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Im Bosch-Betriebsrat ist niemand mehr kamerascheu. Magazin Mitbestimmung

Wahlbeteiligung: "Ich kenn dich – aus dem Video"

Ausgabe 01/2022

Bei Bosch wollte der Betriebsrat wissen: Warum gehen Menschen nicht wählen? Dieser Frage ging er systematisch nach. Von Fabienne Melzer

Ihre Gedanken konnte Bosch-Betriebsrat Holger Wendt den Kollegen von der Stirn ablesen: „Ich weiß nichts von dir. Warum soll ich dich wählen?“ Als er sich 2018 bei den Ingenieuren für die Betriebsratswahl am Standort Reutlingen vorstellte, wurde er recht kühl empfangen. Keiner dort kannte ihn, und so kamen sich Betriebsrat und Entwickler an diesem Tag nicht wirklich näher. Vor ein paar Wochen besuchte Holger Wendt mal wieder einige Entwickler, und gleich zwei Kollegen sprachen ihn an: „Ich kenn dich – aus dem Video.“

In den vergangenen vier Jahren hat der Betriebsrat seine Öffentlichkeitsarbeit umgekrempelt. Inzwischen verschickt der Betriebsrat nicht nur Rundmails, er dreht auch regelmäßig Videos über seine Arbeit und stellt sie ins interne Netz. Damit auch Beschäftigte ohne digitalen Zugang sie schauen können, organisiert er für sie gemeinsame Vorführungen. Die Idee hatte Holger Wendt schon lange, doch immer kam etwas dazwischen. Insofern hatte Corona auch etwas Gutes: Als sich der Betrieb leerte, musste der Betriebsrat die Beschäftigten zu Hause erreichen und kam so vom Schwarzen Brett zum Film.

Anlass für den kommunikativen Neustart war nicht nur der kühle Empfang einiger Kollegen vor vier Jahren. Nach den Betriebsratswahlen hatte Wendt sich die Wahlbeteiligung angesehen und festgestellt: „Sie war fast überall zurückgegangen.“ Das wollte er ändern.

Zunächst schaute er sich die Belegschaft an. „Wenn ich wissen will, wie ich die Leute erreiche, muss ich erst einmal wissen, wen ich vor mir habe“, sagt Wendt. Er schlüsselte den Anteil der IG-Metall-Mitglieder nach Alter und Einkommensgruppen auf und ihm wurde klar: „Bei den Akademikern haben wir es als Gewerkschaft immer noch schwer.“

Als Nächstes widmete er sich den Gründen von Menschen, politischen Wahlen fernzubleiben. Die Erkenntnisse aus politischen Wahlenübertrug er auf den Betrieb. Menschen gehen eher nicht zur Wahl, wenn sie keine Unterschiede zwischen den zur Wahl Stehenden erkennen, wenn eine Wiederwahl sehr wahrscheinlich ist, und wenn sie nicht wissen, was die Gewählten in den vergangenen vier Jahren für sie getan haben. Viele Beschäftigte im indirekten Bereich nähmen ihre Arbeitnehmervertretung nur wahr, wenn etwa vor den Werkstoren demonstriert wird. Über die sehr kleinteilige Arbeit wüssten sie meist nichts bis wenig. „An dieser Schraube haben wir richtig gedreht“, sagt Wendt.

Telefonisch befragt

In Verhandlungen verschickt der Betriebsrat nun regelmäßig Newsletter über Zwischenstände an die betroffenen Kolleginnen und Kollegen und berichtet – wo möglich – über Konfliktlinien zwischen Arbeitnehmervertretern und Arbeitgeber. Denn oft sähen die Beschäftigten nur, dass es ihnen gut geht, und nicht, welche Konflikte der Betriebsrat lösen musste, damit für sie ein gutes Ergebnis heraussprang.

Als der elektronische Einkauf von Reutlingen und Feuerbach zusammengelegt werden und die Beschäftigten nach Feuerbach gehen sollten, befragte der Betriebsrat die Betroffenen während der Verhandlungen telefonisch. „Das gab uns Rückhalt, und die Kolleginnen und Kollegen erlebten mit, worum es geht“, sagt Wendt. Die Verlagerung konnte der Betriebsrat nicht verhindern, aber zeitlich strecken und für alle, die in Reutlingen bleiben wollten, eine Lösung finden.

Keine Kamerascheu

Ob sich die Arbeit auch in einer höheren Wahlbeteiligung niederschlägt, wird die Wahl in diesem Frühjahr zeigen. Auch hierfür setzt das Gremium auf den „Vodcast“, wie Wendt seine Videos nennt. Zurzeit dreht er Beiträge über jeden Arbeitskreis, um die kleinteilige Arbeit des Betriebsrats und alle Mitglieder vorzustellen. „Bei vielen Betriebsräten läuft die Kommunikation über den Vorsitzenden, bei uns kommen alle zu Wort“, sagt Wendt. Kamerascheu ist inzwischen keiner mehr, und viele Aufnahmen gelingen schon beim ersten Mal. Wenn es den Betriebsrat erst einmal gepackt hat, sitzen sie schon mal bis Mitternacht zusammen, texten, bis die Tastatur qualmt, und gehen erst auseinander, wenn das Video gedreht ist. Holger Wendt ist überzeugt: „Die Arbeit an so einem Video muss Spaß machen, dann macht es auch Spaß, es sich anzuschauen.“

Mit dem Dreh ist die Arbeit noch nicht zu Ende. Schließlich muss der Betriebsrat auch dafür sorgen, dass sich die Beschäftigten das Video ansehen. „Wir fordern die Kollegen auf, unseren Kanal zu abonnieren und uns zu schreiben, wie bei klassischen Social-Media-Kanälen“, sagt Wendt. „Und wir antworten natürlich auch.“

Man merkt Wendt den Spaß an seinen Videos an. Er will die Kolleginnen und Kollegen aber nicht nur für die Betriebsratswahl gewinnen, sondern auch für die IG Metall. „Und das funktioniert nur im persönlichen Gespräch“, sagt Wendt. Deshalb freut er sich darauf, wenn in einer Nach-Corona-Zeit wieder alle im Betrieb sind.


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