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TH Köln Magazin Mitbestimmung

Bildung: Jahr der Bewährung

Ausgabe 04/2020

Mit viel Engagement und Kreativität rollt an Hochschulen, Schulen und in der Ausbildung der Betrieb trotz Corona wieder an. Die Gewerkschaften beklagen mangelnde Unterstützung für die Lehrenden, Forscher befürchten eine neue Ungleichheit. Von Joachim F. Tornau

Friederike Waentig, Professorin für Restaurierungs- und Konservierungswissenschaft an der Technischen Hochschule (TH) in Köln, hatte an alles gedacht. Damit die jungen Menschen, an die sie ihr Wissen weitergeben will, trotz Corona praktisch üben konnten, wie man Kulturgüter erhält, packte sie ihnen Koffer, kleine Chemielabore für zu Hause, mit Reagenzgläsern, Pipetten, Lösungsmitteln und einem Mini-Bunsenbrenner. Selbst Bleistift und Schere oder Kaffeebohnen zum Neutralisieren des Geruchssinns fehlten nicht. Auch an den Arbeitsschutz hatte sie gedacht. „Sie haben drei verschiedene Pflastersorten“, sagt die Hochschullehrerin in einem begleitenden Erklärvideo.

So wie Friederike Waentig hielten viele Lehrende den Seminarbetrieb trotz Corona-Pandemie mit viel Engagement aufrecht. Von ihrer Hochschule, erzählt Waentig, sei sie vor Semesterbeginn zwar mit Software für Videokonferenzen regelrecht zugeschüttet worden. Aber die wirklich sinnvollen Lösungen habe sie doch selbst finden müssen. Ihr Fach eignet sich nicht für den Lehrsaal, es geht um spezialisierte handwerkliche Arbeit am Einzelstück. Die Lösungen reichten von Videotutorials und vertonten Powerpoint-Präsentationen bis zur individuellen Beratung durchs geschlossene Institutsfenster. „Ein Riesenaufwand“, bilanziert Waentig. „Das war das anstrengendste Semester, das ich je hatte.“ Zeit zum Forschen und Publizieren sei ihr überhaupt nicht mehr geblieben.

Allem Engagement zum Trotz: Ein entscheidender Teil dessen, was Wissenschaft ausmacht, kommt in diesem Jahr der Bewährung zu kurz.„Die Hochschulen“, sagt Matthias Neis vom Verdi-Fachbereich Bildung, Wissenschaft und Forschung, „wurden von der Corona-Krise kalt erwischt.“ Mangels Infrastruktur für die digitale Lehre seien sie auf die persönlichen Kenntnisse, die Improvisationsbereitschaft und das Engagement der Beschäftigten angewiesen gewesen. Anerkannt werde dieser Einsatz aber nicht überall: „An manchen Universitäten wird die Onlinelehre nur zum Teil auf die Lehrdeputate angerechnet. Die Unterstellung ist, der Aufwand sei bei der Onlinelehre geringer.“

Ein Unding, findet auch Andreas Keller, stellvertretender Vorsitzender der Bildungsgewerkschaft GEW. Wie sein Verdi-Kollege kritisiert er, dass die von der Bundesregierung geschaffene Möglichkeit, die fast durchweg befristeten Arbeitsverträge des akademischen Mittelbaus unbürokratisch um das halbe Jahr des Corona-Semesters zu verlängern, von den Hochschulen bislang nur punktuell genutzt wird.

Im bevorstehenden Wintersemester, fordern die Gewerkschafter, dürften die Lehrenden nicht erneut mit der Bewältigung der wohl nach wie vor nötigen, pandemiebedingten Beschränkungen alleingelassen werden. Für die digitale Lehre bräuchten sie nicht nur mehr technischen Support und didaktische Weiterbildung, sondern auch Rechtssicherheit, was Datenschutz und Datensicherheit bei digitalen Tools angeht.

Kinder aus armen Familien trifft es härter

Anders als an den Hochschulen, wo die Verantwortung beim Personal und bei den Studenten selbst lag, wurde während der Schließung der regulären Schulen die Hauptlast bei den Eltern abgeladen – mit dem Effekt, dass die Pandemie die Bildungsungleichheit in Deutschland weiter zu verschärfen droht. Denn Schulschließungen treffen Kinder aus armen und bildungsfernen Familien härter. Der Grund ist, dass ihre Eltern sie beim Unterricht zu Hause weniger intensiv unterstützen können. „Auch die digitale Medienkompetenz hängt wesentlich vom Bildungshintergrund der Eltern ab“, sagt Bettina Kohlrausch, Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung,

Ilka Hoffmann, Vorstandsmitglied der Bildungsgewerkschaft GEW, plädiert deshalb für Unterricht in kleinen Gruppen, tageweise wechselnd zwischen Fern- und Präsenzlehre. Das so zu organisieren, sei gerade für große Schulen natürlich sehr herausfordernd. „Aber man kann jetzt nicht einfach so weitermachen wie vorher.“

Für die inhaltliche Gestaltung des Unterrichts gelte das nicht minder. „Meine Befürchtung ist, dass man versuchen wird, sofort wieder Stoff in die Köpfe zu pauken, um ihn dann in Klassenarbeiten abzufragen“, sagt die Gewerkschafterin. Dabei komme es jetzt nicht auf die Vermittlung von Spezialwissen an, sondern erst einmal auf das Aufholen von Defiziten bei Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben oder Rechnen.

Vor allem aber bräuchten Kinder, die unter der Krise besonders gelitten haben, eine spezielle Förderung. Das könnten auch ältere Schüler, Studenten oder pensionierte Lehrkräfte übernehmen. Gegen Honorar oder im Ehrenamt. „Das nächste Schuljahr wird kein gewöhnliches werden“, betont Hoffmann. Nichtversetzungen sollten deshalb grundsätzlich ausgeschlossen sein, und bei den Leistungsbewertungen müsse stärker der individuelle Hintergrund der Schüler berücksichtigt werden, fordert das GEW-Vorstandsmitglied. „Sonst benoten wir am Ende ihre Lebensverhältnisse.“

Die Ausbildung geschafft – und dann?

Die Corona-Pandemie erwischte die Ausbildungsbetriebe genauso kalt wie die Schulen und Hochschulen. Um Ansteckungen mit dem Coronavirus zu verhindern, wurden beispielsweise die Lehrwerkstätten von Dillinger und Saarstahl im März ebenso geschlossen wie die Berufsschulen. Auch in der Produktion, die in der Pandemie aus technischen Gründen aufrechterhalten blieb, durften die jungen Menschen nicht mehr eingesetzt werden. „Dadurch hätten sich verschiedene Schichten gemischt und so das Infektionsrisiko erhöht“, sagt Cornelis Wendler, Leiter Bildung und Personalentwicklung bei der Stahlholding Saar: „Die Minimierung des Risikos hat höchste Priorität.“

Sechs Wochen lang, bis die Werkstätten Anfang Mai neu organisiert, mit verkleinerten Gruppen und, sofern Sicherheitsabstände nicht eingehalten werden konnten, mit Maskenpflicht wieder öffneten, beschränkte sich die Ausbildung ausschließlich auf theoretischen Onlineunterricht. Das Hauptziel wurde damit erreicht: „Wir hatten in den Werkstätten bislang keinen einzigen Corona-Fall.“ Die Abschlussprüfungen im Sommer fielen sogar etwas besser aus als üblich – weil die Auszubildenden auf den Theorieteil besser vorbereitet waren.

Nicht überall blieben die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Ausbildung so glimpflich. Zwar ergab eine Umfrage der IG Metall, dass die Metall- und Elektroindustrie überwiegend ihrer Ausbildungsverpflichtung weiter nachkam. Dass Auszubildende und Ausbilder in Kurzarbeit geschickt wurden, habe dank starker Betriebsräte und Jugend- und Auszubildendenvertretungen fast vollständig ausgeschlossen werden können, sagt Stefanie Holtz, Bundesjugendsekretärin der Gewerkschaft. „Das war oftmals ein Kampf.“ Aber: Es gab auch Betriebe, knapp zehn Prozent, die ihre Auszubildenden ohne Aufgabe freistellten. „Das ist natürlich der Worst Case“, sagt Holtz, eine Hypothek für die Zukunft.

Negative Folgen gut abgefedert

Auch in der Chemiebranche standen die Lehrwerkstätten in den ersten beiden Monaten der Pandemie überwiegend still. Nur die betriebsintegrierte Ausbildung lief weiter. Dennoch zieht Philipp Hering, Leiter der Abteilung Junge Generation und Ausbildung der IG BCE, eine vorsichtig optimistische Bilanz: „Wenn es im Herbst keine zweite Infektionswelle und keinen neuen Lockdown gibt, haben wir, wo es eine starke Mitbestimmung gibt, die negativen Folgen recht gut abgefedert.“ Was dem Gewerkschafter mehr Sorgen macht, ist die Zukunft: Bei den Übernahmen zeichne sich bereits jetzt ein Trend zu mehr Befristungen ab, sagt Hering. Auch die Zahl der Ausbildungsplätze könnte in Zukunft sinken. Ein großer Fehler der Unternehmen, findet der Gewerkschafter: „Fachkräftemangel und demografischer Wandel haben sich durch Corona nicht erledigt.“

 Doch die Betriebe sind vorsichtig, Bei der Umfrage der IG Metall gaben 15 Prozent der Betriebe an, künftig weniger Auszubildende zu übernehmen, zehn Prozent wollen weniger ausbilden. Auch wenn das deutlich unter den düsteren Prognosen von Kammern und Verbänden liegt, nach denen bis zu jeder vierte Ausbildungsplatz wegfallen könnte, seien die Zahlen alarmierend, sagt Bundesjugendsekretärin Stefanie Holtz. „Die Auswirkungen von Corona machen deutlich, wie wichtig es ist, Beschäftigung und Ausbildung über Tarifverträge zu sichern.“

Bei Dillinger und Saarstahl stehen die Übernahmen, auch weil tarifvertraglich vereinbart, nicht zur Debatte. Auch ausgebildet wird unverändert weiter. „Wir werden dieses Jahr, wie geplant, jeweils 65 Auszubildende in beiden Unternehmen einstellen“, sagt Cornelis Wendler. „In der Stahlindustrie sind wir weiterhin auf hoch qualifizierte Fachkräfte angewiesen.“

  • Dillinger Hütte Ausbildung mit Corona
    Ähnliche Bilder in der Ausbildungswerkstatt der Dillinger Hütte im Saarland: Folienvorhänge schützen die Auszubildenden, während sie an elektrischen Bauteilen arbeiten. Die Gruppen wurden verkleinert, um die Ansteckungsgefahr klein zu halten: „Die Minimierung des Risikos hat höchste Priorität.“
  • Klassenzimmer Corona
    Hygieneregeln an der Tür eines Klassenzimmers: „Man kann nicht weitermachen wie vorher.“
  • TH Köln
    An der TH Köln reinigt die Professorin Friederike Waentig (Mitte) mit Studentinnen die Mechanik eines historischen Tafelklaviers. Nur ein Drittel der sonst üblichen Personenzahl ist erlaubt. Waentig sagt: „Das Semester war das anstrengendste, das ich je hatte.“

Weitere Informationen

Sebastian Burdack: Wie funktioniert berufliche Ausbildung in Corona-Zeiten? Ausbildungsbetriebe der Stahlindustrie schlagen neue Wege ein. I.M.U. Policy Brief Nr. 5, Hans-Böckler-Stiftung, Mai 2020

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