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Magazin Mitbestimmung

Einzelhandel: Besuche in der Kampfzone

Ausgabe 03/2014

„Es gibt unzählige Möglichkeiten, das Recht auf einen Betriebsrat zu hintertreiben“, sagt ver.di-Sekretär Peter König, der im Handel über 100 BR-Gründungen begleitet hat. Der Ruf nach Verbindlichkeit von Betriebsratswahlen wird lauter. Von Max Kruse

Kollegen sagen über ihn, er sei ein Kämpfertyp, und so überrascht nicht, dass Peter König auch an diesem Vormittag, dessen Verlauf ziemlich unangenehm werden könnte, nur einmal tief durchatmet und sich dann voller Tatendrang, aber „ganz entspannt“ ins Getümmel stürzt. Peter König, 48, Gewerkschaftssekretär bei ver.di, gelernter Einzelhandelskaufmann und ehemaliger Betriebsrat, steht im Pausenraum der Firma Formin in Dettelbach bei Würzburg, er ist umringt von mehr als 200 Menschen in dicken Jacken, Kapuzenpullis und schweren Arbeitsschuhen, viele müssen stehen, manche schauen vom Treppenhaus aus in den überfüllten Raum, in dem es stickig ist von den vielen Menschen; Spannung liegt in der Luft, und Peter König, der in den vergangenen zwei Jahrzehnten schon an die 100 Betriebsratsgründungen mitinitiiert und begleitet hat, ist darauf gefasst, dass sie sich jederzeit entladen kann.

Seit Jahren beschäftigt sich Peter König mit der Firma Schum, die Ein-Euro-Läden betreibt – bundesweit mehr als 200 –, und vor allem mit Schums Logistiktochter Formin, deren Mitarbeiter in einem Zentrallager in Dettelbach die Billigstartikel kommissionieren. Peter König hat von Formin-Mitarbeitern endlose Klagen gehört über willkürlich angeordnete Samstags- und Mehrarbeit, über rüde Umgangsformen der Chefs und verweigerte Arbeitszeugnisse, über nicht nachvollziehbare Unterschiede beim Stundenlohn, über fadenscheinige Abmahnungen und familienfeindliche Urlaubsplanungen. „Und dafür gehen dann viele Mitarbeiter mit nur 1500, 1600 Euro nach Hause – brutto“, sagt König kopfschüttelnd. Zwar gibt es beim Mutterunternehmen Schum einen Betriebsrat, doch der, weiß der Gewerkschafter, sei „ein Betriebsrat auf dem Papier“, der gewählt wurde, nachdem mehrere Kandidaten „unter dem Druck von Einzelgesprächen mit den Chefs ihre Kandidatur wieder zurückgezogen hatten“. Bei der Logistiktochter Formin rechnet König deshalb mit heftigem Widerstand gegen den Wunsch vieler Mitarbeiter nach einer Interessenvertretung. Um dem inhabergeführten Unternehmen dafür nicht allzu viel Zeit zu lassen, hat Peter König der Firmenleitung abgerungen, innerhalb weniger Tage eine Betriebsversammlung zur Wahl eines Wahlvorstands abhalten zu können – in der Firma.

ES KNISTERT, KNALLT ABER NICHT

Dort steht er Ende Januar im überfüllten, stickigen Pausenraum, in der Hand das Mikro seiner tragbaren Verstärkeranlage, und erklärt mit fränkisch rollendem R die wichtigsten Details einer Betriebsratswahl. Peter König, schlank, blaugrüne Augen, erinnert im Aussehen an SPD-Fraktionschef Oppermann, er hat auch dieses Lächeln um die Mundwinkel, das selbst dann nicht verschwindet, wenn er Tacheles redet. „Der fünfwöchige Streik 2013 im Edeka-Lager und noch ein paar andere Arbeitskämpfe hier in der Region – das war ich“, so stellt sich König den Formin-Arbeitern und dem anwesenden Geschäftsführer vor und erinnert wie beiläufig daran, dass die Behinderung von Betriebsratswahlen laut § 119 BetrVG­ eine Straftat ist. Um voranzukommen, müsse man dorthin gehen, wo es wehtut, lautet Königs Credo; sein Auto hat er am Morgen kurzerhand auf dem ausgeschilderten Chef-Parkplatz abgestellt.

Die Versammlung ist für König eine Gratwanderung. Einige Logistikmitarbeiter im Raum weiß er auf seiner Seite, und von vielen kann er annehmen, dass sie ähnlich frustriert sind über die Arbeitsbedingungen. Aber wie verhalten sich die Wortführer der Betriebsratsgegner, die Teamchefs, der Geschäftsführer? Peter König hat in solchen Situationen schon Tumulte erlebt, Beschimpfungen ertragen, ein Betriebsratsgegner bei OBI drohte mal, ihn aus dem Fenster zu schmeißen. An diesem Vormittag stellen sie nur Fragen, die unterschwellig Ablehnung signalisieren: Ob ein Betriebsrat keine Konfrontation aufbaue, die letztlich nur Opfer zurücklasse? Ob denn die von mutmaßlichen Gewerkschaftsfreunden bei Formin verbreitete Behauptung stimme, ein Betriebsrat könne die Löhne auf 1800 Euro erhöhen? Und ob ein Betriebsrat nicht der Anfang vom Ende sei, „so wie bei Schlecker“? Es knistert im Pausenraum, aber es knallt nicht. Peter König hält kühl und knapp dagegen, und bevor er den Geschäftsführer wegen des anstehenden Wahlgangs freundlich hinauskomplimentiert, sagt der: „Wir wollen keine Konfrontation mit der Gewerkschaft, es wird einen Betriebsrat bei Formin geben, lassen Sie es uns gemeinsam anpacken.“ Aber meint er es so, wie er es sagt? Und welche Art von Betriebsrat stellt er sich vor?

PROBLEMFALL HANDEL

Ein Fazit der 2012 durchgeführten Befragung des WSI in der Hans-Böckler-Stiftung lautet: Verhinderungsstrategien gegen die Gründung von Betriebsräten sind „deutlich mehr als eine Fußnote“ in den Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern; besonders betroffen seien kleine und mittelgroße sowie inhabergeführte Unternehmen und als Branche der Handel. Wobei auch im Handel die geläufigste Obstruktionstaktik, die Einschüchterung von Kandidaten, überdurchschnittlich oft zu beobachten sei, ebenso das „Herauskaufen“ von Kandidaten, indem Vorteile versprochen werden für zurückgezogene Kandidaturen. „So müssen Arbeitgeber im Einzelhandel so lange nicht auf direkt konfrontative Maßnahmen wie die Kündigung von Kandidaten und Wahlvorstandsmitgliedern zurückgreifen, wie sie ihr Ziel bereits durch Einschüchterung oder die Gewährung von Vergünstigungen erreichen“, schreiben die WSI-Wissenschaftler Martin Behrens und Heiner Dribbusch.

Die kleinen Einheiten im Einzelhandel seien ein „strukturelles Hemmnis“, bestätigt Bernhard Franke, Landesfachbereichsleiter Handel bei ver.di in Baden-Württemberg. Wenn es nicht gelinge – wie mit einigen großen Lebensmittelketten wie Rewe, Edeka oder Netto –, Tarifverträge abzuschließen, die gemeinsame Betriebsräte für mehrere Filialen ermöglichen, blieben die Filialen mitbestimmungsfeindlicher Unternehmen wie Lidl, Media Markt oder Drogerie Müller weitgehend betriebsrats- und gewerkschaftsfreie Zonen. „Das Betriebsverfassungsgesetz passt immer weniger auf den heutigen Einzelhandel“, meint Franke. „Ein Kaufhaus ist heute kein Einzelhandelsunternehmen mehr, sondern ein Einzelhandelsveranstalter, bei dem viele rechtlich selbstständige Einheiten verschiedene Teilflächen bewirtschaften. Betriebliche Interessenvertretung wird da immer schwieriger.“

Es sei deshalb angezeigt, das Instrument des Gemeinschaftsbetriebsrats gesetzlich zu schärfen und an die Entwicklung der Handelslandschaft anzupassen, so wie es vor einigen Jahren gesetzlich ermöglicht wurde, dass der Gesamtbetriebsrat eines Konzerns Betriebsratswahlen in untergeordneten Einheiten einleiten kann. „Dann müssen sich die Beschäftigten vor Ort nicht so stark exponieren und damit angreifbar machen.“

Eine noch stärkere Steuerungswirkung freilich hätte die verbindliche Vorgabe an Unternehmen, Betriebsräte wählen zu lassen, findet Franke – „so wie es in § 1 des Betriebsverfassungsgesetzes ja schon steht: ‚In Betrieben werden Betriebsräte gewählt.‘ Firmen ohne Betriebsrat müssen endlich sanktioniert werden.“

WAHLANFECHTUNG VOR GERICHT

Der Saal 6 im Arbeitsgericht Heilbronn ist ein Raum von ernüchternder Kälte: Schallschutzfenster, kahle Wände, ein vergessener Regenschirm, hinterm Richtertisch das gusseiserne Wappen Baden-Württembergs und eine streng wirkende Richterin. Hier sitzen Ende Januar zwei Beschäftigte einer Heilbronner H&M-Filiale mit ihren Anwälten: Auf der einen Seite die Betriebsratsvorsitzende, auf der anderen eine Führungskraft – Letztere hat die Betriebsratswahl vom Sommer 2013 gemeinsam mit anderen H&M-Mitarbeitern angefochten. Im Publikum sitzt Thomas Müssig, ver.di-Gewerkschaftssekretär im Bezirk Heilbronn-­Neckar-Franken, der selbst einmal BR-Vorsitzender bei H&M war und 15 Abmahnungen und drei Kündigungsversuche überstand, bevor er H&M verließ. Müssig sagt über das schwedische Modehaus: „Die Personalpolitik von H&M hat totalitäre Elemente: Die wollen nicht nur Arbeitgeber sein, sondern auch Freund – alle sind per Du – und am liebsten auch noch Betriebsrat. Wenn die Belegschaft diese Aufgabe selbst organisieren will, kriegt sie gelegentlich mächtig Druck. Und wenn die Betriebsratsgründung nicht im Vorfeld zu vereiteln ist, versucht es H&M manchmal dann eben nach der Wahl, so wie hier.“

Im Sommer 2013 hatte der vom Gesamtbetriebsrat eingesetzte Wahlvorstand den Anteil des „Minderheitengeschlechts“ in der Filiale – in diesem Fall Männer – nicht wie von der Wahlordnung vorgesehen nach dem D’ Hondt-Verfahren errechnet, sondern prozentual. So schaffte es ein männlicher Kandidat auf dieser Art Minderheitenticket in den fünfköpfigen Betriebsrat, der bei der Berechnung nach D’Hondt wohl nur aus Frauen bestanden hätte. Der Gewählte – er ist „Store-Controller“, also eine Führungskraft – nahm die Wahl erst an, trat dann zurück und focht sie an. Zu Recht, verkündet die Richterin schon nach wenigen Minuten, der Hinweis auf den männlichen Kandidaten habe nicht im Wahlausschreiben stehen dürfen, die Wahl sei deshalb unwirksam. „Das ist rein formal argumentiert“, kritisiert Rechtsanwalt Alexander Roth, der den Betriebsrat vertritt: „Wenn man weiß, dass Unternehmen hundert-, ja tausendfach Betriebsratswahlen mit allen erdenklichen Tricks torpedieren, muss man als Gericht schon dickere Bretter bohren. Gerichte müssten Betriebsräte eher schützen, als sie wegen kleiner Formfehler auszuhebeln.“ Im Norden Deutschlands sei die Rechtsprechung da schon weiter als im Süden, findet Alexander Roth – und geht mit den H&M-Betriebsrätinnen in die nächste Instanz.

MIT FERNGLAS UND POLIZEIGEWALT

Das sei nicht gut für den Betriebsfrieden, mahnen die Richterin und der Gegner-Anwalt. Doch dieser Betriebsfrieden, findet die Betriebsratsvorsitzende Jennifer N., sei sowieso gestört, weil die Filialleitung die Belegschaft schon immer unterteile in „Lieblinge“, die nie widersprechen und dafür belohnt würden, und in Mitarbeiter wie sie selbst, die sich gegen Ungerechtigkeiten wehren. Das wollen die fünf Betriebsrätinnen und ver.di-Mitglieder in ihrer Filiale noch mindestens so lange tun, wie ihre Wahl nicht von einer höheren Instanz rechtskräftig für unwirksam erklärt wird. „Wir haben also noch Zeit“, sagen sie und zählen auf, was sie schon erreicht haben: Monats- statt wie früher Wochenpläne bei der Personaleinsatzplanung, eine transparentere und gerechtere Verteilung der Stundenbudgets und Schichtdienste, mehr Informationen bei innerbetrieblichen Stellenausschreibungen. „Und fürs ‚Midnight-Shopping‘ bis 24 Uhr haben wir die Heimfahrt im Taxi, ein warmes Büfett und den Türsteher am Eingang ausgehandelt“, sagt Betriebsrätin Ayse B. Gleichzeitig kämpfen die Frauen beharrlich gegen Widerstände in Form nicht bewilligter Betriebsratsschulungen und mangelhafter Ausstattung. Mit welchen Mitteln Unternehmen gegen Betriebsräte vor und nach der Gründung zu Felde ziehen, hat Peter König während 20 Jahren bei ver.di in und um Würzburg aus nächster Nähe erfahren. Er sah Schlecker-Führungskräfte, die mit dem Fernglas Treffen zwischen ihm und Schlecker-Mitarbeiterinnen ausspähten; um Wahlaufrufe in einem Betrieb aushängen zu können, musste er sich Gerichtsbeschlüsse und die Hilfe der Polizei holen; er erlebte, wie eine Wahl zum Wahlvorstand durch 17 Kandidaten zur Farce gemacht wurde (er brach sie nach dem siebten erfolglosen Wahlgang ab und setzte den Wahlvorstand später mithilfe des Arbeitsgerichts ein) und wie ein Wahlvorstand eine Betriebsratswahl mitten in der Stimmauszählung einfach abbrach. „Vom Einschüchtern von Mitarbeitern ganz zu Beginn bis zur nachträglichen Wahlanfechtung gibt es für Betriebe unzählige Möglichkeiten, das Recht auf einen Betriebsrat zu hintertreiben“, sagt König.

Daran gemessen lässt sich der Versuch bei Formin in Dettelbach gut an: Nach knapp zwei Stunden im stickigen Pausenraum sind drei Wahlvorstände und vier Ersatzmitglieder gewählt, einige Tage später hängen die Wahlausschreiben im Betrieb. „Hinter den Kulissen wird von einigen Mitarbeitern mehr oder weniger subtil Stimmung gemacht gegen die Wahl, ihre Unterstützer und die Gewerkschaft, aber bislang geht die Sache halbwegs geordnet ihren Gang“, berichtet Peter König Mitte Februar. „Wenn sich das ändert, haben wir ja auch noch ein paar Pfeile im Köcher.“ Zu Königs Merksätzen, die er auch vor der Formin-Belegschaft zum Besten gibt, gehört der: „Wenn man was will, was man noch nie gehabt hat, muss man was tun, das man noch nie getan hat.“ Zum Beispiel bei der Schum-Tochter Formin Logistik einen Betriebsrat wählen. Anfang April soll es dann passieren. 

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