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Magazin Mitbestimmung

: Frauen, Kinder, Gesellschaft

Ausgabe 10/2005

In Deutschland wird viel Geld in die Hand genommen für Familienpolitik, allerdings sind die Effekte nicht so wirkungsvoll wie etwa in Frankreich. Das starre deutsche Bildungssystem verhindert nachgerade die Erfüllung von Kinderwünschen.

Von Hans Bertram
Prof. Dr. Bertram lehrt Mikrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er leitete die Kommission zum aktuellen, siebten Familienbericht, der Mitte August erschien.

In den Industrieländern bekommen weniger Frauen weniger Kinder - ein Phänomen, das bereits seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts zu beobachten ist. In Deutschland bekamen Frauen, die 1940 geboren wurden, im Schnitt 1,9 Kinder; die folgende Generation - um 1965 geboren - bekam durchschnittlich nur noch 1,4 Kinder. Obwohl in allen hoch entwickelten Industrieländern ein Geburtenrückgang zu beobachten ist, gibt es deutliche Unterschiede.

So weisen die USA auch heute noch durchschnittlich 2,1 Kinder pro Frau aus - Tendenz steigend. Dies ist nicht nur Ergebnis einer starken Einwanderung, sondern auch die Geburtenraten der in Amerika geborenen Frauen ist mit 1,8 viel höher als bei uns, und selbst die amerikanischen Akademikerinnen haben mehr Kinder als die vergleichbaren deutschen Frauen. Ähnliches gilt für Frankreich, das mit 1,9 Kindern pro Frau bei der Entwicklung von Humankapital über viel mehr Ressourcen verfügt als Deutschland.
 
Große kulturelle Unterschiede in Europa

Die Gründe für die so unterschiedlichen Entwicklungen sind einigermaßen umstritten. Zwar gibt es europaweit einen Geburtenrückgang, dieser fällt jedoch unterschiedlich ins Gewicht. Italien oder Spanien haben mit rund 1,2 ähnlich niedrige Ziffern wie Deutschland, während die Geburtenrate in Russland und vielen osteuropäischen Ländern inzwischen nur noch knapp um 1 liegt. Gleichzeitig sagen die durchschnittlichen Geburtenraten wenig über die tatsächlichen Verhältnisse aus.

So bekommen in Italien fast alle Frauen ein Kind, anders als in Deutschland, wo ein Drittel der Frauen kinderlos bleibt, darunter besonders viele Akademikerinnen. Gleichzeitig hat sich die Zahl der Kinder bei denen, die sich für Nachwuchs entscheiden, im Vergleich zu früheren Generationen nicht sonderlich geändert. Nach wie vor wächst in Deutschland die überwältigende Mehrheit der Kinder - fast 90 Prozent - in Familien mit zwei, drei oder mehr Kindern auf.

Diese recht unterschiedliche europäische Geburtenentwicklung wird gemeinhin auf kulturelle Differenzen zurückgeführt. In Italien kann eine junge, gut qualifizierte Frau praktisch nur ohne Kinder einen Beruf ausüben und selbstständig sein. Sobald sie heiratet und ein Kind bekommt, tritt sie wieder in die traditionelle italienische Familie ein, und ihre Emanzipationsphase ist beendet. In den skandinavischen Ländern und in England herrscht ein anderes Muster. Hier bedeutet ein Kind häufig Emanzipation vom Elternhaus: Wenn eine junge Frau ein Kind bekommt, kann sie sich von der Herkunftsfamilie abgrenzen, daher gibt es dort viele junge, ledige Mütter.

Daneben ist noch ein mitteleuropäisches Modell zu erkennen, besonders in Deutschland, den Niederlanden und Österreich. Hier gilt, dass sich eine gute Mutter den Bedürfnissen und Wünschen der Kinder "unterordnet". So ist die Emanzipation der jungen Frauen zwar möglich, aber mit der Entscheidung für ein Kind entsteht ein hoher kultureller Druck, dass eine "gute Mutter" eine ganz bestimmte fürsorgliche und relativ ausschließliche Rolle gegenüber ihren Kindern einnimmt. Nach der These eines französischen Demografen versucht man in Frankreich, diesen Rollenkonflikt zu entschärfen durch unterschiedliche Modelle der Tagesbetreuung für Kinder.

Polarisierungen: Leben mit und ohne Kinder

In Deutschland müssen wir uns darauf einrichten, dass die anhaltende demografische Entwicklung nicht nur zu einer Polarisierung zwischen Kinderlosen und Eltern mit Kindern führt, sondern auch zu deutlichen regionalen Differenzierungen - mit einer erheblichen ethnischen Segregation in den Städten. Denn es werden viel mehr Kinder im Süden, im Westen und Nordwesten der Bundesrepublik geboren, während die Geburtenraten im Osten außerordentlich niedrig sind - vor allem durch die massive Abwanderung junger und mobiler Erwachsener Anfang der 90er Jahre, die heute als potenzielle Eltern ausfallen. Daher kann es keine bundeseinheitliche kommunale Politik für Kinder geben: Während etwa in Südwestdeutschland allein auf Grund der vorhandenen Kinderzahl neue Formen von Kinderbetreuung und von Tagesschulen entstehen werden, werden andere Regionen der Republik die vorhandene Infrastruktur kaum sichern können.

Dazu kommt eine dritte Polarisierung: In den städtischen Regionen treffen jene Familien, die einen Migrationshintergrund und eine hohe Geburtenquote haben, auf urbane Städter mit einer geringen Geburtenrate. Absehbar werden in deutschen Großstädten ab 2010 jene Kinder die Mehrheit in Kitas und Schulen bilden, deren Eltern Deutsch nicht als erste Sprache gelernt haben. Von den dann 20- bis 40-Jährigen in den Großstädten werden 40 bis 50 Prozent in einer Familie aufgewachsen sein, in der Deutsch nicht die erste Sprache gewesen ist.

Inzwischen gibt es eine Reihe von Projekten, die sich mit der sprachlichen und kulturellen Integration dieser Kinder auseinander setzen - jedoch sollten die Anforderungen, die dieser Wandel an Erzieher/-innen und Lehrer/ -innen stellt, nicht unterschätzt werden. Diese ethnische Segregation wird noch dadurch verstärkt, dass Eltern, die es sich leisten können, mit ihren Kindern in städtische Randlagen ziehen, wo dadurch bessere Lernmilieus für die Kinder entstehen. Dieses seit langem zu beobachtende Phänomen wird nicht von der deutschen Eigenheimzulage gesteuert, sondern besteht in Norditalien genauso wie in den USA oder im Großraum Paris.

Bildungssystem: gegen Familiengründung abgeschottet

Heute wird eine junge Frau in Deutschland, die sich in der modernen Gesellschaft entsprechend ihrer Bildungspotenziale entwickeln will, die Geburt des ersten Kindes möglichst lange hinausschieben, um nicht in eine Situation der Unverträglichkeit zwischen kindlichen und beruflichen Erwartungen zu kommen.
Dieses Hinausschieben wird durch das deutsche Bildungssystem gefördert. Vermutlich ist es weltweit das einzige, das nicht nur so lange dauert, sondern auch so abgeschottet gegenüber Familien und Kindern ist. Eine akademische Ausbildung macht bis zum 27. Lebensjahr abhängig, und es bedarf nach Abschluss einer solchen Ausbildung ungefähr sieben Jahre für die berufliche Etablierung, und damit ist die Mitte der Dreißiger erreicht.

Zusätzlich wird auch die Integration in das Erwerbsleben zunehmend schwieriger, denn den jungen Erwachsenen werden überwiegend nur befristete Verträge angeboten. So haben im öffentlichen Dienst 90 Prozent der unter 30-Jährigen einen Zeitvertrag. Wie soll eine junge Frau oder ein junger Mann mit kurzfristigen Arbeitsverträgen und prekärer Beschäftigung verantwortlich eine stabile Zukunftsperspektive mit Kindern aufbauen können?

Daneben können biologische Faktoren schlicht nicht außer Acht gelassen werden. Aus der Verbindung einer Frau von 35 Jahren mit einem Mann von 35 bis 37 Jahren ergibt sich mit etwa 15 Prozent Wahrscheinlichkeit ein Kind; wenn Mann und Frau Mitte 20 sind, liegt die Wahrscheinlichkeit bei 50 Prozent. Hier liegt vermutlich auch eine Erklärung für den unglaublichen Boom der Reproduktionsmedizin und warum ausgerechnet akademisch gebildete Frauen relativ wenig Kinder bekommen.

Daher richtet sich eine erste Forderung an die Politik, das Bildungssystem umzuorganisieren, denn das deutsche Bildungssystem ist rigoros auf die lange Erstausbildung angelegt. Dagegen sind in den angelsächsischen Ländern, aber auch in Frankreich alle Studiengänge gestuft: Nach einem Bachelor-Abschluss mit 22 bis 23 Jahren kann man zunächst eine Arbeit aufnehmen, um später wieder in einen Master-Studiengang einzusteigen.

Frankreich hat sein Bildungswesen als ein Concours-System stufenförmig organisiert, wodurch man erstmal Grundschullehrer/-in werden kann, um dann später Gymnasiallehrer/-in zu werden. Solche Stufensysteme ermöglichen es den Menschen, immer wieder aus- und neu einzusteigen. Ein solches Muster ist in Deutschland bisher nicht vorgesehen.

Familieneinkommen zum Großteil unverzichtbar

Die Auffassung, Mütter, die sich für Kinder entscheiden, sollten eher nicht arbeiten, sondern sich um ihre Kinder kümmern, übersieht die Grundtatbestände der ökonomischen Sicherung der Familienhaushalte. In den neuen Bundesländern erwirtschaftet die Ehefrau oder Lebensgefährtin etwa 40 bis 50 Prozent des Haushaltseinkommens, in den alten Bundesländern liegt dieser Anteil zwischen 25 und 45 Prozent. Wenn sich ein Elternteil ausschließlich den Kindern widmen würde, entfielen für einen Großteil der Haushalte 25 bis 45 Prozent des Einkommens, was in der Regel gar nicht machbar ist.

Neben dem Geld ist in der Vereinbarkeitsdebatte die Organisation der Alltagszeit ein wesentlicher Faktor. Die Zeiterwartung an die Familien und die Familienbeziehungen ist gestiegen und nicht gesunken, gerade weil die Familienmitglieder an vielen Orten verstreut leben. Auch für junge Paare wird das Problem zu lösen sein, wie sich bei den heutigen Mobilitätsstrukturen dauerhafte Bindungen überhaupt organisieren lassen.

Später taucht die Frage auf, wie sich Verpflichtungen etwa gegenüber den alt gewordenen Eltern in angemessener Weise erfüllen lassen. Neue Modelle für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf können nicht allein vom Staat und von den Eltern geschaffen werden. Ein weiterer Partner muss in die Verantwortung genommen werden: die Industrie und die Unternehmen. Wie das geschehen könnte, zeigen einige Beiträge in diesem Heft.

Die "Rush-hour" in der Mitte des Lebens

Wenn wir über Vereinbarkeit nachdenken, kommen wir an den Punkt, ob unsere Lebensverlaufsmodelle noch zeitgemäß und funktional sind. Anders gefragt: Überfrachten wir nicht gerade die beruflich aktive Zeit der Menschen in der mittleren Lebensphase zwischen Anfang 30 und Mitte 50, zum einen mit den Aufgaben der beruflichen Etablierung und Bewährung und gleichzeitig mit der Familiengründung?

Alle Befunde dazu lassen den Schluss zu: Diese Lebensphase ist eine "Rush-hour". Um genau dies zu vermeiden, müssten unsere Lebensverlaufsmodelle neu gedacht werden als Möglichkeiten, unterschiedliche Elemente wie Ausbildung, auch in mehreren Stufen, Familiengründung, Berufseinstieg, Weiterbildung, Familienpflege und anderes zu unterschiedlichen Zeitpunkten als Optionen einzubringen. Das kann allerdings nur plausibel umgesetzt werden, wenn sich aus solchen diskontinuierlichen Lebensverläufen keine Benachteiligungen ergeben.

Wie setzen andere Länder ihre Anreize, damit Menschen, für die Kinder ein Teil ihrer Zukunft sind, diese Zukunftsvorstellungen auch realisieren können? Wenn bisher nicht von Geld die Rede war, hängt das damit zusammen, dass Deutschland im internationalen Vergleich für Familien und Kinder erhebliche Mittel aufwendet, etwa so viel wie Frankreich, allerdings ohne die gleichen Effekte. Von Frankreich kann man lernen, dass der Staat es durchaus Männern wie Frauen ermöglichen kann, unterschiedliche Lebensbereiche zu vereinbaren, wobei finanzielle Unterstützung in größerem Umfang erst dann geleistet wird, wenn mehrere Kinder (ab drei) da sind.

Das Sozialkapital zu entwickeln ist überall schwierig, nicht nur in Deutschland. So hatte Frankreichs Präsident Mitterand bei seinem Amtsantritt 300 000 neue Kinderkrippenplätze versprochen; am Ende seiner 14-jährigen Regierungszeit waren es gerade 20 000 geworden, weil die Kommunen kein Geld hatten. Doch die Franzosen haben daraus gelernt und einen neuen Beruf erfunden, nämlich die akademische Tagesmutter, die genauso qualifiziert ist wie die Leiterin einer Ecole Maternelle. Damit ist ein neuer Berufszweig entstanden, mit dem die Gesellschaft auf die demografische Entwicklung in Frankreich flexibel reagieren konnte.

Von den USA kann man lernen, dass gestufte Bildungssysteme mit Abschlüssen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Lebensverlauf erworben werden können, eine Variante der akademischen Ausbildung darstellen, bei der sich Familienorientierung und Karrieremöglichkeiten nicht prinzipiell entgegenstehen.

Von den nordeuropäischen Ländern, insbesondere Schweden, kann man lernen, wie die Eltern besser in die Betreuungseinrichtungen einbezogen werden als in Deutschland. Darüber hinaus hat Schweden aber auch deutlich gemacht, dass eine Politik, die die Gleichheit der Geschlechter bewusst zum zentralen Thema macht, nicht notwendigerweise zu einer kritischen Interpretation von Familie führt, sondern zu einer größeren Akzeptanz von Familienbeziehungen in der Gesellschaft.

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