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Porträt Gesundheitsminister Karl Lauterbach Magazin Mitbestimmung

Krankenhäuser: „Jede Klinik zu erhalten, macht medizinisch keinen Sinn“

Ausgabe 04/2023

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach über sein schwierigstes Reformwerk, sein Verhältnis zur Gewerkschaft Verdi und seine Herkunft aus einer Arbeiterfamilie. Das Gespräch führten Kay Meiners und Andreas Molitor

Herr Minister, vor dreißig Jahren gab es in Deutschland rund 2400 Krankenhäuser, heute noch 1700. Hatten Sie damals den Eindruck, dass Deutschland überversorgt war?

Solche Zahlenvergleiche machen gar keinen Sinn. Viele Behandlungen, die damals stationär durchgeführt wurden, werden heute ambulant gemacht – und zwar mit besseren Ergebnissen. Auch in den Fällen, in denen nach wie vor stationär behandelt wird, bleibt man nicht mehr so lange im Krankenhaus wie früher. Wir reden über eine ganz andere Medizin als vor 30 Jahren. 

Viele Klinikdirektoren wissen derzeit angesichts steigender Kosten gar nicht, ob ihre Häuser den Beginn der Krankenhausreform Anfang nächsten Jahres noch erleben werden. Etlichen droht die Insolvenz. Darunter sind sicher auch gute und sehr gute Häuser. Was sagen Sie diesen Klinikdirektoren?

Dass es ohne die Reform für sie oft gar keine Perspektive gäbe. Mit der Reform erhalten viele Krankenhäuser, aber auch die Kommunen und die Länder, eine hervorragende Grundlage, ihre Investitionsentscheidungen so zu treffen, dass die Häuser unterstützt werden. Die Häuser, die wir brauchen, werden überleben.

Was macht Sie da so sicher?

Die Fallpauschalen, nach denen bisher mit den Krankenkassen abgerechnet wird, werden nur noch 40 Prozent der Vergütung ausmachen. 60 Prozent werden sogenannte Vorhaltepauschalen sein – Geld also für das Angebot der Leistungen. Dieses Geld ist quasi eine Existenzgarantie gerade für die kleinen Häuser, die erhalten bleiben sollen. Sie bekommen das Geld auch dann, wenn ihre Fallzahlen niedrig sind.

Seit Wochen gibt es, vor allem von den Ländern, Rufe nach Nothilfen für die Kliniken. Zur Abwehr steigender Energiepreise wurden 200 Milliarden Euro bereitgestellt – der „Doppel-Wumms“. Jetzt, wo es um die Krankenhäuser geht, sagen Sie, dass es kein Geld gibt.

Ich habe nicht gesagt, dass es kein Geld gibt, sondern dass die Länder sich wenig Hoffnung machen können, dass wir noch mehr Mittel aus dem Bundeshaushalt zur Verfügung stellen können. Der Bund hat im vergangenen Jahr angesichts des Ukraine-Krieges und der Energieproblematik neben den Preisbremsen für Gas, Strom und Wärme ein ergänzendes Hilfsprogramm aufgesetzt, das für Krankenhäuser einen Ausgleich von energiebedingten Mehrkosten von bis zu 6 Milliarden Euro vorsieht – das ist keine Kleinigkeit. Wir können dennoch nicht jedes Krankenhaus erhalten, das derzeit am Netz ist. Viele Länder haben sich aber bereit erklärt, die Krankenhäuser zu unterstützen. Allein Nordrhein-Westfalen will 2,5 Milliarden zur Verfügung stellen. Ich glaube nicht, dass viele wirklich bedarfsgerechte Krankenhäuser in die Insolvenz gehen.

Die Gewerkschaft Verdi fordert, keine Klinik dürfe aus akuter wirtschaftlicher Not geschlossen werden, solange die Reform nicht umgesetzt sei. Sie würden das also nicht unterschreiben? 

Ich kann den Wunsch verstehen, dass jedes einzelne Krankenhaus am Netz bleiben soll. Das macht aber medizinisch schlicht keinen Sinn, weil wir nicht genug Pflegepersonal und auch nicht genug Ärzte und anderes Fachpersonal haben, um sämtliche 1719 Krankenhäuser auf qualitativ hochwertigem Niveau betreiben zu können. Eine Konzentration ist also notwendig, um die Qualität zu erhalten.

Was wird getan, damit nicht vor der gesteuerten Konzentration die große Pleitewelle kommt?

Die Krankenkassen müssen die Pflegekosten der Krankenhäuser schneller erstatten. Es gab zuletzt hohe Tarifabschlüsse in der Pflege – die richtig sind. Wenn die Tarife aber stark steigen und die Pflegekosten erst mit großem Zeitverzug von den Krankenkassen bezahlt werden, entstehen Liquiditätsengpässe, die wir beheben müssen. Die Kliniken gehen hier bislang in Vorleistung. Dazu kommt die Inflation, die ebenfalls schneller von den Krankenkassen aufgefangen werden muss. In den Reform-Eckpunkten haben wir festgelegt, dass die Kassen schneller zahlen sollen.

Ein zentrales Element der Reform ist es, die Kliniken in Versorgungs-Level einzuteilen und sie Leistungsgruppen zuzuweisen, die gewährleisten, dass bestimmte Leistungen in guter Qualität erbracht werden. Woher stammen eigentlich diese Ideen? Haben Sie in anderen Ländern nach Blaupausen gesucht?

Es gibt zwar Einteilungen in skandinavischen Ländern, aber die waren für mich nicht sonderlich relevant, da es für solch eine umfassende Reform in Deutschland keine Blaupause geben kann. Wichtiger war für mich die Vorarbeit unserer Regierungskommission Krankenhaus.

Welchen Nutzen hat denn die Einteilung in Leistungsgruppen für die Patienten?

Wenn ich als Patient sehe, dass eine Klinik beispielsweise die Leistungsgruppe Urologie gar nicht ausweist, ist das schon mal eine wichtige Information. Wenn ich dann sehe, dass eine Klinik fünf Kilometer weiter die Leistungsgruppe Urologie ausweisen kann und die dahinterstehenden Qualitätsanforderungen vorweist, dann sind das wichtige Indizien, dass man als Patient dort auf ein erfahrenes Team trifft und gut behandelt wird.

Wenn eine Klinik, die für eine Hüftoperation nicht qualifiziert ist, trotzdem solche Eingriffe durchführt und entsprechendes Fachpersonal bereithält, bekommt sie dafür kein Geld mehr?

Genau. Eine Klinik erhält nur dann die Vorhaltepauschale für Leistungen, wenn sie vorher vom Land die entsprechende Leistungsgruppe zugewiesen bekommen hat, weil sie die Qualitätskriterien erfüllt. Ist das nicht der Fall und die Klinik führt – wie in Ihrem Beispiel – trotzdem die Hüftoperation durch, gibt es dafür keine Vorhaltepauschale. Das ist schon ein scharfes Schwert.

Levels und Leistungsklassen – das klingt ein bisschen nach erster, zweiter und dritter Liga. Ein Patient wird vielleicht sagen: Das 50 Kilometer entfernte Universitätsklinikum ist ein Vollversorger mit allen Spezialdisziplinen – da möchte ich hin. Er geht also gar nicht erst in das nahegelegene Kreiskrankenhaus. Was will man gegen diesen psychologischen Effekt machen?

Unser Ziel ist, transparent darzustellen, wie groß eine Klinik ist und wie viele Abteilungen sie hat. Das interessiert viele Menschen. Bei mir melden sich viele Leute, Patienten und Ärzte, die eine Empfehlung für eine Klinik haben wollen. Für die Wahl des Krankenhauses spielen also schon heute die Größe und die Erfahrung eine Rolle. Mit einem Transparenzgesetz machen wir diese Informationen über eine interaktive Karte für jedermann leicht zugänglich. Wie oft werden die Eingriffe gemacht? Wie viel Personal hat die Einrichtung? Gibt es Abteilungen, die fachübergreifend kooperieren? Es ist zum Beispiel durchaus von Vorteil für die Wirbelsäulenchirurgie, wenn das Haus auch eine Abteilung für Neurologie hat.

Sie gehen so weit zu sagen, dass die Leute dumm gehalten wurden, damit auch weniger gute Krankenhäuser noch Patienten abbekommen?

Selbst in der Arbeitsgruppe der Länder habe ich häufig dieses Argument gehört: Wenn wir zu viele Informationen veröffentlichen, füllen sich die Häuser mit Qualitätsproblemen nicht, hieß es da. Da muss man doch fragen: Sollen sie sich denn füllen? Und mit wem? Lassen wir zu, dass es in der Bevölkerung eine Gruppe von Menschen gibt, die von der Qualität der Kliniken möglichst wenig weiß? Ich komme selbst aus einer Arbeiterfamilie und sage Ihnen: Kein Arbeiter hört gerne, wenn man sagt: Das braucht ihr nicht zu wissen. Für Euch ist die nächstbeste Klinik gut genug.

Auch bei den Beschäftigten gibt es Frust und Ängste. Wie wollen sie das Personal bei der Reform mitnehmen?

Wir machen Schluss mit der Hamsterradmedizin. Viele Ärztinnen und Ärzte berichten mir von Ihrem Frust, auf die Schnelle einen Fall nach dem anderen behandeln zu müssen – sie sprechen dann von Behandlung am Fließband. Wenn es aber – mit der Vorhaltepauschale – für das Überleben des Krankenhauses nicht mehr so wichtig ist, ob noch ein Fall mehr behandelt wird oder ein Fall weniger, bleibt wieder mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten. Das ist doch eine ganz andere Art der Arbeit. Somit glaube ich, dass diese Reform in den Belegschaften als das wahrgenommen wird, was sie ist: eine Reform, die die Arbeitsbedingungen verbessert.

  • Protestierende von Verdi mit Banner
    Protestaktion zur Gesundheitsministerkonferenz

Die Gewerkschaft Verdi wirft Ihnen vor, mit Ihrer Reform hinter dem Möglichen zurückzubleiben. Sie fordert beispielsweise die komplette Abschaffung der Fallpauschalen oder die Abrechnung von Klinikleistungen nach den realen Kosten.

Verdi macht mit den Betriebs- und Personalräten eine fantastische Arbeit für die Beschäftigten. Auch wenn wir hier und da in Einzelpunkten im Konflikt sind, ist Verdi ein Segen für die Krankenhausversorgung. Mit der Restfallpauschale wollen wir lange Wartezeiten bzw. Wartelisten für Patientinnen und Patienten verhindern. 60 Prozent Vorhaltepauschale und 40 Prozent Fallpauschale sind da ein guter Mix. Wenn eine Klinik die Vorhaltepauschale bekommen würde, egal, ob sie die Leistung erbringt oder nicht, besteht die Gefahr einer Unterversorgung.

Sie sprechen immer wieder von der notwendigen Entökonomisierung der Krankenhäuser. Was meinen Sie damit genau?

Gibt es in einer Klinik Zielvereinbarungen, dass ein leitender Arzt möglichst viele Operationen erbringen soll und sein Einkommen davon abhängt, ob er diese Zielvereinbarungen erfüllt, dann ist das ein klarer Interessenkonflikt zwischen guter Medizin und Ökonomie. Die Folge ist, dass auch Eingriffe vorgenommen werden, die medizinisch nicht unbedingt notwendig wären oder zumindest ambulant erbracht werden könnten. Auch, dass medizinische Leistungen mit so wenig ärztlichem Personal wie möglich erbracht werden sollen, ist ein ökonomischer Fehlanreiz. Hohe Gewinnmargen gehen dann zu Lasten der Qualität. Die Kehrseite wiederum sind Krankenhäuser, die gezwungen sind, so viele Eingriffe durchzuführen wie möglich, um überleben zu können. Oder bestimmte Patientengruppen werden vermieden, weil man glaubt, mit ihnen Verlust zu machen. Hohe Gewinne, Rosinenpickerei oder Sparen an der Qualität – das kann nicht gut sein. Wenn dann noch Gewinne an anonyme Aktionäre abgeführt werden, ist das ein schlechtes System. Das werde ich ändern.

Was bedeutet das für Krankenhäuser, die privat geführt sind oder privatisiert wurden? Sollen die nach Möglichkeit wieder zurück in öffentliche Hand? 

Jede Kommune wird selbst entscheiden, ob sie eine Klinik zurückkaufen will und ob sie finanziell dazu überhaupt in der Lage ist. Aber es ist sicherlich ein Punkt, über den viele Kommunen jetzt verstärkt nachdenken.

Seit Jahren kaufen sich Finanzinvestoren in medizinische Versorgungszentren ein und trimmen sie auf Profitabilität, um sie mit Gewinn wieder zu verkaufen. In vielen Fällen leidet darunter die Versorgungsqualität. Was tun Sie dagegen?

Diese gefährliche Entwicklung wollen wir beenden. Ein Verbotsgesetz soll die Privatisierung von Versorgungszentren unterbinden. Diesen Gesetzentwurf bereiten wir gerade vor. So ein Gesetz hätte es längst geben müssen. Ich muss jetzt viele Dinge nachholen, die seit zum Teil zehn Jahre nicht angepackt worden sind. Das gilt auch für Lieferengpässe bei Arzneimitteln, für das E-Rezept, die elektronische Patientenakte.

Welche Angebote machen Sie kleinen Krankenhäusern, die künftig als Vollversorger nicht mehr in Betracht kommen – gerade auf dem Land?

Sie sind künftig nicht mehr für jeden Eingriff zuständig, sondern für das, was sie gut können. Es ist doch heute schon so, dass diese Häuser sich nicht mehr füllen. Und bei einer sinkenden Fallzahl fehlt das Geld, um das Personal zu halten. Wenn das Personal dann weggeht, kann ich noch weniger Fälle behandeln – eine Spirale nach unten. Wenn diese Häuser über die Vorhaltepauschale 60 Prozent des Erlöses garantiert haben, ist das wie eine Art der Existenzgarantie.

Aber wird es die Abwärtsspirale nicht ohnehin geben – mit oder ohne Reform? Wenn es in einer Klinik künftig keine Intensivmedizin mehr gibt und der Kardiologe geht, werden die Intensivpflegekräfte dort auch nicht mehr arbeiten wollen. Die Folge ist ein Brain-Drain.

Ich warne davor, von einem Brain-Drain zu sprechen, nur weil der Kardiologe nicht mehr da ist. Der Internist ist da, der Chirurg, die Ärztinnen und Ärzte, die in der Geriatrie arbeiten oder in der Geburtshilfe. Dort wird eine sehr gute Medizin erbracht. Die internistische und chirurgische Grundversorgung in der Fläche, die Gynäkologie, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und so weiter, das alles ist eine ganz wichtige Arbeit. Wir werden außerdem die Möglichkeit nutzen, sehr gut integrierte Versorgungszentren aufzubauen, die Eingriffe ambulant durchführen können.

Die Betriebs- und Personalräte haben bislang bei der Personalbemessung kein wirkliches Mitbestimmungsrecht. Das wäre doch ein Beitrag zur Entökonomisierung.

Die neue Personalbemessung ist zusammen mit Verdi, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat entwickelt worden. Das ist ein wichtiger Schritt für mehr Personal. Es kommt jetzt darauf an, die neue Pflegepersonalregelung entsprechend der gesetzlichen Regelungen schnell umzusetzen.

Es wird weiter Widerstand gegen Teile der Reform geben – nicht nur von den Ländern, auch von unten, von Belegschaften, gegen die Schließung von Häusern. Wie gehen Sie damit um?

Wenn Reformen unbeliebt sind, dann wird oft protestiert. Vor Kurzem haben die Apotheker protestiert, weil sie mit der Honorarverteilung nicht einverstanden sind. Für solche Proteste und Differenzen habe ich volles Verständnis. Eine Demonstration für die Fallpauschale habe ich vor meinem Ministerium allerdings noch nie gesehen. 


Die wichtigsten Regelungen auf einen Blick

Fallpauschale
Die Fallpauschale ist eine Zahlung, die ein Krankenhaus für die Behandlung einer definierten Erkrankung erhält. Sie soll
in Zukunft nur noch 40 Prozent der Vergütung ausmachen.

Vorhaltepauschale
Die Vorhaltepauschale ist eine Zahlung, die ein Krankenhaus dafür enthält, dass es eine bestimmte Leistung vorhält. Sie soll den Krankenhäusern 60 Prozent der Vergütung einbringen. Versorgungsstufe Krankenhäuser werden in Zukunft bestimmten Levels oder Versorgungsstufen zugeordnet. Daran lässt sich vor allem die Größe eines Krankenhauses ablesen. Doch soll die Zuordnung zu einem Level keine formalen Konsequenzen haben.

Leistungsgruppe
Die grobe Zuweisung von Fachabteilungen (wie „Innere Medizin“) zu Krankenhäusern soll durch genauere Leistungsgruppen (wie „Kardiologie”) abgelöst werden. Behandlungen sollen nur abgerechnet werden können, wenn dem Krankenhaus die entsprechende Leistungsgruppe zugeteilt wurde. Dafür müssen Bedingungen erfüllt sein – wie eine bestimmte Ausstattung mit Personal und Technik.

Medizinische Versorgungszentren (MVZ)
sind Einrichtungen, in denen mehrere ambulant tätige Ärztinnen und Ärzte
zusammenarbeiten. Im Gegensatz zur Einzelpraxis oder Gemeinschaftspraxis sind Inhaberschaft und Behandlungstätigkeit organisatorisch getrennt.

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