zurück
Magazin Mitbestimmung

: Tanz auf der Rasierklinge

Ausgabe 03/2005

In der Automobilbranche werden die Auseinandersetzungen härter. Ungewöhnliche Konflikte und teilweise überraschende Arbeitgeberzusagen gingen den aktuellen betrieblichen Bündnissen voraus. Was unterscheidet sie von ihren Vorgängern?

Von Britta Rehder
Dr. Rehder war Promotionsstipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. br@mpifg.de

Betriebliche Pakte galten bislang als relativ friedliche Veranstaltungen. Auseinandersetzungen bezogen sich vor allem auf Solidaritätskonflikte zwischen Betriebsräten und ihren Belegschaften einerseits und den Gewerkschaften andererseits. Prominente Fälle, wie Burda oder Viessmann, wurden sogar vor den Arbeitsgerichten ausgetragen.

Im vergangenen Jahr waren die Konflikte (bei Siemens, DaimlerChrysler, Volkswagen, Opel, Bosch, Philips) nicht nur außergewöhnlich intensiv, sondern es wandelten sich auch die Konfliktkonstellationen. Während Auseinandersetzungen zwischen der betrieblichen und der überbetrieblich-gewerkschaftlichen Interessenvertretung in den Hintergrund traten, gewannen Konflikte zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite sowie innerhalb des Arbeitnehmerlagers an Bedeutung.

Eine "baden-württembergische Krankheit"?

Bei der DaimlerChrysler AG wurde im Juli 2004 eine Vereinbarung zwischen den Betriebsparteien unter Zustimmung der Tarifvertragsparteien unterzeichnet, die sich explizit auf den Tarifabschluss vom Februar 2004, den Pforzheimer Abschluss berief. Verabredet wurden Produktionszuweisungen, Investitionen und Beschäftigungsgarantien für die deutschen Standorte. Im Gegenzug wurden Sparmaßnahmen im Umfang von rund 500 Millionen konzediert. Die Verhandlungen waren nicht nur zwischen dem Betriebsrat und dem Management ungewöhnlich konfrontativ, sondern auch zwischen dem Gesamtbetriebsrat und der IG-Metall-Bezirksleitung einerseits sowie lokalen Betriebsräten und ihren Belegschaften andererseits.

Die Arbeitgeberseite hatte zuvor einen Standortwettbewerb zwischen Südafrika, Bremen und Untertürkheim angekündigt. Erstmalig in der Geschichte der betrieblichen Bündnisse wurden damit zwei westdeutsche Standorte gegeneinander in Stellung gebracht. Darüber hinaus ging Mercedes-Chef Jürgen Hubbert mit der Aussage in die Verhandlungen, die Sonderkonditionen für Arbeitnehmer im Tarifbezirk seien eine "baden-württembergische Krankheit", die es auszukurieren gelte. Damit erntete er nicht nur Kritik bei den Belegschaften, sondern auch bei der Landesregierung - und entschuldigte sich übrigens nach dem Abschluss der Verhandlungen.

Der Gesamtbetriebsrat reagierte mit zahlreichen Protestaktionen. An einem bundesweiten Protesttag beteiligten sich bis zu 60000 Mitarbeiter. Allerdings gelang es weder dem Gesamtbetriebsrat noch der regionalen IG-Metall-Führung, die Proteste zu kanalisieren. Die Belegschaft des Werks in Mettingen - unter Beteiligung des lokalen Betriebsrates - radikalisierte den Protest und blockierte in eigener Verantwortung eine sechsspurige Bundesstraße, was zu erheblichen Auseinandersetzungen mit dem Gesamtbetriebsrat und der IG-Metall-Bezirksleitung führte.

Die Konflikte konnten auch nach dem Ende der Verhandlungen nicht bereinigt werden. Der Mettinger Betriebsrat lehnte es ab, die vom Gesamtbetriebsrat mit der Unternehmensleitung ausgehandelte Vereinbarung zu unterstützen. Er argumentierte, es habe vor Ort "kein demokratisches Ringen" um die beste Lösung gegeben. Deshalb hätten die Gewerkschaftsspitze und der Gesamtbetriebsrat auch keinerlei Berechtigung, Vertrauensleute und Betriebsräte zu reglementieren, die den Abschluss kritisierten.

Neue Konfliktlinien

Sehr viel weiter gingen die Konflikte im Herbst 2004 bei der Opel AG. Auf die Ankündigung der Konzernspitze von General Motors, 10000 Arbeitsplätze in Europa zu streichen, wovon ein Großteil auf die deutschen Standorte entfallen sollte, folgte ein wilder Streik (die betrieblichen Akteure sprachen von einer Informationsveranstaltung) im Bochumer Werk. Die Belegschaft und ihre jeweiligen Betriebsrats-Vertreter zerfielen in verschiedene Fraktionen. Während die einen für den Erhalt der Standorte zu Konzessionen bereit waren, forderten andere die Beendigung jeglicher Konzessionspolitik.

Konnte der Gesamtbetriebsrat zu Beginn noch von den Streiks profitieren, weil diese das Management an den Verhandlungstisch zwangen, gelang es ihm - und der IG Metall - am Ende nur notdürftig, die Lage zu befrieden. Eine betriebliche Abstimmung, die über die Weiterführung des Streiks entscheiden sollte, konnte nur durch einen Verfahrenstrick gewonnen werden. Über folgende Formulierung wurde abgestimmt: "Soll der Betriebsrat die Verhandlungen mit der Geschäftsführung weiterführen und die Arbeit wieder aufgenommen werden?" Streik-Befürwortern wäre nur die Fundamentalopposition geblieben. Trotzdem hat mehr als ein Viertel der Belegschaft mit "Nein" gestimmt.

Die Auseinandersetzungen bei Opel waren immer schon konfliktorientierter als in anderen Firmen. Von daher steht der aktuelle Konflikt durchaus in einer Tradition. Dennoch ist auch hier der Wandel unübersehbar: Handelte es sich früher um Konflikte zwischen dem deutschen Opel-Management und den Belegschaften einerseits und der GM-Konzernzentrale andererseits, so hat das lokale Opel-Management diesmal die Position gewechselt.

Es kämpfte nicht mehr gegen die Zentrale, sondern mit der Zentrale gegen den Betriebsrat und die Belegschaft. Neu war auch, dass die Arbeitnehmervertretungen ihre Belegschaften nicht oder nur mühsam steuern konnten. Denn die Streikfreude der Opel-Beschäftigten gerade auch in Bochum war bislang immer eine Streikbereitschaft für und nicht gegen die Betriebsräte.

Unternehmensinterner Standortwettbewerb

Auch in anderen Unternehmen - bei Siemens, Volkswagen, Deutsche Bahn - waren die Verhandlungen konfliktreicher als sonst. Warum? In vielen Unternehmen wird offensichtlich getestet, wie konfliktfähig die IG Metall (und die Gewerkschaften insgesamt) nach dem verlorenen Streik im Osten wohl noch sein mag. Dies gilt selbst für Konzerne, denen unterstellt werden kann, dass sie ein größeres Interesse am sozialen Frieden haben als mittelständische Unternehmen, weil sie dank eines hohen Organisationsgrads in besonderem Maße von Arbeitskonflikten betroffen wären.

Die Konfliktaversion nimmt ab - zumindest auf der rhetorischen Ebene. Unterstützt wird diese Tendenz durch die Generalangriffe im politischen Raum, zum Beispiel gegen die Mitbestimmung auf Unternehmensebene. Auch wenn bezweifelt werden kann, dass diese Initiativen im Arbeitgeberlager selbst mehrheitsfähig sind, prägen sie doch ein Klima, das für die konkreten betrieblichen Verhandlungen nicht folgenlos bleibt.

Auch auf Arbeitnehmerseite scheint sich die Wahrnehmung von betrieblichen Bündnissen zu wandeln: Sie werden offensichtlich weniger akzeptiert als noch vor einigen Jahren. Dies ist vor allem dort der Fall, wo ein Bündnis auf das andere folgt. Die Unternehmen, die im vergangenen Jahr in konfliktreichen Aushandlungsprozessen standen, nutzen die Vereinbarungen nicht, um eine punktuelle Krise abzuwenden, etwa eine drohende Insolvenz. Vielmehr werden sie systematisch als Instrument des strategischen Managements eingesetzt, um im unternehmensinternen Standortwettbewerb Investitionen zu verteilen.

Multinationale Unternehmen knüpfen ihre Investitionsentscheidungen zunehmend an ein internationales Benchmarking der Standorte oder an ein konzerninternes Wettbewerbsverfahren. Produktionsstätten werden dabei anhand verschiedener Indikatoren vergleichend evaluiert. Zu diesen Indikatoren zählen beispielsweise die vorhandene Infrastruktur, die Qualifikation der Beschäftigten, die Nähe zu den angesteuerten Absatzmärkten, die Produktionskosten, die Produktivität oder mögliche staatliche Subventionen.

Gleichzeitig werden Produktionsvorhaben und die daran gekoppelten Investitionen (wie die Modernisierung einer Werkshalle) von der Konzernzentrale ausgeschrieben. Geeignete Standorte bewerben sich und konkurrieren um den Zuschlag. In diesem Zusammenhang werden dann vor Ort betriebliche Bündnisse geschlossen, die darauf abzielen, die eigenen Standortbedingungen möglichst attraktiv zu gestalten und die Wettbewerbsposition zu verbessern. Dieses Verfahren ist insbesondere bei den Automobilherstellern und ihren Zulieferern zu beobachten.

Für die Arbeitnehmer bedeutet dies immer mehr Konzessionen in immer kürzeren Abständen. Kommt dann noch eine kurzfristige Absatzkrise hinzu, die durch ein betriebliches Bündnis aufgefangen werden soll, steigt die Häufigkeit der Konzessionen in einem Unternehmen weiter an. Die Betriebsräte, die die Bündnisse ihren Belegschaften gegenüber mit dem Argument der Arbeitsplatzsicherung rechtfertigen, geraten in Argumentationsnot. Der Glaube daran, dass die Vereinbarungen ein geeignetes Mittel sind, um Standorte abzusichern, nimmt ab.

Bessere Arbeitgeberzusagen?

Einige Unternehmen haben das Problem offensichtlich erkannt. Sie versuchen jetzt, die Erschöpfung betrieblicher Bündnisse als Instrument der Arbeitsbeziehungen durch eine Erhöhung der Erträge für die Beschäftigten aufzufangen. Wurde der Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen in der Vergangenheit regelmäßig nur für einen Zeitraum von zwei Jahren festgeschrieben, so war im vergangenen Jahr von sechs bis sieben Jahren die Rede - bei Deutsche Bahn, DaimlerChrysler und Volkswagen.

Darüber hinaus wurde in den beiden letztgenannten Unternehmen für den gleichen Zeitraum ein konkreter Investitionsplan festgeschrieben; bei Volkswagen wurde zudem ein Beschäftigungsvolumen festgelegt, das während der Vertragslaufzeit nicht unterschritten werden darf.

Dies ist eine Reaktion darauf, dass in der Vergangenheit zwar häufig der Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen verabredet wurde, gleichzeitig jedoch auf "sozialverträglichem" Wege trotzdem viele Arbeitsplätze verloren gingen. Die neuen Vereinbarungen implizieren daher in gewissem Umfang einen Rationalisierungsschutz.

Fraglich bleibt, ob diese Entwicklungen übertragbar sind und ob sie den Reputationsverlust betrieblicher Bündnisse auf Dauer stoppen können. Vor allem aber dürfte durch Vereinbarungen dieser Art die Arbeitgeberseite bald das Interesse an den Pakten verlieren. Beide Automobilkonzerne haben zentrale Parameter ihres strategischen Managements für die nächsten sechs bis sieben Jahre an formale Aushandlungsprozesse mit der Arbeitnehmerseite gekoppelt.

Hier lacht einem die wirtschaftliche Mitbestimmung förmlich ins Gesicht. Damit sind die Vereinbarungen jedoch aus Arbeitgebersicht rigider, als Flächentarifverträge es je sein könnten. Dabei war es doch gerade die vermeintliche Rigidität von Tarifverträgen, die betriebliche Bündnisse so attraktiv gemacht hat. Die bei Daimler und Volkswagen unterschriebene Bündnis-Version wird daher im Arbeitgeberlager kaum auf ungeteilte Zustimmung stoßen.

Neu in den Pakten ist auch eine Revisionsklausel, die in einem unmittelbaren Zusammenhang zur relativ langen Laufzeit der Verträge steht. Diese Klausel erlaubt es dem Management, unter veränderten Rahmenbedingungen Neuverhandlungen zu fordern. Es wäre verwunderlich, wenn davon nicht Gebrauch gemacht würde. Im Gegenteil: Wenn es möglich ist, Investitions- und Beschäftigungspläne über einen Zeitraum von sechs, sieben Jahren zu erstellen, dann muss die Marktsituation ja so übersichtlich sein, dass sich die Frage stellt, warum überhaupt ein betriebliches Bündnis gebraucht wird. Es ist also sogar wahrscheinlich, dass die Arbeitgeberseite von den Revisionsklauseln Gebrauch machen muss. In diesem Fall würde die Glaubwürdigkeit der Arbeitsplatzzusagen jedoch weiter sinken.

Die Lage im Unternehmerlager ist ziemlich paradox: Einerseits werden die Bündnisse als Allzweckwaffe gegen betriebliche Problemlagen strapaziert und Konflikte durch nicht immer glückliche Verhandlungsführung angeheizt. Auf der Arbeitnehmerseite stärkt das nicht diejenigen Kräfte, die kooperativ flexibilisieren wollen. Bestätigt werden hingegen diejenigen, die immer schon wussten, dass die betrieblichen Bündnisse nichts anderes als Erpressungsversuche darstellen. Damit schüren die Arbeitgeber innerbetriebliche Konflikte, zu deren Befriedung dann andererseits erweiterte Zusagen notwendig sind, die sie kaum werden einhalten können (und wollen). Effizient ist das alles nicht.

Worst-Case-Szenarien nicht ausgeschlossen

Ein Blick auf die möglichen Implikationen dieser Entwicklungen für den Flächentarif bleibt notwendig spekulativ. Eines wird jedoch schon deutlich: Alle bisherigen Analysen über die Interaktion zwischen betrieblichen Bündnissen und dem Flächentarif unterstellen, dass die betrieblichen Produktivitätskoalitionen ein "Erfolgsmodell" sind: relativ harmonisch, relativ stabil. Diese Prämisse wird unabhängig davon gesetzt, ob mit den Bündnissen nun der Zusammenbruch oder die Möglichkeit der Re-Stabilisierung des Tarifsystems assoziiert wird. Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen deuten jedoch an, dass dies nicht so sein muss. Auch andere Entwicklungen sind denkbar.

Im optimistischen Fall könnten die Gewerkschaften von den zunehmenden Konflikten im Betrieb profitieren. In den beschriebenen Fällen haben die gewerkschaftlichen Bezirksleitungen erheblich zur Disziplinierung der oppositionellen Belegschaftsteile beigetragen, wenn sie auch die Konflikte nicht wirklich lösen konnten. Das Betriebsverfassungsgesetz hat den Betriebsrat als "Parlament der Arbeitnehmer" konzipiert. Die Interessenvertretung wird nicht allein von der mehrheitlich gewählten politischen Fraktion gestellt.

Weil auf der Basis des Verhältniswahlrechts votiert wird, können verschiedene Gruppierungen anteilig Sitze im Betriebsrat erhalten. Die gewählten Interessenvertreter müssen dann auf Gedeih und Verderb zusammenarbeiten. Das hat in der Vergangenheit erstaunlich gut funktioniert, ist aber alles andere als selbstverständlich. Wenn die Konflikte innerhalb der Belegschaften und damit auch die Heterogenität der Betriebsräte zunehmen, ist eine Entwicklung denkbar, in der die externen Gewerkschafter als Ordnungsmacht plötzlich wieder wichtig werden.

In einer pessimistischen Entwicklung könnten die betrieblichen Ordnungsinstanzen verfallen, wenn man davon ausgeht, dass die Gewerkschaften die beschriebene Ordnungsmacht nie mehr sein werden, weil sie selbst erodieren. Die Interaktion zwischen betrieblicher und überbetrieblicher Interessenvertretung ist kein Nullsummenspiel. Betriebsräte werden nicht so "funktionieren" wie bisher, wenn sie die Gewerkschaften verlieren. Dies gilt nicht nur, weil dem Betriebsrat ohne eine starke Gewerkschaft im Hintergrund wichtige Ressourcen entzogen werden.

Vielmehr schwächt die Erosion der Gewerkschaften als Integrationsinstanz auch die Betriebsräte, weil mit dem Zerfall der Belegschaften in Organisierte und Nicht-Organisierte, in linke und rechte IG-Metaller auch die Fähigkeit des Betriebsrats zur Integration und zum strategischen Handeln sinkt. Dann wären auch Konstellationen vorstellbar, in der Arbeitnehmer aus Protest gegen andauernde Konzessionen und Standortschließungen wilde Streiks initiieren, die weder der Betriebsrat noch die Gewerkschaft noch die Arbeitgeberseite kurzfristig befrieden kann, weil keinem von ihnen noch geglaubt wird. Bei Opel in Bochum war man davon so weit gar nicht mehr entfernt.

Der Pforzheimer Abschluss

Im "Pforzheimer Abschluss" haben sich die Tarifparteien darauf verständigt, einen kooperativen Weg der Dezentralisierung zu beschreiten. Danach sind Abweichungen vom geltenden Flächentarif möglich, um Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung zu sichern. Die Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit wurde dabei explizit nicht ausgenommen. Damit wurde eine Strategie offiziell festgeschrieben, die praktisch vielerorts bereits seit längerem zur Anwendung kommt.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen