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Thorsten Schulten, Leiter des WSI-Tarifarchivs: 75 Jahre Tarifvertragsgesetz: Ein guter Anlass, Maßnahmen für eine höhere Tarifbindung auf den Weg zu bringen und damit auch einen Beitrag zur Stärkung der Demokratie zu leisten. Service aktuell

Wirtschaftsordnung : 75 Jahre Tarifvertragsgesetz

Seit Mitte der 90er-Jahre befindet sich das deutsche Tarifvertragssystem im Erosionsprozess. Diese Entwicklung ist keineswegs zwangläufig. Thorsten Schulten erläutert die historische Dimension des Tarifvertragsgesetzes und unterstreicht die Notwendigkeit, Tarifbindung wieder zu stärken.

[02.04.2024]

Vor 75 Jahren wurde am 9. April 1949 durch den gemeinsamen Wirtschaftsrat der britischen und amerikanischen Besatzungszone das Tarifvertragsgesetz (TVG) verabschiedet. Nachdem im Nationalsozialismus freie Tarifverhandlungen verboten waren und durch staatliche Verordnungen ersetzt wurden, wurde mit dem TVG der gesetzliche Rahmen für die Wiederherstellung autonomer Tarifverhandlungen geschaffen. Mit der Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 erhielt nur wenige Wochen nach dem TVG die Tarifautonomie – abgeleitet aus der Koalitionsfreiheit in Artikel 9 Absatz 3 GG – sogar Verfassungsrang. Damit konnte eine wirtschaftsdemokratische Neugestaltung der Arbeitsbeziehungen eingeleitet werden, die zugleich einen wichtigen Beitrag zur demokratischen Neuordnung Deutschlands insgesamt leisten sollte. 

Das ursprünglich gerade einmal 11 und mittlerweile 15 Artikel umfassende TVG ist dabei in seinen Kernelementen bis heute unverändert geblieben. Im Wesentlichen geht es um die Bestimmung der Tarifvertragsparteien, die Festschreibung der Unabdingbarkeit des Tarifvertrages sowie die Möglichkeit der Allgemeinverbindlicherklärung als wesentliches Instrument zur Absicherung des Tarifvertragssystems. Mit dem TVG wurde ein effizienter Gestaltungsrahmen zur Umsetzung der Tarifautonomie geschaffen, der die Entwicklung eines umfassenden Tarifvertragssystems ermöglichte. Über mehrere Jahrzehnte hinweg waren demnach in Deutschland zwischen 80 und 90 Prozent aller Beschäftigten an einen Tarifvertrag gebunden. 

Seit Mitte der 1990er Jahre befindet sich das deutsche Tarifvertragssystem in einem schleichenden Erosionsprozess. Heute arbeitet nur noch etwa die Hälfte aller Beschäftigten in Unternehmen mit Tarifvertrag. Das diese Entwicklung keineswegs zwangläufig ist, zeigt der Blick ins europäische Ausland, wo in mehreren Staaten nach wie vor eine Tarifbindung von 80 und mehr Prozent existiert.  Mit der 2022 verabschiedeten EU-Mindestlohnrichtlinie, die eigentlich auch Tarifvertragsstärkungsrichtlinie heißen könnte, liegt mittlerweile ein europäischer Rechtsrahmen vor, demzufolge alle EU-Staaten mit einer Tarifbindung unterhalb von 80 Prozent einen konkreten Aktionsplan zur Stärkung des Tarifvertragssystems vorlegen müssen. 75 Jahre Tarifvertragsgesetz könnten hierfür guten Anlass bieten, auch in Deutschland konkrete Maßnahmen auf den Weg zu bringen, um die Tarifbindung wieder zu erhöhen und damit nicht zuletzt auch einen Beitrag zur Stärkung der Demokratie zu leisten. 

Prof. Dr. Thorsten Schulten leitet das Tarifarchiv des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. 

Weitere Informationen

Festakt "75 Jahre Tarifvertragsgesetz" am 23. April in Berlin

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