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OLAF DEINERT, 51, ist Professor für bürgerliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Göttingen. Magazin Mitbestimmung

Tarifrecht: Von Knochen und Kröten

Ausgabe 04/2021

Künftig sollen auch exklusive Vorteile für Gewerkschaftsmitglieder tarifvertraglich vereinbart werden können – dafür plädiert ein Team namhafter Juristen. Der Göttinger Arbeitsrechtler Olaf Deinert erklärt die Idee dahinter. Das Interview führte Joachim F. Tornau

Gemeinsam mit anderen Juristen haben Sie einen Gesetzentwurf erarbeitet, der tarifvertragliche Vorteile für Gewerkschaftsmitglieder, sogenannte Differenzierungsklauseln, möglich machen würde. Warum dieser Vorstoß?

Das deutsche Tarifvertragssystem fußt auf der Idee, dass die Sozialpartner ihre Angelegenheiten selbst regeln. Dieses System kann aber nur funktionieren, wenn es hinreichend starke Verbände gibt. Will man die Erosion der Tarifbindung stoppen, muss man dem Rückgang der Mitgliederzahlen von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden Einhalt gebieten. Am Beispiel der Differenzierungsklauseln wollen wir zeigen, dass es dafür geeignete Mittel gibt – und dass die verfassungsrechtlichen Bedenken, die dagegen vorgebracht wurden, nicht tragfähig sind.

Bislang erlaubt die Rechtsprechung nur einfache Differenzierungsklauseln, deren Wirkung vom Arbeitgeber leicht ausgehebelt werden kann. Er kann die Vorteile für Gewerkschaftsmitglieder, beispielsweise ein zusätzliches Urlaubsgeld, auch den Nicht-Organisierten gewähren. Sie wollen nun ermöglichen, dass Gewerkschaftsmitglieder einen uneinholbaren Vorsprung bekommen können. Wie soll das gehen?

Durch eine sogenannte Spannenklausel. Das ist ein theoretisch bis ins Unendliche laufender Mechanismus: Ist im Tarifvertrag ein zusätzliches Urlaubsgeld für Gewerkschaftsmitglieder vereinbart, und der Arbeitgeber zahlt dieses erhöhte Urlaubsgeld auch an Nicht-Organisierte, dann muss es für die Organisierten noch einmal mehr geben – und so weiter. Die derzeitige Rechtsprechung sieht darin einen unzulässigen Übergriff in die Vertragsfreiheit. Das halten wir für falsch.

Sie argumentieren, dass eine Spannenklausel den Nicht-Organisierten nichts vorenthalte, sondern den Organisierten etwas zusätzlich gewähre. Aber ist das nicht Wortklauberei, weil es im Ergebnis auf dasselbe hinausläuft?

Nein. Es ist ein großer Unterschied, ob im Tarifvertrag steht, dass Außenseiter kein Urlaubsgeld erhalten sollen, oder ob da steht: Wenn auch Außenseiter dieses Urlaubsgeld erhalten, dann müssen die Organisierten noch mehr bekommen. Unseres Erachtens ist das einzige Grundrecht, das durch Spannenklauseln verletzt werden könnte, die „negative Koalitionsfreiheit“, also die Freiheit der Außenseiter, keiner Gewerkschaft anzugehören. Das Bundesverfassungsgericht hält einen Anreiz zum Beitritt aber erst dann für problematisch, wenn er gleichsam in einen Beitrittszwang umschlägt.

In Ihrem Entwurf steht darum, dass die Vorteile für Gewerkschaftsmitglieder nicht derart „unangemessen“ hoch sein dürfen, dass es de facto auf einen Beitrittszwang hinausläuft.

Wir sagen, dass Vorteile, die das Doppelte des Gewerkschaftsbeitrags nicht übersteigen, in keinem Fall unangemessen sein können. Denn wenn eine Leistung lediglich den Beitrag zur Gewerkschaft ausgleicht, ist sie ja kein Anreiz. Das ist aber nicht als Obergrenze zu verstehen. Was darüber hinaus als angemessen gilt, hängt vom Zweck der jeweiligen Leistung und von der finanziellen Bedeutung ab, die sie für die Beschäftigten hat. Es kann bei Spannenklauseln ja nicht nur um Finanzielles wie Urlaubsgeld oder Erholungsbeihilfe gehen, sondern auch um zusätzliche Urlaubstage oder längere Kündigungsfristen.

Wäre auch ein höherer Lohn für Organisierte denkbar?

Schwierig. Da könnte die Schwelle zum Beitrittszwang überschritten werden. Es hat eine andere Qualität, ob es beim einmal jährlich gezahlten Urlaubsgeld einen Unterschied gibt oder beim monatlichen Lohn.

Der Gesetzentwurf soll die Tarifautonomie stärken, zugleich schwächt er die Gewerkschaften aber auch, weil Arbeitgeber einen Auskunftsanspruch über die Mitgliederstärke im Betrieb bekommen sollen. Wie passt das zusammen?

Der Arbeitgeber muss wissen, wie viele Organisierte er im Betrieb hat, sonst kann er die Kosten einer Spannenklausel nicht kalkulieren. Das ist die Kröte, die die Gewerkschaften schlucken müssen. Wenn die Gewerkschaft sagt: Wir möchten lieber nicht, dass der Arbeitgeber unseren Organisationsgrad erfährt, dann kann sie eben keine Spannenklauseln verhandeln.

Und wie ist es mit den einzelnen Beschäftigten? Die wollen ihre Gewerkschaftszugehörigkeit ja auch nicht unbedingt offenbaren.

Rein rechtlich werden sie das riskieren müssen, sonst können sie ihren Anspruch auf exklusive Rechte nicht durchsetzen. Tarifpolitisch ließen sich auch Wege finden, die Organisationszugehörigkeit der Einzelnen verdeckt zu halten – zum Beispiel indem der Arbeitgeber eine bestimmte Summe an einen gemeinnützigen Verein leistet, der das Geld dann für die Vorteile Organisierter verwendet.

Warum sollten Arbeitgeber eigentlich Tarifverträge abschließen, die die Beschäftigten zum Gewerkschaftseintritt motivieren?

Tarifverhandlungen sind immer ein Spiel der Kräfte. Wenn sich mit einer Spannenklausel eine andere Tarifforderung der Gewerkschaft oder sogar ein Streik abwenden lässt, kann das für Arbeitgeber trotz allem eine Erwägung sein. Die Praxis hat zudem gezeigt, dass sich Arbeitgeber mitunter auf Differenzierungsklauseln einlassen, wenn sie, etwa in Sanierungsfällen, dringend sparen müssen. Finanziell fahren schließlich auch sie günstiger, wenn sie den Außenseitern nicht alles gewähren.

Zur Person

Olaf Deinert, 51, ist Professor für bürgerliches Recht, Arbeits- und Sozialrecht an der Universität Göttingen. Daneben amtiert der Altstipendiat der Hans-Böckler-Stiftung als ehrenamtlicher Richter am Bundesarbeitsgericht und ist geschäftsführen- der Herausgeber der Zeitschrift „Soziales Recht".

Am Entwurf für ein Differenzierungsklauselgesetz beteiligt waren neben Olaf Deinert noch Martina Benecke (Universität Augsburg), Monika Böhm (Universität Marburg), Wolfram Cremer (Universität Bochum), Daniel Klocke (EBS Universität Wiesbaden), Eva Kocher (Europa-Universität Frankfurt/Oder), Rüdiger Krause (Universität Göttingen), Katja Nebe (Universität Halle-Wittenberg), Achim Seifert (Universität Jena) und Daniel Ulber (Halle-Wittenberg).

Veröffentlicht ist der Gesetzentwurf in Ausgabe 7–8/2021 der Zeitschrift „Arbeit und Recht“.

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