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Illustration zum Thema Gesundheitssektor Magazin Mitbestimmung

Gesetzgebung: Nach der Revolution ist vor der Revolution

Ausgabe 04/2023

Schon 2004 antwortete der Wirtschaftswissenschaftler Bert Rürup auf die Frage, ob das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) denn nun die Lösung aller Probleme sei: „Nach der Reform ist vor der Reform.“ von Fabienne Melzer

Jetzt also eine Revolution. Die kündigte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach im vergangenen Jahr für die Krankenhäuser zumindest an. Mit einem Mix aus Vorhalte- und Fallpauschale soll die stationäre Versorgung endlich besser werden. Allerdings gab es in den zurückliegenden 35 Jahren keine Gesetzesänderung, die nicht versprach, das
Gesundheitssystem auf eine solide Finanzbasis zu stellen und die Menschen optimal zu versorgen. Die Geschichte umfasst fast 40 Reformen und reicht vom Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz 1977 über das GKV-Modernisierungsgesetz 2004 bis zum Pflegepersonalstärkungsgesetz 2019 und der nun angekündigten Krankenhausreform, mit der es den Fallpauschalen, der Ursache vieler Missstände, an den Kragen gehen soll.

Dabei wollte die rot-grüne Bundesregierung mit dem Fallpauschalengesetz 2003 die Qualität der Behandlung in Krankenhäusern verbessern. Da Kliniken bis dahin Tagessätze abrechneten, verdienten sie gut an langen Liegezeiten. So blieben Menschen oft länger im Krankenhaus, als es für ihre Gesundheit unbedingt gut war. Mit den Fallpauschalen sank zwar die Liegezeit im Krankenhaus, gleichzeitig stieg die Zahl der Eingriffe, die sich gut planen lassen. Beispiel Knieoperation: Zwischen 2005 und 2019 wuchs die Zahl der eingesetzten künstlichen Kniegelenke um 50 Prozent, was nur zu einem Teil mit der alternden Bevölkerung erklärt werden kann.

Alexander Braun, Professor für Gesundheitsökonomie an der Fachhochschule im österreichischen Krems, nennt es das Problem der Mengenhonorare. Sie begrenzen die Ausgaben für den einzelnen Fall, schaffen aber Anreize, mehr Fälle zu  generieren. „Die Krankenkassen haben daraufhin die Kontrollen erhöht und die Fallzahlen geprüft“, sagt Braun. „Aber am eigentlichen Problem hat es nichts geändert.“ Der Gesundheitsökonom kennt das Geschäft der Versicherungen. 2004 machte er eine Ausbildung bei der AOK. Es war die Zeit der großen Reformen. Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz
erhöhte die rot-grüne Bundesregierung 2004 Zuzahlungen zu Medikamenten, strich Leistungen wie den Zuschuss zur Brille und führte die Praxisgebühr ein, die 2013 von der Großen Koalition aufgrund von Wirkungslosigkeit ersatzlos gestrichen wurde. „Es gab damals eine Höchstgrenze für Zuzahlungen, das mussten wir bei der Krankenkasse rauf und
runter rechnen“, erinnert sich Braun. „Das war nicht der Beruf, den ich machen wollte.“ Daher holte er sein Abitur nach und studierte mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung.

Als Gesundheitsökonom tut sich Braun mit dem Begriff der Entökonomisierung schwer. „Jeder sagt: Der Patient steht im Mittelpunkt. Aber ich brauche Geld, um dem Patienten gerecht zu werden.“ Deshalb ist er durchaus dafür, die Mittel im System zu steuern. Auch Kosten reduzieren ist für ihn kein Teufelszeug. „Eine überflüssige Knieoperation verursacht Kosten, die ich sparen kann. Dazu müssen aber Fehlanreize beseitigt werden. Solange die Knieoperation Gewinn bringt und ich damit die Gynäkologie querfinanzieren kann, besteht die Gefahr, dass Gelenke unnötigerweise operiert werden.“

Ökonomischer Anreiz bleibt

Doch auch nach Lauterbachs Krankenhausreform richten sich die Einnahmen unter anderem nach der Zahl der Fälle, wie Jennie Auffenberg, Gesundheitsreferentin der Arbeitnehmerkammer Bremen, in den WSI-Mitteilungen (2/2023) schreibt. Damit setzt auch sie einen Anreiz zur Mengenausweitung aus ökonomischer und nicht aus medizinischer Sicht. Der größte Haken der Reform sei aber, dass sie die Finanzierungsgrundlage der Krankenhäuser nicht ändere. Der Mangel werde nur anders verteilt. Auch für Sylvia Bühler, Bundesvorstandsmitglied der Gewerkschaft Verdi, hängt der Erfolg an den Finanzen: „Für die anstehende Krankenhausreform braucht es wie in jedem Transformationsprozess erst einmal mehr Geld, nicht weniger. Eine gute Gesundheitsversorgung darf nicht am Bundesfinanzminister scheitern“, sagt Bühler.

In der angekündigten Revolution von Gesundheitsminister Lauterbach sieht Thomas Gerlinger, Professor für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld, aber auch ein Eingeständnis: „Wenn die Regierung sagt, wir brauchen Qualitätsstufen für die Krankenhäuser, für die der Staat zuständig ist, sagt sie auch, die Fallpauschalen sind gescheitert.“ Den Reformbedarf des Gesundheitssytems hat er in einer von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie unter die Lupe genommen. Er sieht vor allem zwei Fehler im System: „Neoliberale Glaubenssätze verstärken die Probleme des Gesundheitssystems, und es gibt jede Menge sehr mächtige Partikularinteressen, die sich bei jeder Reform Gehör verschaffen.“

So hat der Wettbewerb der Krankenkassen vor allem zu einem Wettbewerb um die gesunden Gutverdiener unter den Versicherten geführt. Die Fallpauschalen hätten nicht nur unnötige Operationen befördert, sondern auch den  Pflegenotstand ausgelöst. „Kosten für Pflege waren darin nicht berücksichtigt“, sagt Gerlinger. „In der Folge blieb die Zahl der Vollzeitäquivalente in der Pflege seit den 1990er Jahren relativ konstant – bei gleichzeitig steigenden Fallzahlen.“
Gerlinger wundert es daher nicht, dass der Beruf immer weniger Nachwuchs findet.

Gute Arbeitsbedingungen in der Pflege seien ein wichtiger Schlüssel zu einem funktionierenden Gesundheitssystem. Das werde ohne mehr Geld aber nicht gehen. Gerlinger sieht zwei Möglichkeiten, das System zu finanzieren: durch eine Bürgerversicherung, für die es derzeit keine politische Mehrheit gibt, oder durch Steuerzuschüsse, doch da steht die schwarze Null vor.

Gesundheitsökonom Braun weist noch auf andere Gründe hin, warum im System Geld fehlt: „Die Einnahmebasis ist in den vergangenen Jahrzehnten erodiert, weil die Politik den Niedriglohnsektor ausgebaut und Sozialausgaben reduziert hat.“ Zudem sei die Gesundheit von Menschen keine rein betriebswirtschaftliche Frage. Es gehe auch um Fortschritt, der Menschenleben rettet. Und der koste nun mal. „Wollen wir eine Gesellschaft, die sich um Schwache kümmert, oder eine, die Lobbyinteressen vertritt?“, fragt Braun.

Hand in Hand arbeiten

Pflege und Medizin müssen nicht nur ein einzelnes Organ oder ein Körperteil behandeln, sondern einen Menschen. Braun weist auf Forschungsergebnisse hin, dass sich kranke Menschen besser erholen, wenn ihr Arzt sich einfühlsam zeigt. Ein funktionierendes Gesundheitssystem orientiere sich daher am Patienten, definiere gemeinsam mit ihm  Behandlungsziele.

Doch dafür müssten die verschiedenen Teile öfter Hand in Hand arbeiten. „Die Versorgung sollte von den verschiedenen Bereichen untereinander abgestimmt werden. Das funktioniert aber nicht, wenn die Systeme völlig getrennt voneinander arbeiten“, sagt der Bielefelder Wissenschaftler Gerlinger. Denn für die ambulante Versorgung sind die kassenärztlichen Vereinigungen und für die Krankenhäuser die Länder zuständig. Solche gewachsenen Strukturen ließen sich nur schwer wieder aus der Welt schaffen. Daher fragt sich Gerlinger, wie man von diesen Strukturen zu besseren Verhältnissen kommt.

Gesundheitskioske, wie sie die Ampel plant, könnten ein Weg sein. Der Begriff beschreibt ein Angebot, das die Grundversorgung der Gesundheit und die Sozialfürsorge vereint, wo die erste Anlaufstelle eine Pflegekraft und ein Sozialarbeiter sein könnten. Denn oft hängen gesundheitliche Probleme mit sozialen Problemen zusammen. Gerlinger ist überzeugt, dass eine multiprofessionelle Zusammenarbeit in solchen Kiosken die Versorgung deutlich verbessern würde. Allerdings müssten hier ebenfalls verschiedene Systeme zusammengeführt werden – auch finanziell. Angesichts des Pflegekräftemangels dürften Gesundheitskioske allerdings bis auf Weiteres eine nette Idee bleiben.

So schnell wird sich das Versprechen einer guten medizinischen Versorgung auf gesicherter finanzieller Basis nicht erfüllen. Experten sind sich daher einig: Das eine Gesetz, das alle Probleme löst, wird es nicht geben. Gesundheitspolitik bleibt ein ständiges Drehen an vielen kleinen Stellschrauben.

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