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Magazin Mitbestimmung

: Unbekannte Wesen

Ausgabe 04/2012

STUDIEN Die Bildungsforschung wüsste gern mehr über die Lebensläufe und Motive der berufserfahrenen Studierenden, die über den dritten Bildungsweg einen akademischen Abschluss anstreben. Doch noch ist die Datenlage mau. Von Susanne Kailitz

Von SUSANNE KAILITZ, Journalistin in Dresden

 

Elisabeth Schwabe-Ruck hält die beruflich Qualifizierten unter den Studierenden für etwas ganz Besonderes. „Die sind das Salz in der Suppe“, sagt die Dozentin der Leuphana Universität Lüneburg, „diese interessierten Menschen im Seminar zu haben ist einfach nur genial.“ Wer über den dritten Bildungsweg an die Universität komme, sei in aller Regel höchst lernbegierig und hochgradig dankbar für die Chance, so viel Wissen wie nur irgend möglich aufzusaugen. Schwabe-Ruck hat Erfahrungen mit den Studenten, die vielen Experten der Bildungsforschung noch immer als unbekannte Wesen gelten. Seit 2006 ist sie Dozentin für die Vorbereitungskurse, die beruflich Qualifizierte ohne Abitur in Niedersachsen vor ihren Zulassungsprüfungen ablegen – und ärgert sich noch immer regelmäßig über deren Bezeichnung. „Wir sprechen da von einer ‚Immaturenprüfung‘ – also einer Prüfung von ‚Unreifen‘. Das ist doch grauenvoll!“

Gleichzeitig ist der dritte Bildungsweg Schwabe-Rucks Forschungsfeld. In ihren Publikationen zeichnet sie nach, dass die Öffnung der Hochschule für qualifizierte Berufstätige in Deutschland auf eine fast 100-jährige Tradition zurückschauen kann: Schon in den 1920er Jahren sei dieser Zugangsweg als Begabtenabitur konzipiert und „gegen heftige Widerstände der Kultusbehörden und vor allem auch der Hochschulen der einzelnen Länder“ eingerichtet worden. Dennoch seien die Begabtenprüfungen nie mehr als eine kleine „Seitenpforte“ denn eine offene Tür in die Hochschule gewesen.

 

WENIG HARTE FAKTEN_ Nicht zufällig ist Schwabe-Rucks Dissertation in einer Buchreihe der Hans-Böckler-Stiftung erschienen. Mit seinen Stipendien fördert das gewerkschaftliche Begabtenförderungswerk vor allem einen „alternativen Biografietypus“, so nennt dies ein Autorenteam um den Bildungsforscher Andrä Wolter in der Studie „Die etwas andere Bildungselite“, der „in Deutschland beim Hochschulzugang traditionell eher benachteiligt oder sogar ausgegrenzt wird“. Und hat sich in dem „Leitbild Demokratische und Soziale Hochschule“ eine größere Durchlässigkeit der Bildungsinstitutionen auf die Fahnen geschrieben. Aus diesem Grund finanziert die Stiftung auch verstärkt Forschungsvorhaben, die sich mit den sogenannten nicht-traditionellen Studierenden befassen. Das ist auch dringend nötig, wie Walburga Freitag, Bildungsforscherin am HIS-Institut für Hochschulforschung bestätigt. Obwohl gerade diese Bildungswege „bildungspolitisch von großem Interesse“ seien, gebe es kaum harte Fakten.

In einer Expertise für die Stiftung hat sie jetzt den Forschungsstand zusammengefasst, Forschungsbedarfe identifiziert – und Anfang Februar auf einem Werkstattgespräch der Stiftung in Düsseldorf auch vorgestellt. Grundlage sind Zahlen des Statistischen Bundesamtes: Danach finden sich die meisten berufserfahrenen Studierenden in Berlin, Hamburg, Hessen und Niedersachsen, wohingegen Sachsen und das Saarland die letzten Plätze einnehmen. Zur Erklärung dieser regionalen Unterschiede zitiert Freitag den Bildungsforscher Christoph Ehmann: „Der eher protestantische und sozial­demokratische Norden, der Wertschätzung der Arbeit als christlicher und preußisch-staatsbürgerlicher Pflicht traditionell verbunden, hat es in Folge eben dieser Tradition leichter, die Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung anzuerkennen, während der eher katholische und vor allem in der Beamtenschaft noch weitgehend konservativ geprägte Süden handwerkliche und industrielle Arbeit und damit auch berufliche Bildung eher gering achtet.“

 

WO DER SCHUH DRÜCKT_ Wer aber sind sie nun, die über den oft steinigen dritten Bildungsweg an die Hochschule kommen? Klar ist, diese Studenten sind in der Regel älter als die Kommilitonen mit Abitur: 87 Prozent der Studienanfänger des dritten Bildungswegs sind nach Freitags Erhebungen 25 Jahre und älter, während fast 90 Prozent aller Studienanfänger das Studium in einem Alter bis 25 Jahre beginnen. Zudem entstammen sie eher Schichten, „die ansonsten im Hochschulbereich unterrepräsentiert sind“. Und mit rund 60 Prozent überwiegen Männer.

Noch weniger weiß man über die Probleme, auf die berufserfahrene Studierende ohne Abitur im Studium treffen. Eine kleine Erhebung, die Anna Kern und Josef Hoormann von der Kooperationsstelle Hochschulen und Gewerkschaften Frankfurt-Rhein-Main unter Absolventen der Europäischen Akademie der Arbeit (EAdA) durchgeführt haben, kommt zu dem Schluss, beruflich Qualifizierte seien an einem schnellen Abschluss ihres Studiums interessiert und benötigten vor allem Planungssicherheit. Wichtig scheint auch der Kontakt zu Kommilitonen mit gleicher Lebenserfahrung zu sein. So kommt eine Studie des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) aus dem Jahr 2009 zu dem Befund, „dass es für nicht traditionelle Studierende möglicherweise wichtig ist, an einer Einrichtung zu studieren, die auf ihre Bedürfnisse spezialisiert ist und in der sie Personen treffen, die in einer ähnlichen Situation sind wie sie selbst“. Unter diesen Rahmenbedingungen könnten Personen mit und ohne Abitur gleich erfolgreich studieren. Das bestätigt auch Birgit Grafe, die in der Abteilung Studienförderung der Hans-Böckler-Stiftung die Studierenden am Fachbereich Sozialökonomie der Universität Hamburg, der früheren Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP), betreut. Eine Absolventenanalyse aus dem Jahr 2009 belegt, dass es „keine nennenswerten Unterschiede sowohl bei der Abschlussnote als auch bei der Studiendauer“ bei Personen mit Hochschulreife und Nicht-Abiturienten gebe.

Problematisch für viele dieser Studierenden sei jedoch der Wechsel von der klar strukturierten Berufswelt in das unübersichtliche System Hochschule, sagt Grafe. „Häufig fühlen sie sich von Professoren als Erwachsene nicht ausreichend respektiert. Auch können sie sich nur schwer damit abfinden, dass Veranstaltungen oder Sprechstunden einfach ausfallen oder dass Professoren sich untereinander nicht abstimmen und Vorlesungen parallel stattfinden. Wer aus dem Beruf verbindliche Absprachen gewöhnt ist, hat erst einmal zu tun, damit klarzukommen.“ Zudem seien viele der beruflich Qualifizierten nicht mehr an das Lernen gewöhnt. „Im Job hat man eine Ausbildung, wird eingearbeitet und weiß dann, was zu tun ist“, sagt Grafe, „an der Hochschule verlangt jeder Professor etwas anderes – Präsentationen, Vorträge, Klausuren oder Hausarbeiten. Sich da individuell zu organisieren müssen viele erst lernen.“

 

PRAGMATISCH UND AUFSTIEGSORIENTIERT_ Die meisten sind dazu bereit: Nach den Gründen für die Aufnahme des Studiums hat im Auftrag der Stiftung ein Team um Matthias Klumpp die Techniker befragt, die am Institut für Logistik- und Dienstleistungsmanagement der privaten Hochschule für Ökonomie und Management (FOM) in Essen studieren. Danach kommen die beruflich Qualifizierten – auf sie ist diese Hochschule spezialisiert, darunter haben 90 Prozent Abitur – aus drei Gründen zum Studium: um ihre Karrierechancen zu erhöhen, um sich zu qualifizieren und dazuzulernen oder um sich selbst zu verwirklichen.

Mit dieser Entschlossenheit sind sie für die Hochschulen sogar ein Gewinn und können die Lehre bereichern. Zu diesem Schluss kommt Notker Schneider von der Fachhochschule Köln, der die beruflich Qualifizierten unter seinen Studierenden im Studiengang „Soziale Arbeit“ befragt hat. Wer an die Hochschule käme, um in seinem Beruf auf- oder umzusteigen, arbeite „pragmatisch und effizient“, nehme Zusatzangebote an – ein Traum für jeden Dozenten. Das würde auch Elisabeth Schwabe-Ruck jederzeit unterschreiben.

Mehr Informationen

Walburga Freitag: Zweiter und Dritter Bildungsweg in die Hochschule. Forschungsstand und Forschungsbedarfe. Arbeitspapier der Hans-Böckler-Stiftung, Nr. 253, Düsseldorf 2012

Dana Frohwieser/Mike Kühne/Karl Lenz/Andrä Wolter: Die etwas andere Bildungselite. Eine empirische Untersuchung zur gewerkschaftlichen Studienförderung. Bad Heilbrunn 2009

Anna Kern/Josef Hoormann: Der Dritte Bildungsweg für Studierende der Europäischen Akademie der Arbeit. Arbeitspapier der Hans-Böckler-Stiftung, Nr. 244. Düsseldorf 2011

Sigrun Nickel/Britta Leusing: Studieren ohne Abitur: Entwicklungspotenziale in Bund und Ländern. CHE Centrum für Hochschulentwicklung, Gütersloh 2009

Elisabeth Schwabe-Ruck: "Zweite Chance" des Hochschulzugangs? Edition der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 254. Düsseldorf 2010

Dokumentation und Foliensätze des Werkstattgesprächs "Dritter Bildungsweg und Akkreditierung" der Hans-Böckler-Stiftung, 9.–10. Februar 2012 in Düsseldorf.

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