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Magazin Mitbestimmung

: Politische Urteilskraft muss gelernt werden

Ausgabe 04/2011

POLITISCHE BILDUNG Oskar Negt reflektiert Aufgaben gewerkschaftlicher Bildung.

OSKAR NEGT ist Sozialphilosoph und Soziologe/Foto: Sabine Winterwerber

Der politische Mensch ist eigentlich die Grundfigur der Demokratie. Denn die Demokratie ist die einzige staatlich verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss. In Aristokratien und Diktaturen ist man froh, wenn die Leute nicht allzu viel nachdenken. Dieses Lernen als eine existenzielle Angelegenheit der Demokratie ist nur möglich, wenn die Menschen am Gemeinwesen beteiligt sind und wenn sie miteinander lernen, weil sie ihre Forderungen nicht vereinzelt durchsetzen können. Damit ist das gemeinsame demokratische Lernen ein zentraler Punkt der politischen Bildung.

Aber was sind die Bildungsinhalte? Woraufhin soll der Mensch erzogen werden? Es ist ja geradezu selbstverständlich, dass jemand qualifiziert sein muss für bestimmte Berufszusammenhänge. Aber mit der Qualifikation wird die politische Orientierung nicht mitgeliefert. Bildung meint aber beides - Qualifikation und Orientierung. Zum Beispiel daraufhin, was den Menschen ausmacht.

Heutzutage macht eine merkwürdige Definition vom Menschen die Runde. Es wird so getan, als ob Unternehmer nicht derjenige ist, der Kapital besitzt, sondern der, der seine Arbeitskraft besitzt. Gewissermaßen wird der Mensch auf die Augenhöhe von Josef Ackermann gehoben, indem ihm eingeredet wird, er sei auch Unternehmer oder zumindest Ich-AG. Wenn man Alexander von Humboldt gefragt hätte: "Was ist der Mensch?", hätte er geantwortet: Das ist der wissenschaftlich gebildete Mensch, nur der handelt richtig. Heute erleben wir den Versuch, nicht zuletzt auch durch den europäischen Bologna-Prozess, dieses Freiheits- und Emanzipationselement in der Bildung aus dem Weg zu räumen. Dabei wäre es wichtig, auch im gewerkschaftlichen Zusammenhang, den autonomiefähigen Menschen zu fördern, der selbstständig denkt und politische Urteilskraft entwickelt. Das ist die einzige Barriere gegen Dogmatisierung.

Es ist schon ein gewaltiger Rechtsfortschritt gegenüber der Weimarer Verfassung, dass in unserem Grundgesetz die Würde verankert und zu einer die Gesetze bindenden staatsfundamentalen Norm geworden ist. Aber will jemand, der zu einem gewerkschaftlichen Bildungsseminar kommt, etwas über Würde erfahren? Vor einigen Jahren sollte ich in Düsseldorf auf der Kundgebung zum 1. Mai sprechen, nach dem damaligen Ministerpräsidenten Rüttgers und dem regionalen DGB-Vorsitzenden. Als ich drankam, leerte sich aber schon der Platz. Und so fing ich an, über Würde zu sprechen, ich habe dort praktisch eine Kant-Vorlesung über Würde gehalten - und was passierte? Die Leute kamen zurück. "Würde hat keinen Preis", sagt Kant. Sie gehört zur Ausstattung des Menschen, und es ist schon wichtig, dass wir wieder ein bisschen mehr Philosophie betreiben - im Sinne eines Denkens in gesellschaftlichen Zusammenhängen, jenseits von den fragmentierten Informationen, von denen das heutige Herrschaftssystem lebt.

DAS KULTURELLE MANDAT ERWEITERN_ Was bedeutet das für die politische Bildung der Gewerkschaften? Ich bin der Auffassung, dass die Gewerkschaften nur dann zukunftsfähig sind, wenn sie vier Mandate erweitern. Ohne Erweiterung des kulturellen Mandats werden sie langfristig auch tarifpolitische Kämpfe nicht mehr gewinnen können. Denn das Begriffs- und Sprachspektrum, in das gewerkschaftliche Kämpfe eingebunden sind, ist so zentral für das Gelingen dieser Kämpfe, das schafft man nicht in einer feindlichen kulturellen Umwelt. Ich sage das, weil ich so etwas wie eine kulturelle Selbstentmündigung der Gewerkschaften beobachte. Bestürzt hat mich, dass die "Gewerkschaftlichen Monatshefte", ein Forum für gewerkschaftsfreundliche Intellektuelle, eingestellt wurden. Viele dieser gewerkschaftsfreundlichen Intellektuellen publizieren jetzt woanders. Für mich besteht hier ein kultureller Notstand der Gewerkschaften.

Es ist nötig, dass wieder Orte der Selbstreflexion entstehen, wo ein bisschen über den Tag hinaus gedacht wird und Utopien wieder einen Rang in der Selbstverständigung einnehmen. Von daher war ich vor Kurzem positiv überrascht, als mich die IG Metall ins Bildungszentrum Sprockhövel eingeladen hat, um einen Vortrag über Utopie zu halten. So was hatte ich lange nicht mehr erlebt. Das war eine brillante und brisante Tagung in Sprockhövel über die Notwendigkeit von Utopien im Sinne von alternativen Entwürfen, auch Lebensentwürfen. Solche Reflexionsorte zu erweitern ist für die Gewerkschaften nicht nur notwendig, sondern auch möglich. Die IG Metall gibt immerhin über 40 Millionen für Bildungsarbeit aus.

Die tradierten Arbeiterbildungstraditionen sind nicht mehr intakt. Und die mediale Gesellschaft deckt eher zu, was eigentlich an Unbehagen und Empörung in dieser Gesellschaft ist. Für einen gebildeten Arbeiter war es vor 100 Jahren selbstverständlich, bestimmte Bücher zu lesen wie August Bebels "Die Frau und der Sozialismus", ein vorzügliches Buch. Diese Bildungsbestände gibt es nicht mehr, aber sie sind notwendig für die Gewerkschaften, es sei denn, sie werden allmählich reduziert auf einen Abklatsch des ADAC, und das können sie aus existenziellen Gründen nicht, die Gewerkschaften können nie normale Verbände werden, dann hat man sie nicht mehr nötig.

DAS INTERESSENMANDAT ERWEITERN_ Ich halte es auch für notwendig, das Interessenmandat der Gewerkschaften zu erweitern. Ich selbst habe in den 80er Jahren einmal eine Untersuchung gemacht über Ortskartelle - Ortskartelle als Vermittler zwischen Bürgerinitiativen vor Ort und Gewerkschaften. Wir fanden dabei gut funktionierende und andere, die der Förderung bedurften. Was hat der DGB-Vorstand gemacht? Der hat diese Ortskartelle gestrichen. Das war nicht nur für meine wissenschaftliche Arbeit schmerzlich. Das war ein großer Fehler, weil heute die Gewerkschaften in der Fläche nicht mehr sichtbar sind. Und gerade solche Ortskartelle könnten Organisationsformen sein, in denen aufgefangen wird, was die Leute, auch die jungen Leute, empört.

Ich habe mir kürzlich angesehen, was am Zaun der Demokratie in Stuttgart zu lesen ist. Dieser Zaun sollte dazu dienen, die Demonstranten gegen das Bahnhofsprojekt S21 abzuschirmen, inzwischen ist er mit Tausenden von Zetteln beklebt. Aus denen spricht, was für ein gewaltiges Unbehagen die Menschen an dieser Gesellschaft umtreibt. Sodass man in der Tat von einer zweiten Wirklichkeit sprechen kann, wenn man diese "Schwarzmarktfantasien" zur Kenntnis nimmt.

Sicherlich ist der Großbetrieb das Organisationsmonopol der Gewerkschaften. Aber immer mehr Interessen lassen sich nicht mehr in diesen Bezugsrahmen fassen und gehen verloren oder, schlimmer noch, werden von anderen organisiert. Denn diese Bedürfnisse, die bleiben nicht lange unbearbeitet, und schon gar nicht der Angstrohstoff in der Gesellschaft, der wird irgendwann bearbeitet, und es gibt genügend europäische Hinweise, wie das erfolgt.

Nehmen wir zum Beispiel diese Sympathien für Karl Theodor zu Guttenberg. Was bedeutet das, wenn ein großer Teil unserer Mitbürger völlig damit einverstanden ist, dass ein Betrüger und Lügner Bundeskanzler wird? Was bedeutet das für das gesamte Symbolspektrum unserer moralischen Begriffe? Für mich hat das diese Berlusconi-Dimension. Oder in Ungarn. Dort gibt es richtig offen faschistische Gruppierungen, die schnelle Lösungen versprechen.

Die heutige Form des Kapitalismus verschleiert ihre Feindpositionen. Ja, selbst die Feinde sind uns entzogen und verschleiert. Das bedeutet allerdings, dass wir viel stärker in diesen ideologischen Bereichen nachhaken und ein ideologisches Spektrum bearbeiten müssen. Ideologien bestehen ja darin, so habe ich das bei Adorno gelernt, dass sie in der Zwischenwelt von Wahr und Falsch liegen. Das heißt, Ideologien machen auch Freiheits- und Emanzipationsversprechen. Das sind Themen und Aufgaben einer gewerkschaftlichen Bildungskultur.

POLITISCHES MANDAT ERWEITERN_ Das dritte gewerkschaftliche Mandat ist das politische Mandat. Krisenzeiten sind für mich nur dann Erkenntniszeiten, wenn Alternativen erkennbar sind. Ich habe das Gefühl, dass viele Menschen solche Auswege aus der Misere suchen. Wo alte Werte, Normen, Institutionen nicht mehr unbesehen gelten, haben wir es mit einer intensiven kulturellen Suchbewegung zu tun. Was sich auch darin zeigt, dass die alten Loyalitäten zerbrechen. Die Parteien können sich nicht mehr auf eine gesicherte Option von bestimmten Schichten, Gruppierungen verlassen. Sie müssen die Leute um bestimmte Themen herum organisieren.

Soziale Gerechtigkeit zum Beispiel. Wenn hier das "sozial" von der SPD gestrichen würde, wäre ein zentraler Symbolbegriff weg. Olaf Scholz hat das mal in seiner Zeit als SPD-Generalsekretär vorgeschlagen, wie er jetzt seine Hamburger SPD zur wirtschaftsnahen Partei erklärt. Auch wenn mich sein Sieg als Bürgermeister gefreut hat, so könnten die Menschen ihm das nächste Mal sagen: "Wir haben dich nicht gewählt, dass du dich besonders nah an den Wirtschaftsinteressen bewegst." Ich will damit nur andeuten, dass auch der Kampf um Begriffe und Deutungen materielle Gewalt hat. Das ist sehr harte Materie, um die gekämpft werden muss.

DAS ARBEITSMANDAT ERWEITERN_ Und das vierte gewerkschaftliche Mandat ist, sichtbar zu machen, dass die Gewerkschaften so etwas wie eine alternative Vorstellung von einer humanen Gesellschaft haben. Das halte ich für eine äußerst dringliche Angelegenheit, und es steht den materiellen Kampfinteressen in der Gewichtung nicht nach. Das ist die Erweiterung des Arbeitsmandats. Der Arbeitsbegriff ist doch zu eng bezogen auf Arbeitsplätze. Jean-Paul Sartre hat einmal etwas ironisierend gesagt: "Bei Marx tritt der Mensch erst in Erscheinung, wenn er seinen ersten Lohn empfängt."

Diese Ebene sollten Gewerkschaften ein Stück weit verlassen und auf die Menschen in ihren Lebenszusammenhängen zugehen, wo sie ein breites Spektrum von Bedürfnissen haben. Zugehen auch auf diejenigen, die ausgegliedert werden. Denn Arbeitslosigkeit ist ein Anschlag auf die Integrität der Menschen, nicht einfach ein technischer oder ökonomischer Vorgang, sondern eine Demütigung der Menschen.

Es hat 500 Jahre gedauert, bis die Menschen Arbeit als einen Bestandteil ihrer Persönlichkeitsbildung betrachtet haben, und jetzt zieht gerade eine Wohlstandsökonomie ihnen die Basis weg. Das heißt für die Gewerkschaften und ihre Bildungsarbeit, die Entwicklung der Dreispaltung der Gesellschaft einzubeziehen. Einem Drittel in dieser Gesellschaft geht es gut, die haben gesicherte Arbeitsplätze und können so etwas wie Lebensplanung vornehmen. Das zweite, wachsende Drittel sind die prekären Lebensverhältnisse mit einer Fragmentierung von Arbeitsplätzen, was eine Lebensplanung unmöglich macht. Und das letzte Drittel ist die wachsende Armee der dauerhaft Überflüssigen - in einer kapitalistisch definierten Arbeitsgesellschaft. Das treibt die Gesellschaft auseinander.

Der Sozialstaat schafft Freiheiten, schafft Angst weg, doch nach dem Mauerabbruch fängt die Plünderung des Sozialstaates an. Wenn dieser Kapitalismus so bleibt, dann muss im Grunde die Gewerkschaft aus Selbsterhaltungsgründen auch die Systemfrage wieder zulassen und diskutieren. Kann es denn angehen, dass in einer Gesellschaft, die über 100 Milliarden Euro Exportüberschüsse hat, jedes fünfte Kind unter Armutsbedingungen aufwächst? Auch das ein Thema gewerkschaftlicher Bildungsarbeit.

ZUR PERSON

Oskar Negt, 76, Soziologe und Sozialphilosoph in Hannover, leitete auch mal eine Gewerkschaftsschule. Wie er dazu kam, berichtet Negt in seinem neuesten Buch, "Der politische Mensch". Er wurde Anfang der 60er Jahre gefragt, ob er sich als Assistent an der DGB-Bundesschule Oberursel etwas dazuverdienen möchte - und schon war er dort für eineinhalb Jahre Schulleiter. Oskar Negt ist Mitglied der GEW und der Berufsbildungskommission von ver.di. Sein kleines Buch "Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen" hat in den 60er Jahren die Debatte um Bildungsarbeit in den Gewerkschaften gewaltig beflügelt. Derzeit ist Negt in gewerkschaftlichen Bildungszentren wieder häufiger zu Gast. Seine frei gehaltene Rede auf der Arbeitstagung Bildung der IG BCE in Bad Münder am 11. März 2011 ist Grundlage dieses Textes für das Magazin Mitbestimmung.

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