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Magazin Mitbestimmung

EGB: Kind vieler Mütter und Väter

Ausgabe 04/2013

Der Europäische Gewerkschaftsbund spricht heute für über 60 Millionen Arbeitnehmer in ganz Europa. Doch es dauerte, ehe sich die nationalen Gewerkschaften unter seinem Dach zusammengerauft hatten. Zum 40. Jubiläum des EGB: Einblicke in die turbulente Frühgeschichte. Von Emilio Gabaglio

Gastliche Stätten jeder Art waren oft in der Geschichte der Arbeiterbewegung diskrete Orte, in denen Pläne und Kompromisse geschmiedet wurden. Für die Frühgeschichte des EGB war es das Brüsseler Restaurant „Perraudin“ in der Rue Saint-Jean 49, wo sich der harte Kern der Gewerkschafter traf: aus der Europäischen Kommission zum Beispiel Manfred Lahnstein, der Büroleiter des Kommissars Wilhelm Haferkampf (der davor DGB-Vorsitzender in NRW war und der Kommission von 1967 bis 1985 angehörte), Theo Rasschaert, der spätere erste EGB-Generalsekretär, der Pole Jan Kulakowski (aus dem christlich-sozialen Lager, später stellvertretender Generalsekretär des EGB und nach der polnischen Wende Botschafter bei der EU), dazu eine Reihe von deutschen, französischen, niederländischen und luxemburgischen Gewerkschaftern. Hier wurde heftig über Blaupausen für die zukünftige Organisation der europäischen Gewerkschaften debattiert und gestritten. Denn der Weg hin zum Europäischen Gewerkschaftsbund war lang, beschwerlich und gelegentlich steinig.

Europa hatte sich längst aufgemacht – aus den Anfängen der Gemeinschaft für Kohle und Stahl über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hin zu einer transnationalen Union fast aller demokratischer Staaten in Europa. Längst war der Konflikt entschieden zwischen den Kräften, die sich mit einem gemeinsamen Markt begnügen wollten, und denen, die den gemeinsamen Markt in den Rahmen gemeinsamer Politiken einpassen wollten, zugunsten der Vertreter einer umfassenderen Integration. Dieser neue Kurs Europas drängte auch die Gewerkschaften auf neue Wege.

Geboren wurde der EGB am 8. Februar 1973; 16 Jahre nach dem Vertrag von Rom über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und 24 Jahre nach Gründung des Europarates schafften es die Gewerkschaften, sich auf einen gemeinsamen Nenner für die Gründung einer gemeinsamen Vertretung im Rahmen der europäischen Institutionen zu verständigen.

DIE VORLÄUFER

Bereits 1948 förderten die Gewerkschaften in Europa, die den Marshall-Plan unterstützten, die Bildung eines gewerkschaftlichen Beratungsausschusses im Rahmen der OECE (heute OECD), des TUAC, an dem auch die amerikanischen Gewerkschaften beteiligt waren.

Der Internationale Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) entschied sich bei seiner Gründung 1949 für die Einrichtung regionaler Zusammenschlüsse in den Weltregionen. Der europäische Zweig (ERO) hielt seinen ersten Kongress 1951 in Brüssel ab. Der christlich-sozial orientierte internationale Bund IBCG (1969 umbenannt in „Weltverband der Arbeitnehmer“) gründete ebenfalls eine europäische Organisation, der kommunistische Weltgewerkschaftsbund (WGB) begnügte sich mit einem Koordinierungsbüro für seine europäischen Mitgliedsgewerkschaften.

Der konzeptionell harte Kern für den zukünftigen Bund aber war die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), gegründet 1952. So kam es im gleichen Jahr zur Bildung eines „Komitees der 21“ – so genannt nach der Zahl seiner Mitglieder, den Dachverbänden sowie ihren Metall- und Bergbaugewerkschaften aus Deutschland, Frankreich, den Benelux-Ländern und Italien. Sechs Jahre später wurde in Düsseldorf das Komitee durch das Europäische Gewerkschaftssekretariat abgelöst.

Die EGKS, die erst im Jahre 2002 aufgelöst wurde, war die Vorschule für die Entwicklung gemeinsamer Gewerkschaftspolitik im Rahmen einer länderübergreifenden Wirtschaftsintegration. Der Montanvertrag räumte der Sozialpolitik einen hohen Stellenwert ein, ein Niveau, das mit keinem der nachfolgenden europäischen Verträge jemals wieder erreicht werden konnte: Der EGKS war ein paritätisch besetztes Beratungsorgan beigeordnet, und der Vertrag sah weiterhin vor, dass ein Mitglied des Leitungskollegiums (vergleichbar mit der heutigen EU-Kommission) ein Vertreter der Gewerkschaften zu sein hatte – erster Gewerkschaftsvertreter war der Belgier Paul Finet, zuvor Präsident des IBFG. Der Vertrag von Rom enthielt lediglich das Prinzip der Freizügigkeit (auch für Arbeitnehmer) und einige Orientierungen für Gesundheitsschutz und Sicherheit am Arbeitsplatz. 1974 kam dann das erste soziale Aktionsprogramm, 1989 folgte die Charta der sozialen Grundrechte. Erst im Vertrag von Lissabon scheinen die ökonomische und soziale Dimension gleichberechtigt zu sein. Mit der Einschränkung, dass die Realisierung der hier festgelegten Ziele immer noch auf sich warten lässt.

Der nächste Schritt in Richtung EGB war die Auflösung des gemeinsamen Sekretariats und die Gründung des Europäischen Bundes Freier Gewerkschaften in Den Haag 1969, dem alle IBFG-Mitglieder der sechs EWG-Mitgliedsländer angehörten. Der DGB war im ersten Sekretariat durch Walter Braun vertreten, der sogleich mit dem Ressort Mitbestimmung betraut wurde, damals keine leichte Aufgabe angesichts der Skepsis einiger Mitgliedsgewerkschaften. Längst haben sich die Wogen in dieser Hinsicht geglättet, und die Mitbestimmung gilt heute als eine relevante Referenz für die auch damals prinzipiell eingeforderte Beteiligung der Arbeitnehmer.

In Den Haag stand auch die Frage nach den Beziehungen zum europäischen Koordinierungsbüro der französischen CGT und der italienischen CGIL, beide damals Mitglied im kommunistischen WGB, auf der Tagesordnung. Grundsätzlich war der EBFG zur Aufnahme von Kontakten bereit, unter der Bedingung allerdings, dass sich die beiden Bünde von der frontalen und feindseligen Politik des WGB gegen den Gemeinsamen Markt distanzieren sollten. Allerdings gab es auch außerhalb des WGB, der den Gemeinsamen Markt für einen Baustein des Atlantismus hielt und zudem gegen „das sozialistische Lager“ gerichtet, fundamentale Kritik an dessen Konstruktion. Dem britischen TUC beispielsweise galt damals der Gemeinsame Markt schlicht als ein Instrument aus dem Werkzeugkasten der nationalen Bourgeoisien.

Auf Einladung des damaligen DGB-Vorsitzenden Heinz Oskar Vetter und des Generalsekretärs der italienischen CISL, Bruno Storti, fand im Juni 1971 ein Treffen in Frankfurt statt, an dem alle IBFG-Mitgliedsorganisationen – vor allem auch der britische TUC – teilnahmen. Die Gespräche wurden im November des gleichen Jahres in Oslo fortgesetzt und endeten in einer gemeinsamen Erklärung, in der die Gründung einer neuen europäischen Gewerkschaftsorganisation vorgeschlagen wurde.

Über die Rollenverteilung zwischen dem noch zu gründenden EGB und dem IBFG kam es schon auf der nächsten Sitzung des IBFG-Vorstandes zu einem „lebhaften Meinungsaustausch“. Der DGB-Vorsitzende Heinz Oskar Vetter erklärte damals: „Der DGB wird niemals einem europäischen Gewerkschaftsbund angehören, der in seinen Zielen oder durch seine Organisation gegen den IBFG gerichtet ist.“ Auch über den Namen der neuen Organisation herrschte kein Konsens: Europäischer Bund Freier Gewerkschaften (EBFG) oder Europäischer Gewerkschaftsbund (EGB)? Unklar war auch, inwieweit die europäischen Sekretariate der Branchengewerkschaften einbezogen werden sollten. Große Klarheit hingegen bestand über den Beitritt des britischen TUC in die neue Organisation – auch wenn der TUC zu dieser Zeit einen unverändert harten Kurs gegen das vorliegende Konzept einer europäischen Integration fuhr und das Vereinigte Königreich nur Teil der Freihandelszone war. Um alle Zweifel auszuräumen, wurde auf Vorschlag von Vetter der Generalsekretär des TUC, Victor (Vic) Feather, auf dem Gründungskongress zum ersten Präsidenten des neuen Bundes gewählt.

DER GRÜNDUNGSAKT

Das Maison des Huit Heures am Brüsseler Brunnenplatz ist ein Stück progressiver Architektur – und somit absolut angemessen für den Gründungsakt am 8. und 9. Februar 1973, über den übrigens kein Protokoll existiert: eine einmalige Episode in der internationalen Gewerkschaftsgeschichte! Dennoch ist bekannt, dass sich damals 17 Gewerkschaften aus 15 westeuropäischen Ländern zusammengeschlossen haben. Bekannt ist auch, dass es im Vorfeld der Wahl Vic Feathers zu leichten Rangeleien gekommen ist. Der Luxemburger Matthias Hinterscheid, der später Generalsekretär des EGB wurde, vermutete einen Doppelpass zwischen DGB und TUC, um die „Kleinen“ zu überrennen, und favorisierte die Kandidatur des dänischen LO-Vorsitzenden Tomas Nielsen, der seine Kandidatur schließlich nicht aufrechterhielt. Er wurde mit Heinz Vetter und Georges Debunne (FGTB) Vizepräsident des EGB. Durch die Wahl des Belgiers Theo Rasschaert (FGTB) und des Norwegers Kare Sandegren (LO Norwegen) wurde zugleich dokumentiert, dass der neue Bund auch für die Organisationen aus der Freihandelszone (EFTA) zuständig war.

Der Weg für die WVA-Gewerkschaften wurde auf deren Kopenhagener Kongress 1974 gepflastert. Sie nutzten nun die Möglichkeit, dem EGB beizutreten, ohne ihre Mitgliedschaft im WVA aufzugeben. Bis zur Vereinigung von IBFG und WVA zum IGB brauchte es weitere drei Jahrzehnte.

Kompliziert und kontrovers hingegen verlief der Prozess der Aufnahme der kommunistisch orientierten Bünde, die insbesondere in Frankreich, Spanien, Italien und Portugal über besonderes Gewicht verfügten. Ein entscheidendes Hindernis für die Aufnahme der französischen CGT war für die große Mehrheit im EGB, die Mitgliedschaft im WGB und die enge Bindung an die KPF. Immerhin stellte die CGT zweimal den WGB-Generalsekretär (Louis Saillant und Pierre Gensous) und war auch im Prager Sekretariat des WGB prominent vertreten. Der Aufnahmeantrag der CGT – innerhalb der es eine relevante Opposition gegen den EGB-Beitritt gab, die den EGB für einen Hort des „Reformismus“ hielt – wurde 1978 zurückgewiesen. Aufgenommen wurde sie erst im Jahre 1999.

Anders lag der Fall bei der italienischen CGIL. Mit 21 : 7 Stimmen nahm die Exekutive des EGB im Juli 1974 die CGIL auf. Zu denen, die damals die Aufnahme ablehnten, gehörte der DGB. Zu den heftigsten Konflikten führten die Aufnahmeanträge der spanischen Arbeiterkommissionen (CC.OO) und der portugiesischen CGTP-Intersindical. Auch hier kam größter Widerstand vom DGB, dessen damaliger Vorsitzender Vetter nach einer Reise nach Portugal und Spanien erklärte, im Falle der Aufnahme dieser beiden Organisationen müsse der DGB über seine Zugehörigkeit zum EGB neu entscheiden. Wim Kok, damals Präsident des EGB (und später niederländischer Premierminister), wies diese Erklärung mit ungewöhnlichem Nachdruck zurück. Die erste Abstimmung über den Aufnahmeantrag (1981) erreichte keine Mehrheit – drei Jahre später in Rom klappte es dann. Die portugiesische CGTP schließlich wurde erst im Jahre 1995 Mitglied des EGB. Parallel hatte sich der EGB für Gewerkschaften aus Mittel- und Osteuropa geöffnet – und so die Erweiterung der EU vorweggenommen. Heute gehören ihm alle repräsentativen Gewerkschaften Europas an. Entstanden ist eine Organisation, die die relevanten Strömungen der europäischen Gewerkschaftsbewegung unter einem Dach vereint.

EIN STRUKTURELLES UNIKUM

Bis heute ist der EGB ein strukturelles Unikum. Während die Basis aller seiner Mitgliedsorganisationen die Sektoren- und Branchengewerkschaften sind, ist der EGB bis heute ein „Bund der Bünde“. Es liegt auf der Hand, dass dies ein Anachronismus ist, denn die europäischen Gewerkschaftsverbände haben seit ihren zarten Anfängen einen großen Sprung nach vorn gemacht und nehmen an Gewicht und Bedeutung zu. Die Fusion zwischen den Metall-, Chemie-, Bergbau-, Energie-, Textil- und Ledergewerkschaften (industriAll) dokumentiert diese Entwicklung eindrucksvoll genauso wie der Zusammenschluss der Dienstleistungsgewerkschaften unter dem Dach von UNI-Europa. Zu erwarten (und zu hoffen) ist auch, dass der europäische Sozialdialog seinen Status quo verlässt und durch sektorale industrielle und sozialdialogische Beziehungen unterfüttert wird und sich eine neue Dynamik entwickelt. Daraus folgt, dass der EGB auf lange Sicht seine Architektur den neuen Verhältnissen anpassen muss.

Text: Emilio Gabaglio, Generalsekretär des EGB von 1991 bis 2003

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