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Magazin Mitbestimmung

Arbeitskampf: Ausweitung der Kampfzone

Ausgabe 06/2012

Von Flashmobs bis Massenemails: Die Kreativität im Arbeitskampf nimmt zu. Doch nicht alles ist erlaubt. Was Gewerkschafter beim Erfinden von Kampfmitteln zu beachten haben, hat der Arbeitsrechtler Olaf Deinert untersucht. Von Joachim F. Tornau

Den Kabarettisten Georg Schramm hat die neue Aktionsform der Flashmobs, wie er sagt, „total begeistert“. So sehr, dass er seine Figur des Druckers August derzeit allabendlich auf der Bühne dafür werben lässt. August ist nicht eben ein Kind des Internet-Zeitalters, doch was ein Flashmob ist, das weiß er. Und bekommt leuchtende Augen, wenn er davon erzählt, wie im Dezember 2007 im Arbeitskampf des Berliner Einzelhandels Dutzende Menschen einen Supermarkt komplett lahmlegten, indem sie ihre Einkaufwagen bis zum Rand vollluden – um dann an der Kasse plötzlich zu bemerken, dass sie ihr Geld vergessen hätten. Bei so etwas, strahlt der Hessisch babbelnde Rentner, wäre er sofort dabei.

Bei den Gewerkschaften rennt er damit offene Türen ein. Im September 2009 erklärte das Bundesarbeitsgericht (BAG) den ver.di-Flashmob im Rewe-Markt im Berliner Ostbahnhof höchstrichterlich für rechtmäßig. Und seit dieser Entscheidung der Erfurter Richter haben sich Aktionen, bei denen blitzartig („flash“) eine Gruppe („mob“) von Streikenden und Gewerkschaftern an unerwarteten Orten auftaucht und für kurze Zeit überraschende Dinge tut, im Arsenal der Arbeitskampfmaßnahmen etabliert. „Da haben wir ein bisschen Tarifgeschichte geschrieben“, freut sich Erika Ritter, Fachbereichsleiterin Handel bei ver.di in Berlin-Brandenburg. „Das ist kein schlechtes Gefühl.“

Die Idee entstand, weil die klassischen Arbeitskampfformen ins Leere gelaufen waren: Die Arbeitgeber hatten den Streik ganz einfach abgewehrt, indem sie Leiharbeitskräfte als sogenannte „Streikbrecher“ an die Kassen der Supermärkte setzten. „Unsere Leute haben gestreikt, aber die Läden sind einfach weitergelaufen“, erzählt Ritter. „Da mussten wir uns etwas einfallen lassen.“ Und so habe man eines Morgens kurzentschlossen ausprobiert, ob sich Flashmobs – bis dahin vor allem als sinnfreie Events der Spaßgesellschaft bekannt – nicht vielleicht zu einem neuen gewerkschaftlichen Kampfmittel umfunktionieren lassen könnten. Und der Erfolg beflügelte die Fantasie auch anderer Gewerkschaften.

AKTION DRECKIGER SCHUH

Vor allem im Dienstleistungssektor, wo klassische Arbeitskämpfe wegen des oftmals nur geringen Organisationsgrads und der Streikunerfahrenheit der Beschäftigten, aber auch wegen der kleinteiligen Branchenstruktur nur schwer zu führen sind, ist eine wachsende gewerkschaftliche Kreativität zu beobachten. So rief man im Arbeitskampf der Gebäude­reiniger 2009 zur „Aktion Dreckiger Schuh“: Eine Gruppe von Menschen erschien mit besonders schmutzigem Schuhwerk in einem Berliner Kaufhaus und sorgte dafür, dass die Böden ein zweites Mal gewischt werden mussten. Und im vergangenen Jahr formierten sich in einem Bremer Hotel-Foyer mehr als 20 vermeintliche Gäste überraschend zu einer Tanzgruppe, die dann singend und trommelnd zum Boykott des Hotels aufrief: „Willst du gut schlafen, pass auf, wo du eincheckst/Dieses Hotel gehört auf den Index/Schlechte Bezahlung, fiese Verträge/Vornerum freundlich, hintenrum schräge.“

Die Aktion, sagt Thorsten Zierdt von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) in Bremen, war ein voller Erfolg. Vorher habe der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (DEHOGA) die Tarifforderungen der Gewerkschaft nicht recht ernst genommen. „Hinterher hatten sie Angst: Was denken die sich noch aus?“ Die Folge: „Es gab einen tollen Tarifabschluss.“ Und der Eindruck war offenbar nachhaltig: In der aktuellen Tarifrunde, berichtet Zierdt, habe es gereicht, mit derlei öffentlichkeitswirksamen Aktionen bloß zu drohen, um die Arbeitgeber zum Einlenken zu bewegen.

Doch wie viel solcher Kreativität ist überhaupt rechtlich zulässig? Weil der Hauptverband des deutschen Einzelhandels Verfassungsbeschwerde gegen das Flashmob-Urteil des BAG eingelegt hat, wird sich irgendwann demnächst auch das Bundesverfassungsgericht mit dem blockierten Rewe-Markt im Berliner Ostbahnhof beschäftigen müssen. Der Göttinger Arbeitsrechtler Olaf Deinert glaubt jedoch nicht, dass der Spruch der Erfurter Bundesrichter noch kassiert wird. Denn Arbeitskampfrecht ist in Deutschland Richterrecht. Kein detailliertes Gesetzbuch gibt die Spielregeln vor; was erlaubt ist und was nicht, muss von den Gerichten im konkreten Einzelfall entschieden werden – orientiert am Maßstab der grundgesetzlich garantierten Koalitionsfreiheit. „Der Rest ist eine Frage der Abwägung“, erklärt Deinert. Zwischen den Grundrechten der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. „Der Spielraum ist dabei relativ weit.“

Das bedeutet allerdings auch: Ob eine neue Aktionsform zulässig ist oder nicht, weiß man mit Bestimmtheit erst dann, wenn dagegen geklagt wurde und es ein (höchstrichterliches) Urteil gibt. „Das beeinträchtigt die Rechtssicherheit“, sagt Deinert, „schafft andererseits aber auch Kreativitätsräume.“ Die Grenzen dieser Kreativität hat der Professor an der Universität Göttingen in einem Gutachten für das Hugo-Sinzheimer-Institut für Arbeitsrecht der Otto-Brenner-Stiftung auszuloten versucht. Aus der bisherigen Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und Bundesarbeitsgericht leitet er grundsätzliche Leitlinien ab, die bei der rechtlichen Beurteilung sogenannter atypischer Arbeitskampfformen zu beachten sein dürften. Zunächst: „Es herrscht Kampfmittelerfindungsfreiheit“, betont Deinert. Welche Aktionen eine Gewerkschaft wann für sinnvoll und erforderlich hält, sei allein ihre Entscheidung. Und sie müsse auch nicht vorher ankündigen, was sie vorhabe. „Arbeitskampf funktioniert durch Überraschung.“

ANGRIFFE AUF DIE VIRTUELLE WELT

Aber: Das gewählte Mittel darf nicht unverhältnismäßig sein, den Arbeitgeber also nicht über Gebühr schädigen. „Dabei ist die Beherrschbarkeit entscheidend“, erklärt der Arbeitsrechtler. Zwar dürften für eine Aktion durchaus auch Unterstützer über den Kreis der Streikenden hinaus angeworben werden. „Die Gewerkschaft muss jedoch dafür sorgen, dass sie immer die Kontrolle behält – jedenfalls bei einem Verlauf, wie er nach menschlichem Ermessen normalerweise zu erwarten wäre.“ Im Fall des Berliner Supermarkts gelang das, indem, anders als bei Spaß-Flashmobs, nicht wahllos über das Internet aufgerufen, sondern gezielt und persönlich eingeladen wurde. Und: Der Arbeitgeber muss eine Chance zur Reaktion haben. So hätte der Rewe-Flashmob, wie das BAG meinte, mit Hausverboten oder einer vorübergehenden Schließung des Geschäfts abgewehrt werden können.

Mögliche Angriffe auf die virtuelle Welt des Arbeitgebers sieht Deinert daher skeptischer: Wenn der Server eines Unternehmens etwa durch massenhafte Zugriffe auf die Internetseite zum Absturz gebracht würde, gebe es keinerlei sinnvolle Gegenwehr. Solche Internet-Blockaden seien deshalb im Arbeitskampf wohl nur sehr eingeschränkt erlaubt. Allenfalls dann nämlich, wenn sie auf „einige Stunden, gegebenenfalls an verschiedenen Tagen wiederholt“, begrenzt würden.

Eine derartige „Online-Demonstration“ war 2001 von einer antirassistischen Initiative gegen die Lufthansa organisiert worden aus Protest gegen Abschiebungsflüge. Die viel beachtete Aktion fand bislang zwar noch keine Nachahmung bei den Gewerkschaften. Dass sie in das Gutachten aufgenommen wurde, ist dennoch kein Zufall: Bei der Suche nach neuen Kampfmitteln orientieren sich die Gewerkschaften gerne am Vorbild sozialer Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen, von denen sie vor allem eines gelernt haben: Es kommt darauf an, die Öffentlichkeit für die eigenen Ziele zu mobilisieren. Nicht nur die spektakulären Flashmobs, sondern auch Boykottaufrufe oder Kampagnen wie die, mit der ver.di erfolgreich die Arbeitsbedingungen beim Lebensmittel-Discounter Lidl anprangerte, waren Folge dieser Erkenntnis. Klassische Streikdemonstrationen werden zunehmend durch neue Protestformen ergänzt.

„Man muss heute mehr tun, um aufzufallen“, weiß auch Peter Riedel, der bei der IG Bauen-Agrar-Umwelt (BAU) für das Gebäudereiniger-Handwerk zuständig ist. Wenn er vom ersten Arbeitskampf der Reinigungskräfte vor drei Jahren erzählt, fallen ihm unzählige öffentlichkeitswirksame Aktionen ein: Theatersketche, „Sklavenumzüge“ oder „Putzolympiaden“ in den Fußgängerzonen Dortmunds und Nürnbergs, bei denen Passanten eingeladen waren, sich bei laufender Stoppuhr am Reinigen eines Schreibtischs oder Teppichs zu versuchen. „Es ging darum, der Öffentlichkeit darzustellen, wie schwer und komplex diese Arbeit und wie notwendig dieser Beruf ist.“ Rechtlich war das alles selbstverständlich unproblematisch. Doch Riedel hätte nichts dagegen, noch mutiger zu sein. Mit Neid blickt er über die Landesgrenze auf die niederländische Schwestergewerkschaft: Die lieh sich für publikumswirksame Demonstrationen schon ausrangierte Panzer und leibhaftige Kamele aus. Und einmal schäumte sie die komplette Fassade einer Unternehmenszentrale ein – mit Feuerwehrschläuchen. „Wenn so etwas auch bei uns umsetzbar ist“, sagt der Gewerkschafter, „dann würden wir das sehr gerne tun.“

Text: Joachim F. Tornau, Journalist in Kassel / Foto: IG BAU

Mehr Informationen

Britta Rehder/Olaf Deinert/Raphaël Callsen: Arbeitskampfmittelfreiheit und atypische Arbeitskampfformen. Rechtliche Bewertung atypischer Arbeitskampfformen und Grenzen der Rechtsfortbildung (Schriftenreihe des Hugo-Sinzheimer-Instituts für Arbeitsrecht, Band 1). Saarbrücker Verlag für Rechtswissenschaften 2012. 128 Seiten, 29,80 Euro.

Kostenlos zum Download (PDF).

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