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Magazin Mitbestimmung

: Kulturelle Mobilisierung

Ausgabe 10/2005

Treibende Kraft sein bei der Gestaltung von Arbeits- und Lebensbedingungen, die den Frauen faire Chancen eröffnen und neue Arbeitsbiografien ermöglichen. Work-Life-Balance - ein Gestaltungsauftrag für moderne Gewerkschaften.

Von Warnfried Dettling
Dr. Warnfried Dettling lebt als freier Autor und Politikberater in Berlin. Er hat das Thema "Work-Life-Balance als strategisches Handlungsfeld für die Gewerkschaften" im Auftrag der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung untersucht (siehe "Zum Weiterlesen"). www.warnfried-dettling.de

Die Zeiten sind für die Gewerkschaften härter geworden. Das gilt nicht nur wegen kommender Regierungswechsel. Die eigentliche Gefahr kommt nicht von außen, sondern von innen. Gewerkschaften stehen vor der Aufgabe, so, wie sie organisiert sind, mit dem, was sie wie sagen und was sie tun - sprich mit ihrer politischen Agenda - anschlussfähig zu bleiben an die Entwicklungen und Debatten der Gegenwart. Trotz aller Versuche, sie zu randständigen Organisationen zu machen, werden sie nicht von Barrikaden herab, als Folge "neoliberaler Attacken" besiegt werden. Es droht ihnen eine andere Gefahr: Sie könnten für immer mehr Menschen immer unwichtiger werden.

Wandel gestalten, nützt auch dem Kerngeschäft

Wer die Gewerkschaften als Gestaltungsmacht auch in einer veränderten Welt erhalten will, muss versuchen, ihre Selbstmarginalisierung zu verhindern, und ihnen zusätzlich zu ihren klassischen Themen neue Handlungsfelder erschließen. In diesem strategischen Kontext kommt dem Konzept "Work-Life-Balance" eine besondere Bedeutung zu. Diese thematische Öffnung ist Teil der viel grundsätzlicheren Frage nach ihrem Selbstverständnis.

Was wollen Gewerkschaften sein? Wie sehen und verstehen sie sich selber? Wie wollen sie von anderen, von der Öffentlichkeit gesehen und wahrgenommen werden? Als ein Interessenverband, der ausschließlich die Interessen der Mitglieder oder die einer bestimmten Zielgruppe in der Gesellschaft vertritt und dabei vor allem die sozialen "Errungenschaften" der Vergangenheit verteidigt? Oder sollten Gewerkschaften ganz bewusst ein gesellschaftspolitisches Mandat beanspruchen, das die Gestaltung und Zukunftsfähigkeit der gesamten Gesellschaft im Auge behält?

Darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Die einen warnen davor, dass sich die Gewerkschaften selbst überfordern. Andere wiederum, wie etwa der Soziologe Oskar Negt, plädieren ausdrücklich für ein gesamtgesellschaftliches Mandat der Gewerkschaften. Die Wahrheit könnte in der Mitte liegen: Je mehr sich Gewerkschaften auf den Wandel einlassen, um ihn dann auch intelligent gestalten zu können, umso erfolgreicher werden sie sein in ihrem "Kerngeschäft". Wer das Ganze nicht bedenkt, kann sich als Teil nicht erfolgreich einbringen.

Lange Zeit gereichte den Gewerkschaften ja das verbreitete Gefühl zum Vorteil, sie seien näher dran am Gemeinwohl als andere Verbände. "Arbeit und Leben" ist eine traditionsreiche Formel, die schon immer einen umfassenden Anspruch begründet hat und die jetzt darauf wartet, neu entdeckt und zukunftsoffen interpretiert zu werden. Ein gelungenes Motto der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di bringt es auf den Punkt: "in balance: gutes leben, gute arbeit". Es ist ein umfassender und auch ein normativer Anspruch, sich nicht mit dem gesellschaftlichen Status quo abzufinden. Eine bessere Arbeitswelt und eine bessere Lebenswelt sind möglich.

Was ist gemeint? Dazu ein Beispiel: In Deutschland sind Arbeitsmarkt, Sozial- und Bildungsstaat so organisiert, dass viele draußen bleiben. Die Jungen kommen spät rein in den Arbeitsmarkt. Alte gehen früh raus. Bezüglich der Migranten herrscht große Zurückhaltung, sie könnten Arbeitsplätze "wegnehmen". Die Frauenerwerbsquote ist niedriger als anderswo. Die Mechanismen der Exklusion, der Ausgrenzung, funktionieren. Man hat lange gehofft, so der Vollbeschäftigung näher zu kommen, wenigstens einer "Vollbeschäftigung" für den deutschen Mann zwischen 30 und 55.

Aber könnte es sein, dass viele Fehlentwicklungen ihre Ursache darin haben, dass allzu viele Akteure Wirtschaft und Gesellschaft nur statisch denken können als einen Zustand, den man nur richtig reglementieren und gerecht verteilen müsse, während man von Veränderungen keine guten Wirkungen und schon gar keine positiven Nebenwirkungen erwartet? Es ist eben auf den ersten Blick schwer einzusehen, dass mehr Frauen im Erwerbsleben weniger Arbeitslosigkeit, mehr Kinder und ein besseres Wirtschaftswachstum bedeuten können - aber internationale Vergleiche zeigen genau dies.

Wer die Megatrends abtut, dem droht Marginalisierung
 
Wenn Politik und Gewerkschaften wieder als dynamische Kräfte in einer dynamischen Gesellschaft agieren wollen, dann müssen sie lernen, in Prozessen zu denken, diese freizusetzen, auf sie einzuwirken und durch intelligente "Regulierungen" neue Chancen und Sicherheiten im Wandel zu schaffen. Dieses Denken in Prozessen rückt nicht nur die Gesellschaft im Ganzen, sondern auch die Lebensverläufe der (heute jungen) Menschen in ein neues Licht. Nur so können Gewerkschaften ihre Aufgaben erfolgreich angehen, wie sie es schon einmal getan haben, beim Übergang von der Agrar- in die Industriegesellschaft vor 150 Jahren. Damals haben sie nicht so sehr die Errungenschaften der Vergangenheit bewahrt, sondern die sozialen Risiken und Sicherheiten der kommenden Zeit thematisiert.

Die großen Megatrends des Wandels sind nun einmal Globalisierung, Digitalisierung, Europa ohne Grenzen, Migration, demografische Entwicklung und Individualisierung. Sie bergen Risiken und Chancen, auf jeden Fall haben sie Folgen für die Gewerkschaften, die diese nur auf die Gefahr ihrer eigenen Marginalisierung hin unterschätzen können. Es dürfte auf Dauer nicht möglich sein, Wohlstand und Wohlfahrt in einer Gesellschaft zu erhalten, in der jede folgende Generation um ein Drittel kleiner ist als die vorhergehende. Individualisierung bedeutet nicht notwendig Egoismus oder Abschied von der Solidarität, sondern die Emanzipation der Menschen von den großen kollektiven Mächten. Die "veränderten" Menschen wollen immer wieder gute Gründe dafür haben, warum sie sich engagieren, warum sie Mitglied werden, warum sie solidarisch sein sollen.

Wenn die traditionellen sozialen Milieus schwächer werden, muss man den Sozialstaat so umbauen, dass er "solidaritätsproduktiv" wird, Solidarität erzeugt und nicht nur verbraucht. Und man muss neue soziale Milieus an der Basis der Gesellschaft kultivieren. In Zeiten der Individualisierung jedenfalls wird die Frage wichtig, woher Solidarität denn kommen solle, es genügt nicht mehr zu fragen, wohin sie denn gehen solle. Und für die Gewerkschaften bedeutet Individualisierung ganz konkret, dass hierarchische Strukturen es schwer haben werden mit den "veränderten" Menschen. Mitreden, mitbestimmen, sich einbringen als Person, Rücksicht auf die eigene Lebenswelt, nicht von oben herab behandelt werden, dies und viel mehr entspricht den Wünschen der Menschen, und die können in flexiblen Netzwerken besser aufgefangen werden als in starren Strukturen.

"Work-Life-Balance" ist kein thematisches Dach, unter das man alles subsumieren kann, was Mitglieder von der Gewerkschaft und Gewerkschaften von Wirtschaft und Unternehmen erwarten. Aber die Balance zwischen einem "guten Leben" und einer "guten Arbeit" schlägt einen thematischen Bogen und bietet einen "roten Faden" über vielerlei, was schon jetzt oft ohne rechten inneren Zusammenhang in den Gewerkschaften geschieht. "Work-Life-Balance" öffnet mentale und konzeptionelle Türen zu vielen Wünschen und Realitäten, die für die Arbeitnehmer/-innen künftig immer wichtiger werden, und zwar in der gesellschaftlichen "Horizontalen" - also im Verhältnis zu anderen Gruppen, Institutionen und Lebensbereichen - wie auch in der zeitlichen "Vertikalen", zu den verschiedenen Phasen des eigenen Lebens.

Das lässt sich gut illustrieren, wenn man die veränderten Lebensverläufe der Zukunft betrachtet. Es ist das Verdienst des neuen, des siebten Familienberichtes, der Mitte August 2005 von Hans Bertram, dem Vorsitzenden der Expertenkommission, der Familienministerin Renate Schmidt übergeben wurde, dass er die Veränderungen in der Lebens- und in der Arbeitswelt konsequent in der Perspektive des Lebensverlaufes analysiert hat. Die ältere Generation lebte noch nach dem Modell der Lebenstreppe in drei Phasen: In der Jugend lernte man. Als Erwachsener hatte man einen Beruf. Im Alter ruhte man sich von den Mühen des Lebens aus.

Dieses Modell des Lebensverlaufes ist für die heute Jungen nicht mehr wahrscheinlich: Wer nur in der Jugend seinen Bildungsproviant für die Lebensreise packt, wird vermutlich nicht weit kommen. Auch Erwachsene müssen neue Kompetenzen erwerben können. Das Thema "lebenslanges Lernen", den Gewerkschaften nicht unbekannt, wird für den persönlichen und den wirtschaftlichen Erfolg entscheidender als je zuvor. Dafür aber braucht es Ressourcen: Zeit, Geld und Personal. Das Ende der beruflichen Normalbiografie macht es notwendig, riskante Übergänge zu gestalten und nicht nur riskante Lebenslagen abzusichern.

Das Alter wird eine lange, eigenständige und produktive Phase werden, fast so lange wie das Erwerbsleben und, nach den bisherigen Rechenarten, bald ein Drittel der Gesellschaft umfassen. In einer solchen Lage wird es immer weniger plausibel, starre Altersgrenzen für alle zu ziehen. Dafür aber wird ein anderer Zusammenhang immer wichtiger. Wie lange Menschen arbeiten wollen, können und sollen, das hängt vor allem davon ab, wie sie während ihres gesamten Arbeitslebens gearbeitet haben. Die Humanisierung der Arbeitswelt gewinnt in diesem Kontext eine neue und weit größere Bedeutung als bisher.

An diesen beiden Beispielen lässt sich zeigen, dass "Work-Life-Balance" nicht nur eine Gruppe - die Frauen - und nicht nur eine kurze Phase - dann, wenn die Kinder klein sind - umfasst. So wie Gender Mainstreaming dazu auffordert, die gesamte Gesellschaft, Lebenswelt und Arbeitswelt aus der Perspektive auch der Frauen zu betrachten und zu gestalten, so verfolgt Work-Life-Balance als Ansatz das Ziel, die gesamte Arbeitswelt so zu gestalten, dass sie möglichst weitgehend Rücksicht nimmt auf die Lebenswelt aller Mitarbeiter/-innen, so unterschiedlich deren Wünsche, Interessen und soziale Verpflichtungen auch sein mögen.

Teilhabe der Geschlechter: ein machtvoller Trend

Eine solche Arbeits- und Unternehmensphilosophie lässt sich sowohl gewerkschaftspolitisch wie unternehmenspolitisch begründen. Dabei geht es nicht nur um humanitäre Appelle, mit den Mitarbeitern rücksichtsvoll umzugehen. Zur Debatte stehen vernünftige Voraussetzungen, um den persönlichen Erfolg des Einzelnen und den wirtschaftlichen Erfolg des Ganzen zu optimieren.

Es geht um die Bedingungen des Erfolgs in einer veränderten Arbeitsgesellschaft. Diese wird in Zukunft bunter und weiblicher, jünger und älter, mit einem Wort komplexer und weniger homogen sein. Erfolg wird haben, wer mit dieser Vielfalt intelligent umgeht. Die Gewerkschaften könnten dazu beitragen und so die soziale und die ökonomische Vernunft befördern - und gleichzeitig wieder attraktiver werden für solche Zielgruppen, die bisher eher unterrepräsentiert sind: Frauen, Jüngere, die neuen Berufe, High Tech und High Touch.

Die Gewerkschaften als treibende Kraft oder gar als Träger und Motor des kulturellen Wandels zu erleben könnte durchaus dazu beitragen, ihre Anmutungsqualität in der Öffentlichkeit zu verbessern. Dazu bietet eine Politik, die dem Muster von "Work-Life-Balance" folgt, vielfältige Möglichkeiten. Sie wäre die Antwort nicht nur auf die Entgrenzung und Entbetrieblichung der Arbeit sowie auf die eher entstandardisierten Lebensverläufe. Sie wäre auch eine Antwort auf die Entgrenzung der sozialen Geschlechtsrollenstereotypen, die in der Industriegesellschaft Männer und Frauen in unterschiedliche Welten eingeordnet hatten.

Die Idee der Gleichheit, der Geschlechterdemokratie, einer entsprechende Teilhabe beider Geschlechter an beiden Welten mitsamt einer besseren Balance und Aufteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit stellen machtvolle Trends der kulturellen und der ökonomischen Entwicklung dar, angesichts derer sich Parteien, Gewerkschaften und Regierungen entscheiden müssen, ob sie eher Teil des Problems oder Teil der Lösung sein wollen. Es war nicht die geringste Leistung der Regierung Schröder und vor allem der Ministerin Renate Schmidt, in der Familienpolitik einen Paradigmenwechsel vollzogen und die hier beschriebene Balance zwischen Arbeit und Leben, Familie und Beruf, und zwar für Frauen und Männer, in den Vordergrund gerückt zu haben.

Es könnte sein, dass die Gewerkschaften bald die Chance haben, sich als Träger einer kulturellen Modernisierung Deutschlands in Erinnerung zu bringen. Das Wahlprogramm von CDU und CSU geht eher traditionelle Wege. Ein Protagonist wie Paul Kirchhof ist radikalliberal, was die Steuerreform, und kulturkonservativ, was die Familienpolitik betrifft. Mit seinem traditionellen Familienbild ist er durchaus repräsentativ für starke Milieus innerhalb der CDU und der CSU.

Unabhängig davon ist ein Kulturwandel und ein Abschied vom deutschen Sonderweg in der Familienpolitik aus vielerlei Gründen unabdingbar. Ein Blick über die Landesgrenzen zeigt uns: Man kann die notwendigen Veränderungen haben, ohne den Sozialstaat verraten zu müssen. Länder wie Schweden zeigen uns auch: Eine neue Balance zwischen einem "guten Leben" und "guter Arbeit" ist möglich - und auch nötig, wenn anders die wirtschaftliche Entwicklung nicht auf Kosten der Menschen und der Familien gehen soll. .

 

Zum Weiterlesen

Warnfried Dettling: Work-Life-Balance als strategisches Handlungsfeld für die Gewerkschaften. Arbeitspapier 90 der Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2004.

Warnfried Dettling: Paradigmenwechsel. Familienpolitik für die nachindustrielle Gesellschaft. Gisela Erler: Der lange Weg zum Kulturwandel. Beide in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 7+8/2005.

Malte Ristau: Der ökonomische Charme der Familie. In: Aus Politik und
Zeitgeschichte, Juni 2005.

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