Integration: Wir schaffen das nur gemeinsam
2015 kamen Hunderttausende Geflüchtete nach Deutschland. Zehn Jahre später sind drei Viertel von ihnen auf dem Arbeitsmarkt angekommen – auch dank vieler Betriebsräte und Gewerkschaften. Von Jeannette Goddar
Khaled Alhaj Sarhan hat einen vollen Terminkalender. Neben seiner Vollzeitstelle bei Siemens in Leipzig besucht er an zwei Nachmittagen in der Woche und samstags eine Weiterbildung. Binnen vier Jahren will er sich zum staatlich geprüften Techniker für Elektrotechnik qualifizieren. In Syrien hat er eine Ausbildung in Informatik absolviert, doch der Abschluss wurde in Deutschland nicht anerkannt. Seit er sich 2015 allein nach Deutschland durchschlug, hat er fließend Deutsch gelernt und, nach einer Einstiegsqualifizierung zur Integration
geflüchteter Menschen, im Siemens-Werk für Niederspannungsschaltanlagen und -systeme in Leipzig eine Ausbildung zum Industrieelektroniker gemacht. Auch in die IG Metall trat er gleich ein. „Dazu hat mir der Micha geraten“, sagt Sarhan.
Micha heißt mit vollständigem Namen Michael Hellriegel. Er ist Betriebsrat im Siemens-Werk in Leipzig, und in seinem Büro hängt noch immer ein Foto von 17 Geflüchteten, die als Erste bei Siemens eine Einstiegsqualifizierung gemacht haben. Auf dem Höhepunkt der Fluchtbewegung hatte Hellriegel sehr früh die Initiative ergriffen. „Es gab ja schon damals nicht überall Willkommenskultur. Was manche über Flüchtlinge sagten, hat mich geärgert“, sagt er. „Ich wollte handeln.“ Noch bevor die siemensweit angebotene Einstiegsqualifizierung startete, schuf das Leipziger Werk Praktikumsplätze: „Ziel war zu schauen, was sie können.“
Es gab ja schon damals nicht überall Willkommenskultur. Was manche über Flüchtlinge sagten, hat mich geärgert.“
Als 2015 Hunderttausende Menschen vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak nach Deutschland kamen, wurden bundesweit auch Betriebsräte und Gewerkschafter aktiv. Metaller Alireza Chavdarian erinnert sich, wie im Spätsommer 2015 mehr Menschen als sonst zum „Arbeitskreis Migration“ der IG Metall Reutlingen kamen: „Normalerweise sind wir um die zehn Leute. Damals waren wir sicher doppelt so viele. Jeder überlegte: Was kann ich tun?“
Chavdarian, Betriebsrat bei Bosch, setzte beim Personalchef durch, dass vier Geflüchtete schnell Helferjobs an den Maschinen bekamen. „Zwei sind immer noch da, einer arbeitet heute in der Mikrochipherstellung, ein anderer in der Anlagenbedienung“, sagt Chavdarian. Von den anderen beiden zog einer nach Dänemark, und der andere begann ein Studium. Dem Betriebsrat, der selbst einst aus dem Iran flüchtete, ist wichtig, dass man die neuen Mitarbeiter stets in einen fairen Wettbewerb geschickt habe: „Wir wollten keinen Sonderstatus für die Geflüchteten. Im Betrieb wussten die meisten gar nicht, dass Asylbewerber neben ihnen arbeiten.“ Einstiegsangebote wie bei Bosch zählen für Chavdarian zu den wichtigsten Instrumenten. Denn der Betriebsrat ist überzeugt: „Arbeit ist der Schlüssel zur Integration.“
Arbeit ist der Schlüssel zur Integration.“
Dieser Schlüssel wurde weit häufiger erfolgreich gedreht, als die öffentliche Debatte vermuten lässt: Laut einer Analyse des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) waren 2024 rund 64 Prozent der vor zehn Jahren zugezogenen Schutzsuchenden im Alter von 18 bis 64 Jahren sozialversicherungspflichtig beschäftigt; in der Gesamtbevölkerung sind es 70 Prozent. Bei geflüchteten Männern liegt die Beschäftigungsquote mit 76 Prozent sogar vier Prozentpunkte höher als im Durchschnitt der männlichen Bevölkerung in Deutschland.
Bei der Qualifikation ist allerdings noch Luft nach oben: Etwa die Hälfte arbeitet in Helfertätigkeiten, die andere Hälfte als Fachkräfte. Vor der Flucht hatten laut IAB 73 Prozent Erfahrungen gesammelt in Berufen, die in Deutschland Ausbildungsberufe sind. Die Anerkennung von Berufs- oder Studienleistungen erlebten auch viele Betriebsräte als Problem. Zwar sollte das 2020 in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz die Anerkennung ausländischer Qualifikationen erleichtern, doch die Praxis sieht noch immer anders aus. Chavdarian: „Ich habe erst neulich eine Ärztin getroffen, die bei uns als Reinigungskraft die Mülleimer leerte. Mithilfe der IG Metall haben wir ihre Zeugnisse angeschaut. Jetzt ist sie weg und arbeitet hoffentlich bald auch in Deutschland in einem medizinischen Beruf.“
Für solche Fälle hat der Migrationsexperte Philip Anderson, bis vor wenigen Monaten Vertrauensdozent der Hans-Böckler-Stiftung, eine Erklärung: „Die Anerkennung ausländischer Abschlüsse bleibt ein mühsames Geschäft mit hohen Hürden. Antragsteller müssen sich mit Begriffen wie Referenzberuf, Teilanerkennung und Fachqualifizierung auseinandersetzen. Dafür braucht es Profis.“ Anderson, der über Jahre die Ausbildungswege junger Geflüchteter in Bayern wissenschaftlich begleitet hat, weist auf die „wichtige strukturelle, integrationsfördernde Rolle“ hin, die Betriebe und Betriebsräte spielen können. „Gerade weil unterstützende Strukturen oft rar sind, braucht es viele Helfer – bei Gängen zu Behörden, bei der Suche nach Plan B, beim Anfordern von Dokumenten.“
„Es braucht einen Buddy“, bestätigt der Leipziger Betriebsrat Hellriegel, der einen jungen Afghanen bis heute begleitet. Er half ihm, sich für einen Schulabschluss anzumelden, begleitete beim Führerschein, bei der Wohnungssuche, bei Gängen zu den Ämtern – und seit November 2022 auch beim Einbürgerungsantrag. Hellriegel ruft die Website der Leipziger Ausländerbehörde auf, auf der sein Schützling regelmäßig nachschaut. Derzeit würden Anträge aus Mai 2022 bearbeitet, heißt es dort. „Fast drei Jahre keine Antwort – es ist zum Haare raufen“, sagt Hellriegel. „Das ist keine Wertschätzung.“
Ohne gesicherten Aufenthaltsstatus ist es kaum möglich, eine langfristige Perspektive zu entwickeln.“
Wie groß der Bedarf an Beratung und Unterstützung immer noch ist, weiß auch Inge Henningsen. Die Juristin leitet das Programm „Soziale und kulturelle Integration“ (SUKI) bei der Stiftung Bahn-Sozialwerk. Auf den Weg gebracht wurde SUKI auf Initiative der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Der damalige Vorsitzende Alexander Kirchner setzte sich für einen runden Tisch in der Bahnbranche ein. Dort einigte man sich, dass der DB-Konzern den beruflichen Teil der Integration übernimmt, die EVG das soziale Begleitprogramm anschiebt. „Bis 2022 hat die EVG einen großen Teil finanziert, seit 2023 liegt es ganz bei uns“, sagt Henningsen.
Die Stiftung bietet ausländischen Beschäftigten im Bahnbereich eine Hotline, ein betriebsinternes Lotsenprogramm und Workshops zur interkulturellen Kompetenz an. Fragt man Henningsen, wo sie die größten Probleme sieht, verweist sie auf die vielen seit 2015 geflüchteten Menschen, die immer noch nicht wissen, ob sie dauerhaft in Deutschland bleiben können: „Ohne gesicherten Aufenthaltsstatus ist es kaum möglich, eine langfristige Perspektive zu entwickeln.“
Ähnlich argumentiert Peter Bremme, bis März Leiter des Fachbereichs Besondere Dienstleistungen bei der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi in Hamburg. Schon 2008 half er beim Aufbau einer gewerkschaftlichen Anlaufstelle für Menschen ohne gesicherten Aufenthalt. „Ob in privaten Haushalten, in der Pflege, im Hafen oder auf dem Bau: Je weniger Rechte jemand hat, desto mehr ist der Ausbeutung Tür und Tor geöffnet.“
2015 initiierte er eine Muster-Betriebsvereinbarung zur „Integration von Flüchtlingen in das Arbeits- und Betriebsleben“. Darin wurden unter anderem Möglichkeiten geschaffen, Beschäftigte für Integrationsarbeit freizustellen. „Ziel war, denen den Rücken zu stärken, die sich engagieren“, erzählt er. Im Vorwort der Betriebsvereinbarung heißt es: „‚Wir schaffen das‘ – dieses viel zitierte Wort der Kanzlerin – kann nur mit eurem Mitwirken Wirklichkeit werden. Ohne das Engagement von Vertrauensleuten, Betriebsrätinnen und anderen Aktiven bleibt der Anspruch sonst ein wirkungsloser Appell auf dem Papier.“
Projekte der Hans-Böckler-Stiftung
Die Hans-Böckler-Stiftung hat ihre Studien- und Promotionsförderung seit 2015 verstärkt für Menschen mit Fluchtgeschichte geöffnet. Nach fünf Jahren, 2020, hatten sechs Prozent der Stipendiatinnen und Stipendiaten einen Fluchthintergrund. Einen Migrationshintergrund haben mehr als 40 Prozent.
Insgesamt unterstützt die Stiftung jährlich rund 2500 Studierende und 400 Promovierende, die meist als Erste in ihrer Familie einen akademischen Bildungsweg eingeschlagen und/oder ihren Hochschulzugang auf dem zweiten Bildungsweg erworben haben.
Außerdem förderte die Hans-Böckler-Stiftung in den zurückliegenden Jahren zwei Promotionskollegs zum Thema Flucht:
- „Psychosoziale Folgen von Migration und Flucht – generationale Dynamiken und adoleszente Verläufe“
- „Vernachlässigte Themen der Flüchtlingsforschung“