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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW „Wir wollen das Lohn­dumping nicht weiter voranschreiten lassen“

Ausgabe 11/2011

Detlef Wetzel, Zweiter Vorsitzender der IG Metall, über einen neuen Betriebsbegriff und gewerkschaftliche Verantwortung entlang der Wertschöpfungsketten

Mit Detlef Wetzel sprach Cornelia Girndt bei einem Besuch in der Redaktion in Düsseldorf/Foto: Alexander Paul Englert

Der Bereich der Produktion wird kleiner, Industriebetriebe werden zerlegt und als industrienahe Dienstleistung ausgelagert – das betrifft die Logistik genauso wie technische Werkstätten. Trifft diese Diagnose so zu?
Wir erleben, wie aus den Wertschöpfungsketten jede Menge Vorleistungen ausgegliedert und als Dienstleistung deklariert werden. Wodurch sie nicht mehr zur industriellen Wertschöpfung zugerechnet werden. Das ist sehr weit fortgeschritten. Bei BMW in Leipzig zum Beispiel schaut man auf das Montageband und sieht eine Linie. Auf der einen Seite arbeiten BMW-Beschäftigte, auf der anderen Seite des Bandes liefern Leute Materialien zu und machen Kommissionierungen, die tragen einen anderen Arbeitsanzug und haben eine andere Bezahlung, andere tarifliche Standards als die, die rechts von der Linie arbeiten.

Sieht die IG Metall diese Entwicklung mit Sorge?
Wir diskutieren intensiv darüber, wie wir uns im Verhältnis von Produktion und industrieller Vorleistung positionieren. Denn die Industrie verändert sich rasant. Daher müssen wir uns von einem engen betriebsverfassungsrechtlichen Betriebsbegriff lösen – und einen gewerkschaftspolitischen Betriebsbegriff entwickeln. Wobei wir fragen: Was alles gehört zu unserer Wertschöpfung? Wir wollen nicht auf eine Situation zusteuern, wo am Ende noch ein paar Leute das Markenzeichen aufs Auto kleben – alles andere ist ausgegliedert, niedrigeren tariflichen Bedingungen und auch gewerkschaftsfreien Zonen zugeführt.

Irgendeinen Billighebel finden die Firmen immer, sei es Leiharbeit oder Outsourcing oder Werkverträge.
Von daher brauchen wir einen gewerkschaftlichen Betriebsbegriff. Dementsprechend wären unsere Betriebsräte, Vertrauensleute und die IG Metall als Organisation nicht rechtlich, aber gewerkschaftspolitisch für die gesamte Wertschöpfungskette zuständig – auch für die Vorleister, die Leiharbeiter, die Werkvertragsnehmer. Diese Verantwortung entlang der Wertschöpfungskette, die hat eine stark wertorientierte Dimension. Damit sagen wir: Wir sind aus gewerkschaftlicher Verantwortung zuständig.

Will die IG Metall zusammenfügen, was Kostenstrategen zerlegt haben?
Die verfolgen eine knallharte Wettbewerbsstrategie. Was den Unternehmen der exportorientierten Industrie auch gut gelungen ist, deren industrielle Dienstleister außerordentlich schlecht bezahlt werden. Dazu passt, dass diese Firmen vielfach mitbestimmungs- und tarifvertragsfrei sind. Überhaupt ist der Reallohnrückgang in Deutschland stark davon geprägt, dass ein Großteil der Dienstleistungen nicht adäquat entlohnt werden.

Die Industrie ist hochproduktiv, abgetrennte Dienstleistungen werden dann offenbar nicht mehr dazugezählt.
Wenn wir das Lohndumping dieser industriellen Vorleistungen nicht immer weiter voranschreiten lassen wollen, müssen wir mit der Durchsetzungskraft der Industriegewerkschaften in diesen Bereichen ein umfängliches Tarifsystem schaffen, das ordentliche Einkommen und Arbeitsbedingungen garantiert. Das wird nicht ausschließlich aus der Kraft der ausgegliederten Vorleistungsbelegschaften möglich sein. Das wird oftmals nur gehen mit der geliehenen Kraft der Stammbeschäftigten. Da haben wir auch schon Erfolge und Auseinandersetzungen.

Wo zum Beispiel?
Bei der Schnellecke-Gruppe in Zwickau in Sachsen, 1200 Beschäftigte, über 80 Prozent Organisationsgrad, haben wir es geschafft, Belegschaften zu motivieren und zu organisieren. Für diesen Betrieb haben wir einen außerordentlich guten Tarifvertrag abgeschlossen

Dieser Logistik- und Montage-Betrieb der Schnellecke-Gruppe, bisher bei ver.di, hat den Organisationsbereich gewechselt, was nicht konfliktfrei verlief.
Wir haben das auch nicht schiedlich-friedlich durchgesetzt, sondern wuchtig. Aber wenn wir Industriegewerkschaften nicht die weitere Verelendung dieser Teile unserer Wertschöpfungskette akzeptieren wollen, werden wir uns um die Belegschaften kümmern müssen. Die IG BCE organisiert ja auch richtigerweise die Beschäftigten in den ausgegliederten Betreibergellschaften ihrer Industrieparks.

Wären die Chemieparks ein Modell? Dort ist es – mit Abstrichen bei Lohn und Arbeitszeit – gelungen, die im Industrieservice Beschäftigten im Tarifsystem und als Mitglieder zu halten.
Das könnte so gehen. Alles, was zur Wertschöpfungskette gehört, gehört in den Organisationsbereich der Gewerkschaft, die für das Endprodukt zuständig ist. Auch wir haben Industrieparks, etwa bei Ford in Saarlouis und Köln; und im Audi-Güterverteilzentrum in Ingolstadt erbringen 30 Firmen mit 4000 Beschäftigten Vorleistungen oder machen die Logistik.

Die Unternehmen spielen nicht erst seit gestern die Gewerkschaften gegeneinander aus, Tarifverträge treten gegen Tarifverträge in Wettbewerb. Müssen da nicht die DGB-Gewerkschaften eine gemeinsame Antwort finden?
Es muss Diskussions- und Klärungsprozesse geben zwischen den Gewerkschaften, besonders auch mit ver.di. Sonst geht das zulasten der Arbeitnehmer. Aber nicht überall, wo heute „Service“ draufsteht, ist auch eine Dienstleistung drin. Hier geht es nicht um Organisationbefindlichkeiten. Von gewerkschaftlicher Zuständigkeit allein ist noch keiner satt geworden.
Tatsache ist doch: Die traditionellen Organisationstrukturen der Gewerkschaften sind nicht mehr kompatibel mit dem, was an industrieller Veränderung stattfindet. Mir ist es wichtig, dass die Industriegewerkschaften ein Bild entwickeln, wie sich industrielle Dienstleistung mit Produktion verknüpft und welcher Teil originär zu ihnen gehört. Es ist unsere Schande, wenn es in unserer Wertschöpfungskette Teile gibt, die miserabel bezahlt werden, keine Betriebsräte und keine Tarifverträge haben.

Es geht nicht nur um Outsourcing, wir sehen auch eine neue Dynamik der Wertschöpfung. Dienstleistungen wachsen aus der Industrieproduktion heraus. Wie sollen diese neuen Bereiche reguliert werden?
Dort, wo sich Firmen völlig neu ordnen, Bilfinger Berger etwa, die weggehen vom reinen Bau und hinein in Industrieservice mit Instandhaltung, Planung von Industrieanlagen, steht eine Gewerkschaftskooperation an. Da ist die IG BAU für die Bautätigkeit zuständig und wir für unseren Bereich und die IG BCE für ihre Leute. Wenn wir aber sehen, dass sich Firmen völlig verändern in ihrem Charakter, dann halte ich es nicht für einen klugen Weg, wenn kleiner werdende Gewerkschaften sich Kompensationen organisieren wollen in Bereichen, für die andere Gewerkschaften zuständig sind. Da geht es auch um Fairness.

Neue Branchen wie Facility-Management arbeiten crossover: Da stehen doch Branchengewerkschaften vor schwer lösbaren Abgrenzungsproblemen?
Beim Facility-Management haben wir eine Branche, die sich aus Bau-, Elektro-, Sanitärhandwerk speist, woraus im Grunde eine neue Dienstleistung entsteht, aber vornehmlich aus Wertschöpfungsketten, die aus dem Organisationsbereich der IG Metall kommen.

In wenigen Jahren werden auch ganz neue Dienstleistungen entstehen, etwa in der Klimatechnik oder bei den Mobilitätsdienstleistungen.
Da ist für uns entscheidend, aus welchem Stamm, welcher Wurzel das herauswächst: Mobilität, die sich aus der Luftfahrt oder dem Personennahverkehr entwickelt, ist eine Zuständigkeit von ver.di. Entwickelt sich aber etwas aus der Automobilindustrie, dann ist es eine Zuständigkeit der IG Metall. Das kann man alles auch anders sehen. Aber wir plädieren dafür, dass wir erst mal eine gewisse Logik und Ordnung schaffen.

Sollte man – wie beim amerikanischen Organizing – in Grenzfällen auch die Arbeitnehmer fragen?
Erst mal ein klares Nein. Unsere Branchenorientierung ist eine kluge Lösung, weil man dadurch zwischen vergleichbaren Firmen einer Branche Lohn und Leistung aus dem Wettbewerb herausnimmt – durch Tarifverträge. Aber es wird in jeder Ordnung Grenzfälle geben: Dann sollte die Gewerkschaft, die die Mehrheit der Mitglieder in der Belegschaft organisiert hat, auch die Zuständigkeit haben. Man kann nicht auf seine Zuständigkeit pochen und dann nichts machen. Der Mitgliederwille ist ein wichtiger Wille, aber damit meine ich nicht den instrumentalisierten Mitgliederwillen.

Haben auch die Arbeitgeber ein Interesse an einem stabilen Ordnungsrahmen?
Wir beobachten, dass sich einige Arbeitgeber freuen, wenn sie eine starke Industriegewerkschaft, die in ihrem Unternehmen Mitglieder gewinnt und Betriebsräte unterstützt, zurückdrängen können. Für dieses Vorhaben andere Gewerkschaften einzuspannen, auch das versuchen die Arbeitgeber manchmal.

Die neuen Dienstleistungskonzerne wie Dussmann und WISAG beschäftigen mittlerweile mehr als 40 000 Leute. Sie zahlen mit Vorliebe Mindestlohn und verweigern oftmals Tarifverhandlungen.
Generell meine ich: Wir sind als Gewerkschaft nicht dafür da, jemanden mit 7,50 Euro nach Hause zu schicken. Oder um zu sagen: „Staat, mach das mal!“ In Branchen wie dem Wachgewerbe mit vielen Hunderttausend Beschäftigten, da müssen wir doch als Gewerkschafter hin, um Mitglieder zu finden und Tarifverträge zu machen. Alles andere ist nicht Gewerkschaft, sondern Sozialarbeit. Und das sage ich als gelernter Sozialarbeiter.

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