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Magazin Mitbestimmung

: INTERVIEW 'Das ist ein Dauerskandal'

Ausgabe 01+02/2006

Ein Viertel der nachwachsenden Generation verlässt in Deutschland jedes Jahr die Schule, ohne mit einem Mindestmaß an Kompetenzen ausgestattet zu sein. Was muss sich ändern?, fragen wir Prof. Jutta Allmendinger, Direktorin des IAB der Bundesagentur.


Mit Jutta Allmendinger sprachen in Nürnberg Cornelia Girndt und Birgit Böhret.

Frau Allmendinger, als Soziologin haben Sie nachdrücklich auf ein neues Phänomen aufmerksam gemacht und dieses als "Bildungsarmut" bezeichnet. Wer gehört denn in Deutschland zu den Bildungsarmen?
Als bildungsarm bezeichne ich alle Menschen, die keinen Hauptschulabschluss, keinen beruflichen Abschluss und auch keine berufliche Ausbildung haben - also über kein "Zertifikat" ihrer Qualifikation verfügen. Dank PISA haben wir noch ein zweites Kriterium, die Kompetenzarmut. Die Fähigkeiten dieser Jugendlichen liegen unterhalb oder auf der Kompetenzstufe eins, also im Bereich der Risikogruppe oder des "funktionalen Analphabetismus". Sie können also beispielsweise lesen, aber verstehen das Gelesene nicht richtig.

Wie weit verbreitet ist denn diese Bildungsarmut?
Nach der PISA-Studie 2003 liegt der Anteil der Kompetenzarmen in Deutschland bei 23 Prozent. Das ist ein Skandal. Damit liegen wir an der Spitze der Vergleichsländer. Außerdem verlassen in Deutschland jedes Jahr rund zehn Prozent der Hauptschüler ohne Abschluss die Schule. Und das ist seit 15 Jahren so - und es kumuliert sich Jahr für Jahr!

Dann addiert sich das zu einem Drittel der Bevölkerung?
Ganz so weit geht es nicht, weil die beiden Gruppen ein Stück weit überlappen. Vier Fünftel der Kompetenzarmen bekommen von ihren Lehrern bescheinigt, dass sie den Hauptschulabschluss erreichen können. Trotzdem: Knapp ein Viertel unseres Nachwuchses verlässt jedes Jahr die Schule mit nicht im Mindesten ausreichenden Kompetenzen und Zertifikaten, jedenfalls gemessen daran, was eine Wissensgesellschaft und eine hoch entwickelte Arbeitswelt immer mehr erfordern.

Gibt es nicht immer eine gewisse Zahl von Jugendlichen, die halt "einfach nicht mitkommen"?
Da sage ich nein! Bildungsarmut muss nichts mit den kognitiven oder genetischen Anlagen zu tun haben. Das deutsche Bildungssystem ist so angelegt, dass es viele Kinder nicht mitkommen lässt - insbesondere Kinder aus Migrations- und bildungsschwachen Familien. Andere Länder kriegen das ja geregelt. Bei uns ist Bildungsarmut also institutionell erzeugt und lässt kaum Rückschlüsse auf das zu, was die Menschen könnten, wenn man ihnen andere Möglichkeiten bieten würde.

Aber wir haben doch seit den 70er Jahren eine Bildungsexpansion erlebt. Warum müssen wir heute erneut über Chancengerechtigkeit diskutieren?
In Deutschland wird vor allem in die höhere Bildung und in die Hochschulen investiert. Ich frage mich, ob wir es uns angesichts der demografischen Entwicklung leisten können, die Mittel auf die Spitzenförderung zu konzentrieren, oder ob wir nicht vorrangig die Bildungsarmut bekämpfen müssten, um erst einmal die Fundamente zu legen.

Können die Bildungsinstitutionen wirklich ausgleichen, was vielfach die Familie nicht mehr leistet?
Wir haben uns in Deutschland sehr lang an einem "Gesellschaftsvertrag" orientiert, nach dem der Mann der Ernährer der Familie ist. Bei uns hat die Erwerbstätigkeit von Frauen im internationalen Vergleich relativ spät zugenommen, und so gab es keinen gesellschaftlichen Druck auf Ganztagsschulen oder mehr Kindergärten. Jetzt steigt zwar die Frauenerwerbstätigkeit, aber wir haben nicht parallel für einen begleitenden Unterricht am Nachmittag gesorgt.

Was muss geschehen?
Wir brauchen Vorschulen und Ganztagsschulen mit pädagogischer Begleitung, so dass auch Sozialarbeiter in der Schule jene Kinder mit Problemen erkennen - das kann alles Mögliche sein, Spätentwicklungen, Ehekrisen oder Alkoholprobleme der Eltern.

Sind wir dank PISA wachgerüttelt worden?
Diese internationalen Vergleiche haben am Ansehen einer Nation, die sich als "Kulturnation" sieht, erheblich gekratzt. Auf einmal sehen wir, was für ein niedriges Bildungsniveau Deutschland im Durchschnitt hat. Und wir stellen zudem fest, dass soziale Herkunft in anderen Ländern nicht in dem Maße vererbt wird wie bei uns. Außerdem ist der Abstand zwischen dem besten und dem schlechtesten Schüler in Deutschland riesig. Hier müssen wir ansetzen, das ist eine ganz große Chance zur Veränderung des deutschen Bildungssystems.

Mittlerweile sind rund eine halbe Million Jugendliche in berufsvorbereitenden Maßnahmen. Ein Drittel der Ausgaben der Bundesagentur für aktive Arbeitsmarktpolitik geht bereits an Jugendliche. Fangen heute die "Maßnahmekarrieren" immer früher an?
Die Maßnahmen der Bundesagentur holen die Jugendlichen wenigstens von der Straße. Das ist auf jeden Fall besser, als nichts zu tun. Brennende Autos und Revolten wie in Frankreich halte ich auch bei uns für denkbar. Ich kritisiere zwei Dinge: Eigentlich wird oft keine Berufs-, sondern eine Ausbildungsvorbereitung gemacht. Daher dürften diese Programme nicht beitragsfinanziert sein, sondern sie müssten steuerfinanziert werden. Und ich kritisiere, dass hier eigentlich nachgebessert wird. Wer so spät ansetzt, muss sich nicht wundern, wenn das wenig effizient ausfällt.

Wie müsste man umsteuern?
Wir können diese mehr als zwei Milliarden Euro, die von der Bundesagentur für nachbessernde Maßnahmen ausgegeben werden, nicht plötzlich herausziehen. Wir brauchen noch eine Zeit lang eine Doppelstrategie, weil wir für die halbe Million arbeitsloser Jugendlicher etwas tun müssen. Gleichzeitig müssen wir dieses Geld Schritt für Schritt umleiten und für eine frühere Förderung der Kinder einsetzen. Die muss schon im Kindergarten beginnen. Dann wird auch der spätere Reparaturbetrieb billiger sein.

Kann frühe Förderung Bildungsarmut generell verhindern und damit Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe verbessern?
Das liegt doch auf der Hand. Alle pädagogischen Disziplinen sagen: Früh einzugreifen ist der effizientere Weg. Nicht erst bei den 16- oder 17-Jährigen anfangen, wenn sich die Demotivation schon strukturell bei diesen Menschen verfestigt oder sich völlige Desillusionierung darüber breit gemacht hat, was im Erwerbsleben erreichbar ist.

Wird das nicht durch die "Warteschleifen" in den Maßnahmen noch befördert?
Wir arbeiten daran, dass in den ausbildungsvorbereitenden Maßnahmen schon erste Teilqualifizierungen enthalten sind und diese zertifiziert werden. Die können dann später in einer Lehre anerkannt und angerechnet werden. Problematisch ist, dass die Jugendlichen immer älter werden, weil sie immer weniger zügig nach dem Schulabschluss eine Ausbildung im dualen System machen. Die meisten überbrücken einen Zeitraum von ein bis drei Jahren.

Könnte man diese Maßnahmen nicht zu regulären schulischen Alternativen machen? Der Hauptgrund ist doch, dass Ausbildungsplätze fehlen.
Wir sollten das Problem nicht unterschätzen. Viele dieser Jugendlichen sind 16 Jahre lang ganz im Stich gelassen worden. Sie müssen Basisfähigkeiten erst lernen. Das ist hart. Es geht nicht nur darum, dass diese Jugendlichen jetzt irgendwelche Matheaufgaben lösen können. Es geht auch darum, dass sie morgens aufstehen und abends rechtzeitig ins Bett gehen, dass sie überhaupt Kooperation lernen und was es heißt, sozial integriert zu leben. Viele von diesen Jugendlichen bekommen von ihren Eltern gesagt: "Was soll denn der ganze Unfug? Hol dir dein Arbeitslosengeld, das bringt dich über die Runden." Hier muss man sorgfältig vorgehen - wir können die Kinder ja auch nicht einfach aus diesen Elternhäusern rausholen.

Kann das duale System überhaupt noch das Referenzmodell sein, auf das alle hin qualifiziert werden?
Die Verbindung zwischen Theorie und Praxis halte ich für wesentlich besser als das angelsächsische On-the-Job-Training. Gerade für ein Hochlohnland wie Deutschland, das auf solide und hohe Qualifikationen angewiesen bleibt, ist das duale System der Berufsbildung absolut erhaltenswert. Dies gilt im Übrigen auch für unser umfangreiches schulisches Ausbildungssystem und unsere Berufsakademien.

Aber die Rechnung geht nicht auf. Rund eine Million Jugendliche haben keinen regulären Ausbildungsplatz.
Sie geht nicht auf, weil wir schon auf einem so hohen Sockel von Bildungsarmut sitzen. In Deutschland sind zu wenige junge Menschen mit den notwendigen Kompetenzen ausgestattet, um in eine berufliche Ausbildung hineinzukommen.

Sie halten das also für ein Angebotsproblem? Vielfach wird ja die mangelnde Ausbildungsreife beklagt.
Auch ich habe es lange Zeit für eine Ausrede der Unternehmen gehalten, wenn es hieß, "die Bewerber um Ausbildungsplätze bringen nicht die notwendigen Qualifikationen mit". Aber ich habe mich da in der Praxis eines Besseren belehren lassen. Die Personalabteilungen können mit den Einstellungstests, die sie Jahr für Jahr gemacht haben, gut dokumentieren, in welchem Ausmaß die Jugendlichen Kompetenz verloren haben.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit der Eltern und Kompetenzarmut bei den Kindern?
Wir wissen, dass die Kinder von langzeitarbeitslosen Eltern wesentlich schlechtere Chancen im Bildungssystem haben. Was diese Eltern überhaupt an ihre Kinder weitergeben, das untersuchen wir gerade am IAB. Ich mache den Eltern keine Vorwürfe, ich mache den Kindern keine Vorwürfe. Hier muss der Staat handeln.

Nur der Staat?
Wir brauchen einen nationalen Pakt von Wirtschaft und Staat. Langfristig werden wir einen Mangel an Facharbeitern haben. Deshalb muss es im Interesse des Staates wie der Unternehmen liegen, einen großen Teil dieser jetzt bildungsarmen jungen Menschen so fit zu machen, dass sie zumindest einen Facharbeiterabschluss schaffen - oder sogar das Abitur.

Was wäre das Ziel?
Wir können es schaffen, diese knapp 25 Prozent kompetenzarmer junger Menschen - durch frühe Förderung - mittel- bis langfristig auf fünf Prozent zu reduzieren. Das ist ja in Finnland auch möglich. Und selbst Österreich und die Schweiz bekommen das besser hin als wir. Es gibt doch keinen Grund, warum nur die Deutschen dümmer sein sollten.

 

Zur Person
Jutta Allmendinger, 49, ist Professorin für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und seit Anfang 2003 Direktorin des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg, einer Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit. Zu Allmendingers wissenschaftlichen Schwerpunkten zählen Bildungssoziologie, soziale Ungleichheit, Organisationssoziologie und Soziologie des Lebensverlaufs.

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