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Magazin Mitbestimmung

: Krisengipfel in Lindau

Ausgabe 10/2011

WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFT Die Antworten auf die weltweite Krise, die die Ökonomie-Nobelpreisträger bei ihrem Lindauer Treffen gaben, waren überaus vielstimmig – vor allem aber nachdenklich. Von Herbert Hönigsberger

HERBERT HÖNIGSBERGER ist Politikberater in Berlin/Foto: lindaunobel

Die Erwartung, der ökonomischen Wissenschaft beim Grübeln über sich und die Krise zuhören zu können, hat Ende August weit über 100 Journalisten aus aller Herren Länder zum Treffen der Nobelpreisträger für Ökonomie nach Lindau gelockt. Mehr als doppelt so viele waren es wie bei der Vorgängertagung 2008. Es liegt ja auch nahe: Von wem sollte man mehr zur Lage der Dinge in der globalen Ökonomie erfahren können als von den 17 der 39 noch lebenden ausgezeichneten Spitzenkräften der ökonomischen Wissenschaft, die diesmal gekommen waren? Knapp 400 weltweit ausgesuchte junge Wissenschaftler aus 65 Ländern waren das Publikum. Wie die Laureaten die massive Herausforderung ihrer Wissenschaft durch die Krise verarbeiten, kann beispielhaft für die ganze Wissenschaft gelten. Lindau ist zugleich ein Exempel, wie eine verunsicherte Gesellschaft, ihre Medien und ihre Wissenschaft mit der Krise ihrer Ökonomie umgehen. Der Mediensturm konfrontierte die Preisträger, die Veranstalter und die jungen Wissenschaftler mit den drängenden Erwartungen einer verwirrten, nach Aufklärung in einer kritischen Phase gesellschaftlicher Entwicklung lechzenden Öffentlichkeit. Trotz des beunruhigenden Krisendiskurses geht von Lindau wie schon 2008 aber auch etwas Beruhigendes aus. Gewerkschaftsökonomen stehen im Konzert der internationalen Großforschung keineswegs so isoliert da, wie es im Kontext der deutschen ökonomischen Debatte scheinen mag.

In annähernd 30 Einzelveranstaltungen präsentierten die Nobelpreisträger zeitgenössische ökonomische Spitzenforschung. Den Nerv der Zeit traf Robert Mundell (Preisträger 1999), der theoretische Vater des Euro, mit seinem Vortrag „Währungskriege, Euromania und der Preis des Goldes“. Er forderte ein neues Weltwährungssystem, in dem Dollar, Euro und die chinesische Währung durch feste Wechselkurse aneinandergekoppelt sind. „Eine globale Wirtschaft braucht eine globale Währung.“ Auch sei nicht der Euro das Problem. Vielmehr sei immer schon klar gewesen, dass eine Währungsunion eine politische Union benötige. Der Superstar des Events, Joseph Stiglitz (Preisträger 2001), rüttelte mit seinem Beitrag „Für eine Wirtschaftswissenschaft, die etwas leistet“ an den Grundfesten. Breiten Raum räumten die Veranstalter den Preisträgern 2010 (Peter Diamond, Dale Mortensen, Christopher Pissarides) ein, die für ihre Analysen von Märkten mit Suchfriktionen ausgezeichnet wurden und deren Einfluss auf die politische Diskussion zu Arbeitslosigkeit und Zukunft von Arbeit.

KONTROVERSER KRISENDISKURS_ „Die Welt erlebt die tiefste Krise seit der Großen Depression, und die Nobelpreisträger tun sich mit Antworten schwer“, beschwerte sich das „Handelsblatt“ und nannte die Meinungsunterschiede der Nobelpreisträger „erschütternd“. Ratlosigkeit einerseits, Dissens andererseits wurde ihnen attestiert. Die Antworten der Spitzenkräfte des weltweiten ökonomischen Diskurses auf die bangen Fragen einer ratlosen Gesellschaft waren aber vor allem eins: nachdenklich. Manch flotter Jungjournalist verließ Lindau unbefriedigt, wägen doch gesetzte Wissenschaftler ihre Aussagen, stützen sie auf Forschung, auf Daten. Spitzenforscher lassen sich durch den hektischen Betrieb in Politik und Medien nicht einfach funktionalisieren, sie münzen wissenschaftliche Zweifel in Zurückhaltung um. Sie lassen sich weder zu vorschnellen Antworten drängen, noch täuschen sie wie Leitartikler Gewissheiten vor, wo keine sein können. Und erlauben sich im Gegensatz zu gehetzten Politikern, im Zweifelsfall Unwissenheit einzugestehen.

In Lindau ist an vier Tagen über das Selbstverständnis von Wissenschaft mehr zu erfahren als an vielen Hochschulen während eines ganzen Studiums. Wissenschaftler, zumal auf diesem Level, beharren auf ihrer Unabhängigkeit. Sie sind nicht einfach Lagern zuzuordnen. Bei allen großen Fragen scheiden sich die großen Geister. Die Debatte auf dem Schlusspodium erzeugte in der Medienrezeption Unsicherheit, ob sich die Wissenschaftler über die Ursachen der Krise, vom billigen Geld über die Subprimes bis hin zu falschen Anreizen auf den Finanzmärkten, nun einig gewesen seien oder nicht. Vorgetragen wurde die These, genügend aus früheren Krisen bekannte Vorzeichen seien beobachtbar gewesen, aber nicht ernst genommen worden. Ihr stand die These gegenüber, die Krise sei etwas wesentlich Neues. Stiglitz wurde nicht müde, der Wissenschaft prognostisches Versagen vorzuwerfen. Bereits 2008 hatte das Lindauer Forum die Banken zwar massiv kritisiert, aber den Zusammenbruch von Lehman drei Wochen später und die Krisenabfolge nicht vorhergesehen. „Die wichtigste Aufgabe der makroökonomischen Modelle ist aber die Vorhersage genau solcher Ereignisse. Und das ist nicht geschehen.“ Und er erzeugte große Heiterkeit mit dem Hinweis, in den ökonomischen Modellen, mit denen die Weltbank und der IWF arbeiten, gäbe es keine Kreditklemme. Nicht alle Preisträger stimmten in die massive Kritik ein. Auf die Leistungen der Makroökonomie oder das antizyklische Verhalten der Zentralbanken wurde ebenso verwiesen wie auf zahlreiche andere Lehren aus der großen Depression der 1920er Jahre. Aber niemand bestritt Erkenntnisdefizite, und allseits wurde der riesige Bedarf an Grundlagenforschung und an Studien, die die Krise erklären, betont.

Wie in Verteidiger und Kritiker der eigenen Disziplin zerfällt die erlesene „scientific community“ auch in Optimisten und Pessimisten. Wer die Leistungen der Wissenschaften betont, hebt auch die wirtschaftlichen Erfolge hervor und sieht gelassener in die Zukunft. Skeptisch dagegen Edmund Phelps (Preisträger 2006), der viel Ungewissheit und tief greifende Probleme konstatiert: „Europa ist in einer schrecklichen Verfassung durch fehlende Strukturen und Haushaltsdefizite.“ Stiglitz beunruhigen die komplexen europäischen Entscheidungsprozesse. Die europäische Währungsunion wieder aufzulösen werde gerade auch für Deutschland schwierig und teuer. „Es ist ziemlich schwer, aus einem Rührei wieder die einzelnen Eier herauszuholen.“ Das Überleben des Euro sei mehr eine politische als eine ökonomische Frage, eine Frage der Entschlossenheit der Politiker und insbesondere der deutschen Regierung. Und so oder so, Deutschland werde zahlen müssen. Die Frage, ob unser Wirtschaftssystem am Ende sei, beantwortete Stiglitz mit: „Nicht unbedingt.“

Differenziert fielen auch die Rezepturen aus. Verlangt wurden ein „Europa-Finanzminister, der mit rechtlichen Vollmachten ausgestattet ist und in den Einzelstaaten die Haushaltsdisziplin überwacht“ (Mundell) und eine „Neugestaltung der Eurozone mit einem Bestrafungsmechanismus“ (Phelps). Stiglitz regte Eurobonds an, alternativ, den Stabilitätsfonds EFSF mit mehr Geld auszustatten oder ihm zu ermöglichen, sich direkt bei der EZB zu verschulden, außerdem eine bessere Abstimmung in der Fiskalpolitik. Den Austritt Griechenlands aus der Eurozone, den der hiesige Großmeister Hans-Werner Sinn fordert, hatte in Lindau niemand auf der Agenda: zu teuer, zu gefährlich, unkalkulierbar. Aus der Krise ziehen die Preisträger auf Basis ihrer unterschiedlichen Forschungsansätze teils konträre, teils analoge Schlussfolgerungen. Aber als Gemeinsamkeit zeichnet sich ab, dass pragmatische Ansätze präferiert und dogmatische Positionen zurückgedrängt werden. Stiglitz hat in zahlreichen Interviews und Vorträgen das detaillierteste Programm entworfen. Mitte-Links-Regierungen jedenfalls und auch die Gewerkschaften können aus zahlreichen Statements der Ökonomen allemal ihr Wirtschaftsprogramm herauslesen respektive ihre Auffassungen mit höheren wissenschaftlichen Weihen versehen.

ZWEIFEL AN DER RATIONALITÄT DER MÄRKTE_ Jenseits des kontroversen Krisendiskurses vertiefen sich die Zweifel an der Rationalität der Märkte. Die Modellbildung wird komplexer und nähert sich Schritt für Schritt der Realität an. Mit dem Kalauer „Die unsichtbare Hand des Marktes ist vermutlich deshalb unsichtbar, weil es sie nicht gibt“ löste Stiglitz einen der großen Lacher der Veranstaltung aus. „Die entscheidende Lehre aus der Finanzkrise muss lauten: Unregulierte Märkte sind alleine gelassen nicht effizient.“ Viele Kollegen hätten das immer noch nicht begriffen. „Das Bedürfnis nach einer neuen Form ökonomischen Denkens ist drängender denn je.“ Die Preisträger 2010 haben mittels ihrer Theorie defizitärer Märkte das Modell der „gleichgewichtigen Arbeitslosigkeit“ entwickelt, das die Prozesse auf dem Arbeitsmarkt realistischer als andere beschreibt. Suchprozesse auf dem Arbeitsmarkt sind voller Hindernisse und führen dazu, dass arbeitslose Arbeitnehmer und Arbeitsangebote selbst innerhalb eng definierter Arbeitsmarktsegmente und in Boomphasen nebeneinander existieren. Und George Akerlof (Preisträger 2001) berichtete über seine Forschung, die endlich soziale Kontexte in Modelle einbezieht, die zu erklären suchen, warum Menschen bestimmte ökonomische Entscheidungen treffen.

In Lindau hat sich 2011 eine Disziplin präsentiert, die in den drei Krisenjahren massiv unter Rechtfertigungsdruck geraten ist. Man merkt das auch Laureaten an. Die Krise stellt die Reputation der wissenschaftlichen Gemeinde auf die Probe. Aber Forschung braucht ihre Zeit, um die jüngst vergangene Wirklichkeit überhaupt verstehen und erklären zu können. Zehn Jahre würde es dauern, bis die Krise wissenschaftlich aufgearbeitet werden könne, hieß es, Zeit genug für zwei weitere Krisen. Echtes Nachdenken dauert. Immer wieder verwiesen die Promotoren des Fortschritts an der Spitze der Wissenschaftspyramide auf den Erkenntnisschub, den die große Depression ab 1929 ausgelöst hat. Immer wieder appellierten sie an die jungen Forscher, den Erwartungen einer krisengebeutelten Gesellschaft an wissenschaftliche Aufklärung durch eigene Forschungsanstrengungen gerecht zu werden.

WAS DENKEN, WAS TUN?_ Wer liefert Halt und Orientierung, wenn Nobelpreisträger gegen Nobelpreisträger steht? Das Dilemma ist mittels Wissenschaft nicht aufzulösen. Denn es gibt im wissenschaftlichen Diskurs keine höhere Instanz, die zu Rate gezogen werden oder Legitimation liefern könnte. Doch handelt es sich um ein Dilemma nur auf den ersten Blick, zudem mit einem paradoxen Ausweg. Denn je intensiver der Streit in der Wissenschaft, desto höher intellektuelle Autonomie und Souveränität der Politik. Die wissenschaftliche Kontroverse erweitert den Raum für Entscheidungen auf einer Grundlage, die der Politik vorbehalten bleibt: Entscheidungen auf Grundlage von Überzeugungen, interessenorientiert, wertorientiert. Aber blendet die Politik wissenschaftliche Erkenntnisse aus, bleibt sie dumm. Nimmt die Politik nur die wissenschaftlichen Erkenntnisse wahr, die sich mit den eigenen Überzeugungen decken, ist sie einseitig informiert. Erst wenn die Politik den wissenschaftlichen Diskurs samt seiner Kontroversen zur Kenntnis nimmt und verarbeitet, ist sie wirklich informiert.

Aber ökonomische Forschungsergebnisse sind nicht eins zu eins in Politik übersetzbar. Wenn sich die Nobelpreisträger in Lindau den Journalistenfragen stellen, wechseln sie die Rolle und werden in die Position von Politikberatern gedrängt. Dann komprimieren sie ihre ausgewiesenen Forschungsergebnisse und verbinden sie mit Überzeugungen. Genau das macht Politik. Genau das sollte gute Politik in der Krise mehr tun denn je.

Mehr Informationen 

Das Lindauer Treffen der Nobelpreisträger im Internet unter
www.lindau-nobel.org

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