der Regel nach sogenannten Kundenprofilen. Das sind Schablonen, in die die Jugendlichen gepresst werden. Doch Berufswegeplanung hat viel mit einer individuellen Orientierung zu tun.“ Auch die Kommunen, die den Übergang zu wenig strukturiert organisierten, und die Betriebe, die Berufsorientierung noch zu wenig als eigenes Betätigungsfeld sähen, trügen ihren Anteil an der Misere.

Die große Gruppe im Übergangbereich, die eine echte Förderung braucht, hat in der Ausbildungsdiskussion in den Medien als „nicht ausbildungsreif“ den Schwarzen Peter. Stephanie Odenwald vom Bundesvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ärgert das. Sie ist überzeugt davon, dass die Definition von „Ausbildungsreife“ verdächtig von der konjunkturellen Lage abhängt. Trotzdem sieht auch sie Defizite in den Schulen: „Es gibt einerseits ein grundsätzliches Problem mit dem dreiteiligen Schulsystem, das viele Jugendliche zurücklässt und Erfahrungen von Scheitern produziert“, kommentiert sie. „Andererseits ist das Thema Berufsorientierung lange Zeit etwas stiefmütterlich behandelt worden, auch von der Bundesagentur für Arbeit.“ Die GEW sehe die Arbeits- und Lebensweltorientierung durchweg als wichtigen Bildungsinhalt an und plädiere für verstärkte Berufsorientierung ab der 7. Klasse. „Das schließt die Reflektion der eigenen Interessen, Kompetenzen und Lebensziele der Jugendlichen wie auch Informationen der BA über Berufe und gut strukturierte Betriebspraktika ein“, sagt sie. Netzwerke könnten helfen; neben Lehrerschaft und Schulen seien auch die BA, die Jugendhilfe und die Kommunen in der Pflicht. Wie der DGB plädiert auch die GEW dafür, Jugendlichen eine verlässliche Perspektive zu geben: „Unseres Erachtens müsste es eine Rechtsgarantie für Ausbildung geben – und zwar ohne Ausnahme.“

Jugendliche bei der Ausbildungssuche an die Hand zu nehmen ist die Aufgabe von „Berufswegebegleitern“, wie sie flächendeckend im Kreis Offenbach arbeiten. Neben Interesse und Engagement der Schüler erlebe sie auch immer wieder, dass diese gute Chancen nicht nutzen, die ihnen von den Beratern eröffnet würden, bedauert die Koordinatorin Ulrike Jung-Turek: „Manchen Jugendlichen ist scheinbar nicht bewusst, wie wichtig die berufliche Eingliederung ist. Die schieben das gerne weg.“ Dafür macht sie auch die Eltern verantwortlich: „Oft fehlen die Unterstützung und das Interesse von zu Hause. Oder die Eltern sagen, dass der Jugendliche lieber weiter auf die Schule gehen soll, und verkennen, dass der Hauptschulabschluss eben das ist, was der Jugendliche schulisch leisten kann – und mehr nicht.“

REFORMVORSCHLÄGE_ Eine Sackgasse ist das Übergangssystem trotz aller Kritik nicht: 2006 begann die Hälfte der Jugendlichen rasch nach Ende ihrer ersten Übergangsmaßnahme eine betriebliche Ausbildung, ein Viertel entschied sich für eine außerbetriebliche oder schulische Ausbildung. Doch ein Drittel fand in den ersten zwei Jahren danach keine Ausbildung oder brach sie rasch ab. Seit 2005 wird zudem der demografische Wandel spürbar. Seither sank die Zahl der Jugendlichen im System auf rund 324 000 im Jahr 2010. Trotzdem erledigt sich das Problem nicht von selbst. Es wird weiter Jugendliche mit Hilfebedarf geben, und das System muss gründlich reformiert werden.

Vorschläge dafür liegen längst auf dem Tisch. Der DGB hat 2010 ein Thesenpapier mit Handlungsvorschlägen für den Übergang Schule–Beruf erarbeitet, und der Hauptausschuss des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) verabschiedete im Juni 2011 Leitlinien zu einer Reform. Ebenfalls im Jahr 2010 befragten das BIBB und die Bertelsmann Stiftung Bildungsexperten und Jugendliche dazu, was sie von den gängigen Reformansätzen halten. „Es gibt konsensfähige Reformansätze“, sagt Andreas Krewerth, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BIBB und Koordinator der Studie. „So herrscht große Einigkeit, mit der Berufsorientierung schon in der allgemeinbildenden Schule anzusetzen. Wenn die Jugendlichen orientierungslos die Schule verlassen, dann ist es im Grunde genommen zu spät.“

Zudem rächt sich jetzt der Wildwuchs, der mit der Zeit entstanden ist. Keiner hat mehr einen Überblick. Professor Dieter Eulers Bilanz fällt wenig schmeichelhaft aus: „Es wurden über lange Jahre hinweg spezifische Maßnahmen geschaffen, die weniger aus dem Interesse heraus entstanden, das Problem insgesamt zu lösen, sondern Lösungen aus der jeweiligen Ressortzuständigkeit heraus zu entwickeln. Das hat sich bis heute fortgesetzt.“

Er fürchtet, dass das duale System seine Kraft verliert, auch Bildungsschwächere in das Berufsleben und damit die Gesellschaft zu integrieren. Die Zahl der jungen Arbeitskräfte ohne berufliche Ausbildung steige, der Bedarf nach Ungelernten aber sinke. Es fehle an Perspektiven. Jugendliche würden „versorgt, in Maßnahmen gesteckt“. Das sei, unter dem Aspekt des sozialen Friedens betrachtet, eine bessere Praxis als etwa in Frankreich, wo man Jugendlichen ohne Ausbildung oft keinerlei Angebote mache. Aber im Grunde, sagt er, seien das „alles aufgeschobene Konflikte, deren explosive Kraft man im Moment nur erahnen kann.“

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