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Magazin Mitbestimmung

: Pingpong der Gremien

Ausgabe 10/2011

SOCIETAS EUROPAEA Verwässert die europäische Rechtsform die Mitbestimmung? Der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende beim Nutzfahrzeug- und Motorenbauer MAN SE und IG-Metall-Mitbestimmungsexperte Thomas Otto widerspricht: „Bei uns jedenfalls nicht“. Von Stefan Scheytt

STEFAN SCHEYTT ist Journalist bei Tübingen/Foto: Alexander Paul Englert

Sein Büro im 11. Stock der IG-Metall-Zentrale in Frankfurt könnte auch das Büro eines Managers beim Lkw- und Motorenhersteller MAN in München sein: Auf der Ablage hinter dem Schreibtisch reihen sich Modelle von MAN-Fahrzeugen, an den Wänden und der Tür hängen Poster und Kalender mit dicken MAN-Lastern und MAN-Bussen, darunter der Mannschaftsbus des Fußball-Bundesligisten 1. FC Kaiserslautern, dessen Fan er schon als kleiner Junge war. Thomas Otto, 41, ist ein bulliger Typ, und wenn er, wie an diesem Sommertag, ein Hemd mit kurzen Ärmeln trägt und man über Fußball redet, stellt man sich ihn als brachialen Wayne-Rooney-Typ vor, der durch die gegnerischen Reihen pflügt, oder als Abräumer in der Abwehr. Doch mit seiner überraschend leisen Stimme und in gänzlich sanfter Art erzählt Thomas Otto, dass er immer Torwart war und diese „persönlichkeitsschärfende“ Sonderposition innerhalb der Mannschaft sehr gerne einnahm: „Die Konsequenz eines Fehlers ist meist viel gravierender als bei allen anderen Spielern.“

Des Weiteren „persönlichkeitsschärfend“ wirkten auf den Saarländer ein gewerkschaftsfernes Elternhaus, eine Ausbildung zum Industriekaufmann in einem metallverarbeitenden Betrieb sowie ein Studium der Betriebswirtschaft in Saarbrücken, unter anderem bei Professor Heinz Bierbaum, langjähriger Gewerkschaftssekretär beim IG-Metall-Vorstand und Erster Bevollmächtigter in Frankfurt – und inzwischen Bundestagsabgeordneter der Linken. Längst sitzt Thomas Otto selbst in der Gewerkschaftszentrale, wo er sich in der Abteilung Betriebswirtschaft zunächst um Bilanzanalysen und Sanierungen kümmerte und heute das Ressort Unternehmens- und Mitbestimmungspolitik leitet. Außerdem ist er seit 2004 Unternehmensbeauftragter der IG Metall beim Lkw- und Maschinenbauer MAN, wo er in zwei Aufsichtsräten sitzt, bei der Konzernmutter als stellvertretender Vorsitzender. Dort tragen zur weiteren Persönlichkeitsschärfung des Gewerkschafters aus Ottweiler so Schwergewichte bei wie der Milliardär Ferdinand Piëch, Audi-Boss Rupert Stadler oder Ex-Thyssen-Chef Ekkehard Schulz.

KEINE FRAGE DER RECHTSFORM_ Beide Aufsichtsräte sind Gremien Europäischer Aktiengesellschaften (Societas Europaea, kurz SE), aber die Befürchtung vieler Arbeitnehmervertreter, in einer SE würde die Mitbestimmung verwässert, kontert Thomas Otto mit der klaren Feststellung: „Bei uns jedenfalls nicht. Wir sind in der MAN SE näher am Ball, haben besseren Zugang zur Kapitalseite, können mehr mitreden und uns einbringen.“ Man könnte Ottos Einlassungen über die Arbeitnehmervertretung in europäischen Kapitalunternehmen so zusammenfassen: Gute Mitbestimmung entscheidet sich nicht an der rechtsformalen Frage AG oder SE, vielmehr kommt es darauf an, was man draus macht – aus dem einen wie aus dem anderen.

Als „Schlüssel“ zur Verbesserung bei MAN SE sieht Otto heute das Besondere Verhandlungsgremium (BVG), in dem vor dem Rechtsformwechel zur SE die Beteiligung der Arbeitnehmer ausgehandelt wird. „Während sechs Monaten saßen 26 Betriebsräte aus 18 Ländern regelmäßig für zwei, drei Tage zusammen. Das war ein sehr intensiver Prozess, bei dem wir ein gemeinsames Verständnis für unsere Ziele entwickeln konnten. Da entstand so viel Dynamik, Solidarität, Selbstbewusstsein und Wertebildung, die sich später in den EBR und den Aufsichtsrat übertrugen. Wir wissen in diesen Gremien seither sehr genau, was wir wollen.“ Ohne das BVG, ist sich Otto sicher, hätten die Arbeitnehmervertreter wohl nie die Chance gehabt, sich so konzentriert und auf so internationaler Ebene auszutauschen.

IRONIE DER GESCHICHTE_ Der damalige MAN-Konzernchef, der Schwede Håkan Samuelsson, erwartete von der Umwandlung in eine SE wohl eher eine Schwächung der Mitbestimmung; er ging von einer Verkleinerung des Aufsichtsrats von 20 auf zwölf Mitglieder aus und wollte den EBR als ein Gremium fortschreiben, in dem nur sieben oder acht möglichst deutschsprachige Mitglieder saßen. Zwar wurde der SE-Aufsichtsrat tatsächlich auf 16 Mitglieder reduziert, doch dafür gibt es jetzt einen 26-köpfigen EBR, „der den Anspruch, ein europäisches Gremium zu sein, nun auch erfüllt“, sagt Otto. Und während sich die große Runde mindestens zweimal jährlich trifft, tritt der siebenköpfige Ausschuss, in dem Kollegen aus Polen, Österreich, Dänemark und Frankreich sitzen, alle sechs Wochen zusammen. „Diese sieben können jetzt wirklich Geschäfte führen, Prozesse beeinflussen, koordiniert intervenieren“, sagt Ausschussmitglied Otto. „Als EBR haben wir eine professionelle Arbeitsebene erreicht, wie es wohl wenige andere Unternehmen haben.“ Dass der EBR, dessen geschäftsführender Ausschuss und die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat Pingpong spielen, versteht sich von selbst. „Wir sind ein eingeschwungenes Team“, sagt Aufsichtsratsvize Otto über die unterschiedliche Rollenverteilung zwischen ihm, dem KBR- und EBR-Vorsitzenden Jürgen Dorn und dem Augsburger IG-Metall-Bevollmächtigten Jürgen Kerner; dem Aufsichtsrat gehören außerdem Arbeitnehmervertreter aus Polen und Österreich an.

Wie erfolgreich dieses Pingpong sein kann, zeigt das Beispiel einer MAN-Produktionsstätte mit rund 300 Mitarbeitern in Norditalien. Als die in Schwierigkeiten geriet, wollte das Management – einem alten Reflex folgend – den Standort einfach verkaufen. Die Arbeitnehmervertreter in beiden Gremien legten ihr Veto ein, ließen sich den Businessplan des industriellen Investors vorlegen, reisten mehrfach nach Italien und erreichten im vergangenen Jahr, dass MAN so lange als Partner an der Seite des Investors bleibt, bis das neue Geschäftsmodell fruchtet. „Vor einigen Jahren wäre das undenkbar gewesen. Früher trennte sich MAN gegen den ausdrücklichen Willen der Arbeitnehmer von Beteiligungen, manchmal erfuhr man davon auch erst Monate später. Heute gehen wir so ein Thema früher, offener und machtvoller an.“

EUROBETRIEBSRAT ALS PATE_ Auch in der Krise funktionierte die Mitbestimmung über Grenzen hinweg. „Wir hatten uns im Euro­betriebsrat früh in die Hand versprochen, dass wir keine Standortpolitik zulassen, bei der die Werke gegeneinander ausgespielt werden“, berichtet Thomas Otto. Obwohl es für MAN wohl billiger gewesen wäre, Werke vorübergehend komplett zu schließen, wurden im Lkw-Werk in ­Polen zur Abmilderung der Krise erstmals Gleitzeitkonten eingeführt – auch gegen die anfänglich höchst skeptischen polnischen Gewerkschafter. „Das war aber nur möglich, weil wir zuvor im Aufsichtsrat ein klares Commitment vereinbart hatten, dass wir ohne Entlassungen gemeinsam durch die Krise gehen.“

Das neueste Projekt der Arbeitnehmervertreter: Die sieben Mitglieder des EBR-Leitungsgremiums wollen Patenschaften für MAN-Standorte in außereuropäischen Ländern übernehmen. „Wir müssen noch mehr über bislang bestehende Grenzen schauen“, sagt Otto, die Arbeitgeberseite hat ihre Zustimmung dazu bereits gegeben.

Unterm Strich“, bilanziert Mitbestimmungsexperte Otto, „haben wir bei MAN in der SE einen Weg gefunden, unsere Interessen auf Augenhöhe mit den Arbeitgebern voranzutreiben.“ An Stoff für Auseinandersetzungen herrscht dennoch kein Mangel. Jüngstes Beispiel: Die Beteiligung der Arbeitnehmer am Jahresergebnis des DAX-30-Konzerns erreichte bei Weitem nicht das Niveau von VW – der Autobauer ist seit Kurzem Mehrheitsaktionär bei MAN SE. Kommentiert Thomas Otto: „Die SE-Mitbestimmung ist ein Verhandlungsmodell, und Verhandlungen bergen das Risiko, dass man Nachteile einsteckt. Wir haben viel erreicht, aber der grundsätzliche Interessensgegensatz hat sich natürlich nicht in Luft aufgelöst. “

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