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HBS Böckler Impuls

Arbeitsbeziehungen: Starker Kern, ausfransende Ränder

Ausgabe 15/2013

In den vergangenen 20 Jahren haben sich die Arbeitsbeziehungen in Deutschland fundamental verändert: Sie sind europäischer geworden, dezentraler – und sie tragen weniger zum sozialen Ausgleich bei.

Das Grundgerüst der deutschen Arbeitsbeziehungen ist nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, erläutert WSI-Forscher Martin Behrens in seiner Analyse der heutigen Situation:

  • starke Industriegewerkschaften, die mit vertretungsmächtigen Arbeitgeberverbänden in weitgehender Tarifautonomie über die Höhe der Löhne und weitere grundlegende Arbeitsbedingungen verhandeln,
  • gepaart mit Betriebsräten, die auf der betrieblichen Ebene die Interessen der Beschäftigten vertreten.

Dieses duale System habe die deutschen Arbeitsbeziehungen in zwei verschiedene Konfliktsphären aufgeteilt, so Behrens: Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände führen die Tarifverhandlungen – in der Regel auf Branchenebene. Konflikte tragen sie über Streiks und Aussperrungen aus. Betriebsräte hingegen haben kein Streikrecht. Bei Disputen mit dem Management können sie aber beispielsweise die Zustimmung zu einer Ausweitung der Arbeitszeit verweigern. In einigen Fällen ist vorgesehen, eine neutrale Einigungsstelle zur Konfliktlösung anzurufen.

Der deutsche Staat schützt das duale System: Das Grundgesetz, ergänzt durch Entscheidungen des Bundesverfassungs- und Bundesarbeitsgerichts, garantiert die Tarifautonomie. Für die Tarifverhandlungen hilfreich sind auch gesetzliche Mindeststandards – wie zum Beispiel zur Dauer des Urlaubs – sowie sozialstaatliche Regelungen: die Renten-, die Arbeitslosen-, die Kranken- und die Pflegeversicherung. „Zwar sind einige dieser Leistungen seit dem Jahr 2000 unter dem Protest der Gewerkschaften reduziert worden“, erläutert der WSI-Forscher. „Dennoch müssen die Tarifpartner – anders als beispielsweise in den USA – dank der sozialstaatlichen Rahmenbedingungen vieles weiterhin nicht über Tarifverträge regeln.“

Auf anderen Gebieten ist die staatliche Regulierung jedoch nicht so umfassend, merkt Behrens an: So gibt es in Deutschland keinen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. Das ist in Europa inzwischen eher die Ausnahme: 21 von 28 EU-Ländern setzen eine allgemeine Lohnuntergrenze. Auch die Allgemeinverbindlicherklärung, die einen Tarifabschluss für alle Unternehmen einer Branche verbindlich macht, ist in Deutschland weitaus schwieriger als in den meisten westeuropäischen Staaten.

Während der vergangenen zwei Jahrzehnte haben die deutschen Arbeitsbeziehungen sich auf drei Gebieten verändert, analysiert der Wissenschaftler:

Europäisierung. Als Reaktion auf die zunehmende Internationalisierung von Unternehmen hat die Europäische Union zwei neue Institutionen geschaffen: die Europäischen Betriebsräte und die Europa-AG, bei der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat entsandt werden können. Im Vergleich zu deutschen Betriebsräten sind die Möglichkeiten ihrer europäischen Kollegen zur Mitbestimmung zwar begrenzt, merkt Behrens kritisch an, „dennoch leisten sie einen großen Beitrag dazu, den Beschäftigten in multinationalen Konzernen eine Stimme zu geben“.

Als weitaus problematischer ordnet der WSI-Forscher einen anderen Trend zur Europäisierung ein: den Konflikt zwischen den Grundrechten und den Grundfreiheiten der EU. Darunter versteht man den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr innerhalb des EU-Binnenmarktes. Verschiedene Urteile des Europäischen Gerichtshofs zu diesen vier Grundfreiheiten hätten mehrfach in die Grundrechte der EU-Bürger eingegriffen, zum Beispiel in das Streikrecht. Insgesamt forciere die EU-Kommission eine zunehmende Liberalisierung der Arbeitsbeziehungen auf nationaler Ebene, schreibt der Wissenschaftler.

Dezentralisierung. Bereits Mitte der 1980er-Jahre versah die IG Metall ihren Tarifabschluss zur 35-Stunden-Woche mit einer Öffnungsklausel: Erstmals konnten die betrieblichen Akteure vom Tarifvertrag abweichende Arbeitszeiten vereinbaren. Inzwischen sehen viele Abschlüsse Möglichkeiten zu einer Flexibilisierung von Arbeitszeiten oder Entgeltbestandteilen, aber auch Regelungen zum Erhalt von Arbeitsplätzen in Krisenzeiten vor. Damit ist bei Tarifverhandlungen ein Teil der Verhandlungsmacht auf die betrieblichen Akteure übergegangen, erläutert Behrens. Das erschwere jedoch die Etablierung einheitlicher Tarifstandards innerhalb einer Branche.

Neben dieser geordneten Dezentralisierung identifiziert der Wissenschaftler aber auch eine „wilde“ Form: Seit 1995 nimmt der Anteil der Beschäftigten ab, für die ein Tarifabschluss gilt. Denn die Arbeitgeberseite sei immer weniger dazu in der Lage, für eine gesamte Branche Tarifverträge abzuschließen. Nach der Deutschen Einheit hätten viele Unternehmen die Arbeitgeberverbände verlassen, weil sie unzufrieden mit deren Verhandlungsergebnissen waren, so Behrens. Auch neue Mitglieder ließen sich immer schwerer gewinnen. Viele Arbeitgeberverbände bieten daher inzwischen eine OT-Mitgliedschaft an – also ohne Tarifbindung.

Zunehmende Ungleichheit. In Deutschland waren bis zur Mitte der 1990er-Jahre die Abstände zwischen hohen und niedrigen Arbeitseinkommen relativ gering, zeigt Behrens auf. Er verwendet dazu das Verhältnis der Löhne und Gehälter des neunten, also zweithöchsten Zehntels zum ersten Zehntel, einen in der Verteilungsforschung gebräuchlichen Vergleichsmaßstab. Im Jahr 1989 verdiente das neunte Zehntel noch 2,84-mal so viel wie das erste Zehntel. Nur zehn Jahre später war es bereits das 3,44-Fache.

Eine genauere Untersuchung dieser Entwicklung ergibt, dass der wachsende Niedriglohnsektor eine entscheidende Rolle spielt, schreibt der WSI-Forscher. Als Hauptursachen dafür identifiziert er die abnehmende Tarifbindung und die Arbeitsmarktreformen, die zu einer massiven Ausweitung von atypischer Beschäftigung wie Minijobs oder Leiharbeit geführt haben.

In Deutschland seien die Arbeitseinkommen inzwischen ähnlich ungleich verteilt wie in Großbritannien, fasst Behrens zusammen. In einer wachsenden Anzahl an Branchen gebe es kaum noch wichtige Institutionen wie zum Beispiel Flächentarifverträge. Dennoch wiesen die deutschen Arbeitsbeziehungen immer noch einen stabilen Kern auf – gerade in exportorientierten Branchen wie der Automobil- oder der Chemieindustrie.

  • Insgesamt gelten für 53 Prozent aller Beschäftigten im Westen Branchentarifverträge. Im Osten sind es 36 Prozent. Zur Grafik
  • Große Betriebe haben besonders häufig Betriebsräte. Daher vertreten sie 43 Prozent aller Beschäftigten im Westen und 36 Prozent im Osten – obwohl es sie nur in neun Prozent aller Betriebe gibt. Zur Grafik

Martin Behrens: Employment regulation in national contexts – Germany, in: Carola Frege, John Kelly: Comparative Employment Relations in the Global Economy, Routledge, London/New York 2013

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