Ostdeutschland: Zum Gelingen verdammt
In den ostdeutschen Bundesländern hängt jeder vierte Industriearbeitsplatz unmittelbar oder mittelbar an der Autoindustrie. Noch läuft das Geschäft. Von Fabienne Melzer
Ein solcher Satz fällt derzeit selten in den Hallen deutscher Autohersteller: „Uns geht es gut.“ Jens Köhler, Betriebsratsvorsitzender bei BMW in Leipzig, sagt diesen Satz und schiebt dann hinterher: „Wir schlagen uns noch ganz wacker.“ In der Konzernzentrale in München machen sich die geoökonomischen Jens Köhler, Betriebsrats vorsitzender bei BMW in Leipzig, sagt: „Noch schlagen wir uns wacker.“ Verschiebungen zwar inzwischen bemerkbar, sagt Köhler, „aber hier in Leipzig merken wir das noch nicht. Zurzeit fahren wir in der Montage eine dritte Schicht. Das gab es noch nie.“
Die Leipziger Erfolgsgeschichte begann 2005 mit einem Neubau. Ursprünglich hatte BMW mit 2500 Beschäftigten geplant, inzwischen arbeiten hier 11 500 Menschen. Das Werk produzierte den i3, ein reines Elektrofahrzeug. Zwischen 2013 und 2022 rollten in Leipzig 250 000 davon vom Band. „Wir haben viel gelernt in dieser Zeit“, sagt Köhler. „Wie arbeitet eine Batterie im Laufe eines Lebenszyklus? Wie funktioniert sie im Sommer, wie im Winter?“ Seit gut einem Jahr produziert Leipzig den Mini Countryman auch vollelektrisch.
Es sind Werke wie das von BMW in Leipzig, die Christoph Hahn vom IG Metall-Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen meint, wenn er von den modernsten Standorten der Konzerne spricht. „Ostdeutschland ist in den vergangenen drei Jahrzehnten zu einem bedeutenden Autostandort vor allem für Elektromobilität gewachsen“, sagt Hahn. Es entstanden neue Werke, neben BMW das von Porsche in Leipzig. VW stellte sein Werk in Zwickau ab 2018 mit rund einer Milliarde Euro auf reine Produktion für Elektroautos um. Mit Tesla kam erst kürzlich ein weiterer Hersteller reiner Elektrofahrzeuge nach Ostdeutschland. Bei aller notwendigen Kritik an den Arbeitsbedingungen bei Tesla, habe die IG Metall die Ansiedlung immer begrüßt. „Uns wurde immer erzählt, in Deutschland kann man kein neues Autowerk bauen. Das sei viel zu teuer“, sagt Hahn. „Und dann kommt ein amerikanischer Konzern und baut ein neues Werk in Brandenburg.“
Die Autoindustrie spielt im Osten des Landes eine wichtige Rolle. Hier hängt jeder vierte Industriearbeitsplatz mittelbar oder unmittelbar an der Autoindustrie. Der größte Teil konzentriert sich auf Sachsen mit 51 Prozent, gefolgt von Brandenburg mit 21 Prozent. „Die Autoindustrie ist der industrielle Kern Ostdeutschlands“, sagt Hahn. Doch der industrielle Kern steckt im Umbruch. Bei vielen Menschen weckt das Erinnerungen an die Wende. „Was die Menschen in den 1990er Jahren in Ostdeutschland erlebt haben, darf sich nicht wiederholen“, sagt Hahn. „Deshalb sind wir zum Gelingen dieser Transformation verdammt.“ Einen Baustein haben sie dafür unter der Regierung Merkel gelegt und drei Transformationsnetzwerke gegründet. Darin haben sich IG Metall, Arbeitgeberverbände, Wissenschaft und Politik zusammengeschlossen, um die Fahrzeugindustrie in der Region fit zu machen. Vor allem Zulieferern fehlen oft noch Zukunftsprodukte. „Da sind wir noch nicht über die Ziellinie“, sagt Hahn.
Bei ZF Brandenburg haben sie sich schon vor fünf Jahren auf die Suche nach Zukunftsprodukten gemacht. Mit Corona kam der große Einbruch. Zum ersten Mal spürten sie auch in Brandenburg, was Krise heißt. Ein Zukunftstarifvertrag schloss betriebsbedingte Kündigungen aus. Dafür sollte jeder Standort nach neuen Produkten suchen. In Workshops sammelte der Betriebsrat die Ideen der Beschäftigten. Sandro Hoffmann, Betriebsratsvorsitzender bei ZF Brandenburg, zählte rund 600 Vorschläge. „Das war ein sehr bunter Ideenstrauß“, sagt Hoffmann schmunzelnd, „und einige vielversprechende Sachen.“ Im Moment läuft der Betrieb mit dem Bau von Getrieben für Premiumhersteller noch ganz gut. Für die nächsten zwei, drei Jahre dürfte es noch reichen, schätzt Sandro Hoffmann. „Aber um unsere Zukunft müssen wir uns selber kümmern. Da kommt kein weißer Ritter auf seinem Pferd und rettet uns.“
Deshalb geht bei ZF Brandenburg die Suche nach Zukunftsprodukten weiter. „Zukunftsfabrik“ nennen sie ihr gemeinsames Projekt mit dem Arbeitgeber analog zu „ZF“. Mit professioneller Hilfe haben sie Kontakte in die Wirtschaft geknüpft, und die Universität St. Gallen berät sie bei der Suche. Robert Pastor, Hoffmanns Stellvertreter, verbringt viel Zeit auf Messen und besucht mögliche Partnerunternehmen. „Local for local“ heißt die Devise, und Pastor sagt: „Es lohnt sich, hier in unserer Region zu schauen.“
Der Betriebsrat und die lokale Geschäftsführung denken in drei Schritten: Im ersten soll das eigene Fertigungsportfolio erweitert werden, im zweiten sollen Kaufteile reingeholt werden, und im dritten geht es um eine strategische Geschäftsfeldentwicklung. Im Moment zeichnen sich zwei Projekte in Richtung Energiesektor ab. Wichtig ist Pastor, die Beschäftigten regelmäßig zu informieren, damit alle am Ball bleiben. Pastor ist verhalten optimistisch, denn selbst wenn eines der Projekte funktioniert, bleibt eine Hürde: „Am Ende haben wir im Konzern nicht die Freiheit, über Investitionen zu entscheiden.“
Wir werden schrumpfen. Die Frage ist, wie weit.“
Hier sieht Christoph Hahn ein Problem vieler ostdeutscher Standorte: „Wir sind die berühmtberüchtigten verlängerten Werkbänke. Geforscht und entwickelt wird in Wolfsburg, Ingolstadt und Stuttgart, und in Leipzig, Chemnitz und Zwickau wird zusammengebaut.“ Deshalb hätten ostdeutsche Werke bei der Suche nach einem Zukunftsprodukt oftmals nicht die besten Karten. Oder müssen zumindest hart darum kämpfen, wie die Belegschaft des Mercedes-Benz-Werks in Berlin-Marienfelde. 2020 stand es kurz vor dem Aus. Der Konzern wollte nicht mehr in die Motorenproduktion in Marienfelde investieren. 14 Monate lang kämpften Belegschaft und Betriebsrat mit der IG Metall um ihren Standort und konnten schließlich eine Neuausrichtung erreichen. Das älteste und kleinste Werk im Konzern – es wurde 1902 gegründet – produziert jetzt Komponenten für E-Drive-Systeme, und auf dem Gelände entstand der Digital Factory Campus. Hier werden Softwareapplikationen entwickelt und die Digitalisierung der Produktion getestet.
Dennoch sorgt sich Fevzi Sikar, Betriebsratsvorsitzender bei Mercedes-Benz in Marienfelde, um den Standort. Zwar kann er sich vorstellen, dass sie in Berlin die Experten für den Axialflux-Motor, eine neue Generation der Elektromotoren, werden, aber das reiche nicht. „Die Produktion der verstellbaren Nockenwelle läuft in zwei Jahren aus. Dafür brauchen wir Ersatz“, sagt Sikar. Die Zahl der Beschäftigten sei bereits von 2350 auf 1900 gesunken. Wenn die E-Mobilität weiter nur schleppend anlaufe, könnte sie weiter sinken. „Wir werden schrumpfen“, sagt Sikar. „Die Frage ist, wie weit.“ Rutsche die Beschäftigtenzahl unter 1400, könne doch noch die Schließung drohen. Deshalb kämpfen sie in Berlin um weitere Produkte für den Standort, denn Pessimismus liegt Sikar fern: „Wo seit über 100 Jahren Autos entwickelt wurden, vertraue ich darauf, dass wir auch in Zukunft Autos weiterentwickeln werden.“ Auch wenn es bei BMW in Leipzig derzeit gut läuft, die Frage nach den nächsten Produkten beschäftigt auch Betriebsrat Jens Köhler. So gebe es noch keine E-Strategie für den BMW 1 und 2, die derzeit in Leipzig gebaut werden. Zwar komme Ende des Jahres eine neue Batteriegeneration, aber sie sei immer noch zu teuer für kleinere Fahrzeuge. „Zwei Jahre wird es bei uns noch laufen, dann brauchen wir Entscheidungen für elektrische Nachfolgeprodukte“, sagt Köhler. „Aber wir brauchen generell noch Zeit für die Transformation.
Gerade für die Elektromobilität habe Ostdeutschland viel zu bieten, findet Christoph Hahn von der IG Metall. „Wir sind beim Ausbau der erneuerbaren Energien weit vorangekommen und verfügen über Zukunftstechnologien.“ Rund um Dresden findet sich das Zentrum der europäischen Halbleiterindustrie, Berlin ist Digitalisierungshauptstadt und Jena ein Zentrum für Sensorik.
Vor allem bei der Kreislaufwirtschaft sieht Hahn für die deutschen Hersteller große Chancen: „Ich glaube, die Zeit ist vorbei, in der Autos auf dem Schrottplatz zusammengepresst werden.“ Zukünftig dürfte viel mehr wiederverwertet werden. Das verändere aber auch die Produktion. Jedes Fahrzeug müsste dann so gebaut werden, dass am Ende alle Teile wieder auseinandergebaut werden können. Auch wenn Autos zukünftig fahrende Smartphones sind, sollten sie nicht an allen Ecken klappern und auch mit 180 Stundenkilometern sicher über die Autobahn fahren, findet Hahn. „Einige Teile werden sich nicht verändern und auch zukünftig in guter Qualität gebraucht.“
Das regionale Transformationsnetzwerk (ReTraNetz-BB), dem auch die IG Metall Berlin-Brandenburg-Sachsen angehört, hat eine Studie zur Lage der ostdeutschen Autoindustrie veröffentlicht: „Die Automotive Industrie in Ostdeutschland – Struktur, Verflechtungen, Potenziale“ (kostenloser Download).