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Magazin Mitbestimmung

Von PETER KERN: Hugo Sinzheimer: Der Vater des modernen Tarifrechts

Ausgabe 09/2017

Rezension Eine Biografie erinnert an den Juristen und Politiker Hugo Sinzheimer. Er modernisierte das kollektive Arbeitsrecht der Weimarer Republik – mit Wirkungen bis heute.

Von PETER KERN

Als Polizeipräsident ließ er beschlagnahmte Nahrungsmittel für kleines Geld an Notleidende verteilen. Die mit Mutterwitz gesegneten Frankfurter sprachen vom „Kaufhaus Sinzheimer“ und nannten den vom Arbeiter- und Soldatenrat Eingesetzten den „Lebensmitteldiktator“.

Als Rechtswissenschaftler und Parlamentarier der Weimarer Republik begründete er die Koalitionsfreiheit, das Schutzrecht der Gewerkschaften gegen ihre Illegalisierung. Der diese Freiheit garantierende Artikel des Grundgesetzes geht auf ihn zurück. Seither haben Gewerkschaften und ihr Gegenüber das Recht, die Gesetzgebung mit eigenen, verbindlichen Normen zu ergänzen. Die deutsche Betriebsverfassung, die dieses Recht regelt, trägt wesentlich seine Handschrift.

Hugo Sinzheimer (1875-1945)  politisch zu verorten, fällt so schwer, wie ihn beruflich zu etikettieren: War er Sozialist oder Sozialdemokrat, der parlamentarischen oder der Räterepublik zugeneigt, Berufspolitiker oder Universitätsprofessor, Volkspädagoge, Rechtsanwalt oder Verfassungsrechtler? Die Facetten dieses Sohnes aus bürgerlichem, jüdischem, pfälzischem Haus zeichnet sein Biograf Otto Ernst Kempen wunderbar nach.

Bis zur Novemberrevolution 1918 konnte jeder in einem Streik erkämpfte Lohnabschluss gerichtlich wieder kassiert werden, galt er doch als Folge einer unzulässigen Beeinträchtigung der Vertragsfreiheit. Durch den Streik erleide die Vertragsfreiheit des Unternehmers Abbruch – das war die herrschende juristische Meinung. Ausgeblendet war die Existenznot des Arbeiters, die seiner Vertragsfreiheit enge Grenzen setzt. Sinzheimer hat diese soziale Realität ins Bewusstsein der Rechtswissenschaft gehoben.

Das von ihm inspirierte kollektive Arbeitsrecht hat dem Arbeitsvertrag den Charakter des „Herrschaftsvertrags“ genommen. Sinzheimer hat den Tarifvertrag, das macht die Finesse aus, mit dem bürgerlichen Freiheitsprinzip begründet. Erst durch ihn wird „aus einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis ein Rechtsverhältnis“.

Nachdem die Rätebewegung das Kaiserreich hinweggefegt hatte, wurden Sinzheimers Vorschläge geltendes Recht. Für die Nazis und die Deutschnationalen verkörperte er die „verjudete Republik“. Hatte er doch in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss ihr Idol, von Hindenburg, ins Kreuzfeuer genommen.

Der umjubelte Volksheld antwortete mit antisemitischer Hetze. Sinzheimer sah sich zunehmenden Angriffen ausgesetzt. Er verzichtete auf ein neuerliches Reichstagsmandat, kehrte nach Frankfurt und an die Universität zurück. Dort drangsalierte ihn der NS-Studentenbund solange, bis ihm nur noch der Weg ins Exil blieb. In seinem holländischen Versteck hat er mit seiner Familie überlebt.

Foto: Karsten Schöne

Otto Ernst Kempen: Hugo Sinzheimer, Architekt des kollektiven Arbeitsrechts und Verfassungspolitiker, Societäts Verlag, 170 Seiten, 14,80 Euro

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