Studienkonten: Besser lernen ohne Gebühren
Durch Studiengebühren droht die Zahl der Studierenden in Deutschland weiter zu sinken, ohne dass sich die Qualität des Studiums verbessert. Ein Alternativmodell sind Studienkonten. Eine Expertise dazu besagt: Studienkonten können Anreize zum Studieren schaffen und gleichzeitig für mehr Effizienz an den Hochschulen sorgen.
Hochschulen üben in Deutschland weniger Anziehungskraft auf Schulabgänger aus als in anderen Industriestaaten. 2003 nahmen in Deutschland keine 40 Prozent eines Jahrgangs ein Studium auf - im Durchschnitt aller OECD-Staaten waren es 53 Prozent. "Die Studienbeteiligung in Deutschland darf man als miserabel bezeichnen", urteilen die Bildungsforscherinnen Gertrud Hovestadt und Katrin Dircksen.
Daran wird sich so rasch nichts ändern. Die Studienneigung der Abiturienten und Fachabiturienten nimmt nicht zu, sondern schwindet. Obwohl 2004 im Vergleich zum Vorjahr 17.000 mehr Schulabgänger eine Studienberechtigung erwarben, ist zum Wintersemester 2004 die absolute Zahl der Erstsemester gesunken. Der Negativ-Trend wird sich fortsetzen, erwarten die Expertinnen. Eine Ursache dafür - wenn auch nicht die alleinige - dürfte die Ankündigung von Studiengebühren sein. Denn Gebühren, noch dazu ohne soziale Flankierung, können gerade Abiturienten aus finanziell schwächeren Familien vom Studium abschrecken.
Soll der deutschen Wirtschaft das frische Wissen der Hochschulabsolventen nicht ausgehen, muss es einem hinreichend großen Anteil der Schulabgänger möglich sein zu studieren, am besten zügig und effizient. Das gewährleisten Studienkonten eher als Gebühren, lautet das Ergebnis der Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung. Hovestadt und Dircksen haben die Umsetzungschancen und zu erwartenden Effekte von Studienkonten untersucht. Das Konzept der Studienkonten greift die Vorschläge des Sachverständigenrates Bildung bei der Hans-Böckler-Stiftung auf - der Rat hatte 2001 eine Gutschein-Lösung für das gesamte Bildungswesen entworfen.
Das Modell der Studienkonten grenzt das umfassende Konzept auf die Universitäten und Fachhochschulen ein: Studierende bekommen ein bestimmtes Guthaben, das sie an einer Hochschule gegen Lehrveranstaltungen einlösen können. Dieses Konto begrenzt zwar das kostenlose Bildungsangebot, schafft es aber nicht ab. Ein klarer Vorteil gegenüber Studiengebühren, so die Autorinnen: "Das Studienkonto stellt keine Zugangshürden auf und könnte sogar wie ein Anreiz zum Studium wirken, weil es ein individuelles Quasi-Guthaben darstellt, das der Inhaber - so kann man hoffen - nicht verfallen lassen möchte."
Studienkonten haben nicht die Nachteile der Studiengebühren, bieten aber die Vorzüge, die sich Befürworter von Studiengebühren versprechen. Denn die Konten setzen wichtige Anreize. Sie halten die Studierenden an, sparsam mit den Ressourcen der Hochschulen umzugehen. Umgekehrt können Studienkonten dazu führen, dass sich die Universitäten und Fachhochschulen stärker an den Zielen der Studierenden orientieren. Das wäre eine Verbesserung, weil das deutsche Hochschulwesen bislang "an der Qualität seiner Prozesse und Ergebnisse strukturell wenig interessiert war".
Zwei Varianten von Studienkonten sind denkbar. Rheinland-Pfalz praktiziert bereits die regelmäßige und pauschale Abbuchung vom Studienkonto. Auch Nordrhein-Westfalen hat damit begonnen, wird aber bald von den Studierenden stattdessen Gebühren fordern. Die Hochschulen tragen je Semester Guthaben vom Konto der Studierenden ab. Maßstab des Guthabens ist zwar formal die Recheneinheit der Semesterwochenstunden, tatsächlich wird aber noch allein nach Studienzeit abgebucht. Um ein gebührenfreies Erststudium zu ermöglichen, reicht das Guthaben für das 1,5- (Nordrhein-Westfalen) oder 1,75-fache (Rheinland-Pfalz) der Regelstudienzeit. In besonderen Fällen - wenn Studierende Kinder erziehen oder Angehörige pflegen - wird das Konto aufgestockt. Hat ein Absolvent seinen Abschluss in der Tasche, aber das Guthaben nicht aufgebraucht, kann er es später nutzen - für ein weiteres Studium oder eine andere Zusatzqualifikation. Mit diesem Modell sind in Nordrhein-Westfalen Gebühren für Langzeitstudierende verzahnt: Wer nicht schnell genug zum Abschluss kommt und sein Budget schon vor dem Examen aufzehrt, muss für die übrige Studienzeit zahlen.
Der Haken an der Abbuchung nach Semester: Es spielt keine Rolle, wie viele Seminare und Vorlesungen ein angehender Akademiker tatsächlich belegt. Ein Studierender, der zusätzlich jobben muss und darum seltener in den Hörsaal kommt, verbraucht ebenso viel Guthaben wie der Kommilitone, der ungestört pauken kann, weil ihn die Eltern finanzieren. Die beiden Bundesländer haben dieses Modell darum ursprünglich nur als Vorstufe zu nutzungsbezogenen Studienkonten konzipiert.
Von nutzungsbezogenen Studienkonten rechnen die Hochschulen die tatsächlich in Anspruch genommenen Leistungen ab. Bislang war das technisch nicht möglich, aber im Zuge des von der EU angestoßenen Bologna-Prozesses ändert sich das. Die Hochschulen erfassen künftig Leistungen und besuchte Veranstaltungen der Studierenden elektronisch. Außerdem fordert der Bologna-Prozess von den Universitäten und Fachhochschulen, das Studium in Module zu zerlegen und die Module - bestehend aus einzelnen Vorlesungen und Seminaren - mit Leistungspunkten zu dotieren. Maßstab dieser Bewertung ist das europaweit einheitliche Punktesystem der Credit Points. Das Guthaben des Studienkontos lässt sich künftig mit der Skala der Credit Points verbinden, so die Studie: Ein erfolgreich absolviertes Seminar bringt eine vorher festgelegte Zahl an Credit Points. Im Gegenzug belastet das Seminar, ob erfolgreich bestritten oder nicht, auch das Konto zu einem bestimmten Satz. Um zu verhindern, dass sich ein derart individuell zu gestaltendes Studium allzu sehr in die Länge zieht, kann das nutzungsbezogene Studienkonto mit einer regelmäßigen Abbuchung je Semester kombiniert werden.
Wenn sich dieses System etabliert hat, erlaubt es eine bessere Steuerung der Hochschulen - laut Hovestadt und Dircksen ein erheblicher Vorzug der Konten: "Die bisher in Deutschland eingeführten Studiengebühren verzichten weitgehend auf Elemente der Qualitätssteuerung." Allgemeine Studiengebühren und Langzeitstudiengebühren beeinflussten "lediglich die Studierenden, ihr Studium zügig zu beenden, nicht aber die Hochschulen, ihr Angebot zu optimieren".
Die Hochschulen wissen dank der nutzungsbezogenen Studienkonten, welche Veranstaltungen ihre Studierenden besuchen. Auch das Land bekommt diese Informationen und "kann entsprechend dieser Faktoren seine Mittelzuweisungen an die Hochschule vornehmen". Der finanzielle Anreiz verpflichtet Universitäten und Fachhochschulen dazu, ihr Angebot an der Nachfrage auszurichten.
Die Studierenden bekommen die Chance, gute Lehrveranstaltungen zu honorieren und so das Vorlesungsverzeichnis der Hochschulen mitzubestimmen. Sie werden stärker als Kunden betrachtet, das dürfte die Lehre verbessern. Zugleich hält sie ihr begrenztes Guthaben davon ab, wahllos Seminare zu besuchen. "Die Studierenden werden durch das Modell für ein zügiges Studium belohnt." Schüler können ihren Studienort danach auswählen, ob die Hochschule den Ruf hat, ein schnelles und erfolgreiches Studium zu ermöglichen.
Neue Impulse für lebenslanges Lernen können von den nutzungsbezogenen Studienkonten ausgehen, erwarten die Expertinnen. Viele Hochschulabsolventen haben nach dem Examen noch einen Restanspruch auf Bildung auf ihrem Studienkonto. Das verschafft den Universitäten und Fachhochschulen einen neuen Markt: Sie richten zusätzliche Bildungsangebote ein, für die ebenfalls mit dem Guthaben gezahlt werden kann. Dann wäre die Bildungsphase im Leben der Akademiker nicht mit dem formalen Abschluss abgeschnitten, und die Forschung könnte ihre Erkenntnisse breiter streuen.
Gertrud Hovestadt, Katrin Dircksen: Nutzungsbezogene Studienkonten - Eine Expertise zur Umsetzbarkeit und zum politischen Potenzial, Educon, März 2006.